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FORTBILDUNG
Langzeit-Opioidagonisten-Therapie: Was gilt es zu beachten?
Auch Ersatzstoffe können den Hormonstoffwechsel Suchtkranker stören
Wichtigster Pfeiler der medizinischen Therapie opiatabhängiger Personen ist die Substitutionstherapie mit Ersatzstoffen, sogenannten Opioidagonisten, um die gesundheitsschädlichen Auswirkungen des Drogenkonsums einzudämmen und mit der Sucht einhergehende soziale Probleme und insbesondere auch Gesetzeskonflikte im Zusammenhang mit der Beschaffung und Finanzierung illegaler Drogen zu vermeiden. Doch auch Opioidagonisten sind Substanzen, die massive Auswirkungen auf psychische und körperliche Funktionen haben, vor allem auch auf das Hormonsystem, und müssen daher sehr kontrolliert eingesetzt werden.
Regina Esser
Im Jahr 1975 wurde in der Schweiz die gesetzliche Grundlage für die Therapie opioidabhängiger Personen mit dem Opioidagonisten Methadon geschaffen. Gemäss Angaben des BAG befinden sich zurzeit in der Schweiz etwa 18 000 Personen in Substitutionstherapie mit Methadon, retardiertem Morphin oder Buprenorphin. Um die 1600 Personen erhalten eine Behandlung mit Diacethylmorphin.
Bedeutung der Opioidagonistentherapie
Die Wirksamkeit der Opioidagonistentherapie (OAT) wurde mittels zahlreicher Studien belegt (1, 2). Die Substitution mit Opioiden ist der Goldstandard zur Behandlung einer Opioidabhängigkeit. Vor allem für die Gruppe der opioidabhängigen Personen, für die eine Abstinenz kein realistisches Ziel
MERKSÄTZE
Die Kombination von Benzodiazepinen und Opioiden erhöht das Risiko für eine gefährliche Atemdepression.
Methadon kann zu einer relevanten QTc-Verlängerung führen.
Bei einem Patienten unter OAT sollten regelmässige klinische Kontrollen mit Laborbestimmung und EKG erfolgen.
Bei der Dosisfindung von Opioiden in der Substitution sind der Patient und sein subjektives Befinden einzubeziehen.
Der Hypogonadismus ist die häufigste durch Opioide verursachte hormonelle Störung.
Ursache für die Osteoporose beim Mann ist häufig ein sekundärer Hypogonadismus.
Wichtig bei der laborchemischen Diagnostik der Sexualhormone ist der korrekte Zeitpunkt der Blutentnahme.
darstellt, schafft die kontrollierte medizinische Abgabe von Opioiden die Grundlage für eine Verbesserung des Gesundheitsstatus, die soziale und berufliche Reintegration und die Verhinderung weiterer Beschaffungskriminalität. Langfristig kann die Opioidsubstitution auch die Grundlage für einen Abbau und das Erlangen einer Abstinenz schaffen. Somit ist der niederschwellige Zugang opioidabhängiger Patienten zu einer Substitutionsbehandlung nicht nur von grosser individueller, sondern auch von gesellschaftlicher Bedeutung.
Opioide – keine Wirkung ohne Nebenwirkung
Zu den Opioiden zählen wir alle natürlichen, halb- und vollsynthetischen Substanzen, die ihre Wirkung über die Bindung an endogene Opioidrezeptoren entfalten. Derzeit werden in der OAT opiatabhängiger Patienten die Wirkstoffe Methadon, L-Polamidon, Buprenorphin, Diaphin und retardiertes Morphin eingesetzt. Buprenorphin nimmt hier als partieller Rezeptoragonist und -antagonist eine Sonderstellung ein. Durch ihre stark schmerzlindernde und schmerzdistanzierende Wirkung haben Opioide eine weiterhin unverzichtbare Bedeutung in der Schmerztherapie. Die psychotrope, euphorisierende und anxiolytische Wirkung von Opioiden wiederum bedingt deren grosses Abhängigkeitspotenzial. Zu den allgemein bekannten unerwünschten Wirkungen zählen Obstipation und Nausea. Polypharmazie, insbesondere die gleichzeitige Einnahme von Benzodiazepinen, erhöht das Risiko für eine potenziell lebensbedrohliche Atemdepression (3). Bei der Behandlung mit Methadon ist darüber hinaus dessen proarrhythmisches Potenzial durch Auswirkungen auf die QTcZeit zu berücksichtigen. Problematisch bei der Therapie mit Opioiden ist die Toleranzentwicklung, die dazu führt, dass für eine gleichbleibende Wirkung immer höhere Dosierungen notwendig sind, und die eine häufige Ursache für das Auftreten unerwünschter Nebenwirkungen und gefährlicher Überdosierungen ist. Die korrekte Dosisfindung liegt in der Verantwortung des behandelnden Arztes und bedeutet für diesen in der Langzeit-
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FORTBILDUNG
therapie von Patienten mit einer Opioidabhängigkeit eine nicht zu unterschätzende Herausforderung – nicht zuletzt wegen der hohen Variabilität beim interindividuellen Opioidstoffwechsel. Es besteht im Alltag vor allem die Gefahr der Unterdosierung, was zu Entzugssymptomen und gefährlichem Beikonsum führen kann und daher vermieden werden sollte. Ziel der Therapie ist es, dem Patienten durch die substanzvermittelte Wirkung Stabilität und Wohlbefinden zu ermöglichen und dabei unerwünschte Wirkungen rechtzeitig zu erkennen oder besser zu vermeiden. Der Patient ist daher unbedingt in die Dosisfindung miteinzubeziehen. Regelmässige klinische und laborchemische Kontrollen sind bei der langfristigen Opioidtherapie unabdingbar.
Hypothalamus
Hypophyse
Opioide
Ovarien/Hoden
Opioide
Östrogen
Opioide
Testosteron
Opioide und ihre Auswirkungen auf das Hormonsystem
Opioide beeinflussen das Hormonsystem auf verschiedenen Ebenen, wobei die Mechanismen ihrer Wirkung grossenteils noch nicht verstanden sind.
Fallbeispiel
Abbildung: Mechanismus des opioidinduzierten Hypogonadismus
tosteronmangel eine häufige Ursache für eine Osteoporose bei Männern. Bei prämenopausalen Frauen sind Zyklusstörungen und die verminderte Libido die führenden Symptome. Bei postmenopausalen Frauen finden sich tiefe Spiegel von LH und FSH.
Ein Patient mit einer langjährig bekannten Opioidabhängigkeit stellt sich mit den Symptomen chronische Müdigkeit, depressive Verstimmung, fehlende Muskelkraft und verminderte Libido in der Sprechstunde vor. Nachdem er initial diverse Opioide «auf der Gasse» konsumiert hat, ist er seit 2017 in ein kontrolliertes Abgabeprogramm eingebunden und bezieht Diaphin. In der körperlichen Untersuchung fällt eine verminderte Körperbehaarung bei sonst unauffälligem Befund auf. Laborchemisch findet sich ein stark erniedrigtes Gesamttestosteron. Nach weiterer endokrinologischer Abklärung wird die Diagnose eines zentralen opioidinduzierten Hypogonadismus gestellt und eine Testosteronersatztherapie initiiert.
Opioide sind hormonmodulierende Substanzen
Die bekannteste durch Opioide verursachte hormonelle Störung ist der sekundäre Hypogonadismus. Dieser tritt mit einer Prävalenz von bis zu 86 Prozent auf und ist in der Praxis eine häufig unterdiagnostizierte Hormonstörung (4). Bei der oralen OAT sind Männer häufiger betroffen als Frauen. Endogene und exogene Opioide beeinflussen die Funktion der Keimdrüsen über die direkte Bindung an Rezeptoren im Hypothalamus. Das führt zu einer gestörten Freisetzung von GnRH (gonadotropin-releasing hormone) und bewirkt die verminderte Freisetzung von luteinisierendem Hormon (LH) und follikelstimulierendem Hormon (FSH) aus der Hypophyse. In der Folge wird in den Gonaden weniger Testosteron und Östradiol gebildet. Opioide haben auch einen direkten Einfluss auf die Bildung der Hypophysen- und Keimdrüsenhormone. Durch die suppressive Wirkung auf die Hypothalamus-Hypophyse-Gonaden-Achse kann sich begleitend eine Hyperprolaktinämie ausbilden. Die Effekte auf die Hypothalamus-Hypophysen-GonadenAchse treten bereits nach der ersten Einnahme auf, und die Auswirkungen auf die hormonelle Störung sind dosisabhängig. Klinisch manifestiert sich der Testosteronmangel bei Männern über verminderte Libido, Adynamie, Hitzewallungen, Infertilität und erektile Dysfunktion. Ebenso ist der Tes-
Therapie des opioidinduzierten Hypogonadismus
Bis jetzt existiert keine einheitliche Leitlinie für die Diagnose
und das Management eines opioidinduzierten Hypogonadis-
mus. Symptome eines Hypogonadismus sollten Teil der
Anamnese und der klinischen Untersuchung vor und während
der Opioidtherapie sein. Bei der laborchemischen Diagnostik
sind die zirkadianen Schwankungen zu beachten. Eine Be-
stimmung der Sexualhormone nach 9 Uhr am Morgen ist
daher wenig sinnvoll. Bei der Frau im gebärfähigen Alter
unterliegen die Sexualhormone während des Menstruations-
zyklus physiologischen Schwankungen. Entsprechend ist hier
der Zeitpunkt für die Blutentnahme entscheidend. Diese
sollte nur nach korrekter Zyklusanamnese erfolgen, um Fehl-
interpretationen zu vermeiden.
Die kausale Therapie eines opioidinduzierten Hypogonadis-
mus besteht im Absetzen oder in der Dosisreduktion des
Opioids. Diese Massnahme ist für Patienten in einer Opioid-
agonisten-Langzeitbehandlung nicht möglich, sodass hier
durch den Endokrinologen unter Berücksichtigung von
Kontraindikationen eine Hormonersatztherapie erwogen
werden kann. Für die Behandlung des männlichen Hypogo-
nadismus sind in der Schweiz kassenzulässige Präparate für
die intramuskuläre (Nebido®) und orale (Andriol Testo-
caps®) Therapie verfügbar.
L
Dr. med. Regina Esser Leitende Ärztin Innere Medizin Arud Zentrum für Suchtmedizin, Zürich E-Mail: R.Esser@arud.ch
Literatur: 1. Dole VP, Nyswander M: A medical treatment for diacethylmorphine
(heroin) addiction. A clinical trial with methadone hydrochloride. JAMA 1965; 193: 646–650. 2. Salsitz E, Wiegand T: Pharmacotherapie of opioid addiction: «Putting a real face on a false demon». J Med Toxicol 2016; 12(1): 58–63. 3. Jones JD et al.: Poly drug abuse: a review about opioid and benzodiazepine combination use. Drug Alcohol Depend 2012; 125:(1–2): 8–18. 4. Fountas A et al.: Mechanisms of endocrinology: endocrinology of opioids. Eur J Endocrinol 2018; 179(4): R183–R196.
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