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BERICHT
Highlights der 27. Jahrestagung der European Psychiatric Association
Depression behandeln, Suizidrisiko reduzieren
Das Potenzial der Suizidprävention wird nach wie vor nur unzureichend ausgeschöpft. Ein vertieftes Verständnis der Mechanismen, die zum Suizid führen können, auf psychologischer, klinischer und biologischer Ebene kann die Effektivität von Präventionsmassnahmen verbessern. Auch neue medikamentöse Strategien sind in Entwicklung.
Gleich zu Beginn seiner Plenary Lecture im Rahmen des diesjährigen Kongresses der European Psychiatric Association (EPA) konfrontierte Prof. Dr. J. John Mann von der New Yorker Columbia University das Gastgeberland Polen mit unangenehmen Zahlen. Das Land steht auf Platz drei der europäischen Suizidstatistik, was bedeutet, dass mehr Polen durch Suizid sterben als durch Autounfälle – im vergangenen Jahr waren es mehr als 5000 Menschen. Mann unterstreicht, dass der vollendete Suizid nur die Spitze eines Eisbergs darstellt. Darunter liegen meist noch deutlich häufigere Suizidversuche, abgebrochene Suizide und andere Formen suizidalen Verhaltens. Nach Schätzungen kommen auf die rund 800 000 jährlichen Suizide weltweit rund 10- bis 20-mal so viele Suizidversuche. Dabei sind wirksame präventive Strategien, so Mann, seit Langem bekannt. An oberster Stelle steht die Behandlung der Depression mit modernen Antidepressiva. Danach kommt der erschwerte Zugang zu wirksamen Mitteln. Dies betrifft beispielsweise den Zugang zu Schusswaffen in den USA. Gezielte psychosoziale Interventionen in Schulen und an Universitäten zeigen ebenfalls eine gewisse Wirksamkeit, wogegen beispielsweise Projekte im Internet allenfalls marginale Effekte haben.
Alarmierender Anstieg der Suizidrate in den USA
Leider funktioniert das in der Praxis schlecht. Mann weist auf einen Anstieg der Suizide in den USA seit dem Jahr 2000 um 33,7 Prozent hin. Hinter rund 90 Prozent dieser Suizide steht eine manifeste psychiatrische Erkrankung. Bei der grossen Mehrzahl der Betroffenen handelt es sich dabei um eine Depression. Mann: «Die meisten durch Suizid Verstorbenen litten unter einer Depression. Allerdings neigen bei Weitem nicht alle Patienten mit Depression zum Suizid. Es handelt sich also um eine Untergruppe der depressiven Population, und meist kommt es bei diesen Patienten früh im Krankheitsverlauf zu Suizid oder Suizidversuch. Wie können wir diese Patienten also erkennen?» Aktuelle Forschung habe gezeigt, dass rund die Hälfte des Risikos genetisch bedingt ist. Der genetische Hintergrund von Suizidalität ist unabhängig von genetischen Dispositionen zu anderen psychiatrischen Erkrankungen. Mann betont, dass Suizid keine einfache Reaktion auf extremen Stress oder Schmerz sei, sondern dass eine spezielle Diathese vorhanden sein müsse, damit Menschen auf solche Belastungen mit Suizid reagieren. Belastende Lebensereignisse hingegen spielen als Auslöser für Suizide allenfalls eine untergeordnete Rolle. Im Rahmen einer Studie wurden mehr als 400 depressive Patienten hin-
sichtlich Suizidrisiko gescreent. Im Beobachtungszeitraum trat bei 9,6 Prozent der Kohorte Suizidalität ein. Wichtigster Risikofaktor war die Diagnose einer Major Depression, die das Risiko etwa um den Faktor fünf erhöhte. Lebensereignisse zeigten hingegen keine Korrelation mit Suizidalität – auch nicht bei Patienten mit Major Depression (1).
Gezielt das Suizidrisiko abklären
In der Anamnese helfen drei Fragen, um eine mögliche Suizidneigung zu identifizieren: 1. Gab es in der Vergangenheit bereits Suizidversuche? 2. Gab es Suizide in der Verwandtschaft? 3. Was waren die schlimmsten Suizidgedanken in der Vergan-
genheit? Suizidales Verhalten lasse sich, so Mann, durch ein StressDiathese-Modell beschreiben. Dieses geht von internem Stress durch eine bestehende Depression auf der einen und stressenden Lebensereignissen auf der anderen Seite aus, die einander gegenseitig beeinflussen. Wie die Reaktion auf diesen Stress ausfällt, hängt jedoch von der individuellen Wahrnehmung von Stress ab. Als Elemente einer Diathese zu suizidalem Verhalten nennt Mann eine Dysregulation von Stimmung und Emotion, die Fehlinterpretation sozialer Signale anderer Menschen, reaktive oder impulsive, aggressive Persönlichkeitsmerkmale mit entsprechenden Entscheidungen und verspätete Beruhigung sowie Veränderungen von Lernen, Problemlösen und Gedächtnis. Diese Komponenten des suizidalen Verhaltens unterliegen Geschlechterdifferenzen und verändern sich im Lauf des Lebens. Während die Dysregulation von Stimmung und Emotion lebenslang bestehen bleibt, bessert sich das soziale «Misreading» mit den Lebensjahren ebenso wie das aggressive Verhalten. Beides ist bei Männern deutlicher ausgeprägt als bei Frauen. Frauen sind, so Mann, auch eher in der Lage, Hilfe zu suchen und anzunehmen.
Assoziation zwischen Pessimismus und Suizidalität
Mann betont auch die Bedeutung von Pessimismus für das Suizidrisiko. Dieser sei ein Persönlichkeitsmerkmal, allein nicht krankheitswertig und unabhängig von psychiatrischen Erkrankungen. So liefert Pessimismus eine Erklärung für die sehr unterschiedlichen Wahrnehmungen einer Depression durch Patient und Behandler (die nur mit dem Faktor 0,5 korrelieren). Mann: «Pessimismus ist der Überschuss subjektiver Belastung über die klinische Schwere der Depression hinaus. Pessimismus scheint mit einer familiär weitergege-
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Tod durch Suizid – in der Schweiz oft unterschätzt
In der Schweiz wird die Häufigkeit eines Tods durch Suizid gemäss
Schweizerischem Gesundheitsobservatorium (OBSAN) oftmals unter-
schätzt – sowohl im Vergleich mit anderen Ländern Europas als auch im
Vergleich mit anderen Risiken. Gemessen in verlorenen, potenziellen
Lebensjahren sei der Suizid die vierthäufigste Ursache frühzeitiger
Sterblichkeit, nach onkologischen Erkrankungen, Herz-Kreislauf-Er-
krankungen und Unfällen.
Die höchsten Suizidraten fanden sich 2016 mit 21,2 respektive 20,5 pro
100 000 Einwohnern in den Kantonen Appenzell Innerhoden und
im Jura, das Schlusslicht bildete das Tessin mit einer Rate von 9,1 Fällen
auf 100 000. Mehr Informationen über Suizid- und
Sterbehilferaten sowie kantonale Suizidraten finden
Sie online unter www.rosenfluh.ch/qr/obsan-suizid
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Mü
benen Neigung zu suizidalem Verhalten assoziiert zu sein.» Diese Hypothese kann mittlerweile durch Bildgebung mittels PET gestützt werden, zumal subjektive Depression und klinisch eingestufte Depression mit Veränderungen in unterschiedlichen Gehirnregionen assoziiert sind (2).
Bildgebung zeigt Unterschiede
Bildgebungsstudien zeigten auch, dass auffällige Durchblutungsmuster, nämlich eine Unterfunktion im dorsolateralen präfrontalen Kortex und in der Insula, im Gehirn depressiver Patienten als Prädiktoren für Suizid herangezogen werden können (3). Auch die beeinträchtigte soziale Wahrnehmung suizidaler Personen korreliert mit entsprechenden Befunden in der Bildgebung. Personen nach Suizidversuchen reagierten stärker auf Bilder wütender Gesichter, was als gesteigerte Empfindlichkeit gegenüber Ablehnung interpretiert werden kann (4). Auch ein Hang zu riskanten Entscheidungen korreliert mit Befunden in der Bildgebung. So zeigten Personen nach Suizidversuch (im Vergleich zu nicht suizidalen, depressiven Kontrollen) eine geringere Aktivierung im lateralen orbitofrontalen Kortex, wenn sie im Iowa Gambling Task riskante Aufgaben ausführten (5). Versuche mit dem Iowa Gambling Task zeigten bei Personen nach Suizidversuch auch eingeschränkte Lernfähigkeit und ein reduziertes Potenzial, ihre Problemlösungskapazität zu verbessern.
Auffällige Synapsen suizidaler Personen
Die vertieften Einsichten in die Mechanismen suizidalen Verhaltens können nun, so Mann, herangezogen werden, um die Suizidprävention zu verbessern. Das umfasst nicht zuletzt Einsichten in Auffälligkeiten der neuronalen Signalübertragung. Eine wichtige Rolle dürfte dabei der Serotonin-1AAutorezeptor spielen, der das im synaptischen Spalt vorhandene Serotonin reduziert und bei suizidalen Personen in einigen Regionen des Gehirns überexprimiert wird. So konnte gezeigt werden, dass ein höheres Bindungspotenzial hinsichtlich 5HT1A-Autorezeptoren im Raphe-Kern bei suizidalen Personen über zwei Jahre mit mehr suizidalen Gedanken und mehr tödlichen Suizidversuchen assoziiert ist (6). Mäuse mit einer erhöhten Zahl von 5HT1A-Autorezeptoren zeigen
ein Verhalten, das als Äquivalent zu Hoffnungslosigkeit und
Depression beim Menschen gewertet werden kann. Erfreu-
licherweise lässt sich die Überexpression von Serotoninauto-
rezeptoren durch den Einsatz von SSRI behandeln. In der
Bildgebung konnte nach sieben Wochen SSRI-Einnahme ein
Rückgang von 5HT-Autorezeptoren um 18 Prozent nachge-
wiesen werden, der mit einer Verbesserung um 52 Prozent
auf der Hamilton Depression Scale assoziiert war (7). Dass
Antidepressiva in der Behandlung suizidaler Patienten zu
wenig eingesetzt werden, liege, so Mann, auch an Berichten
von erhöhter Suizidalität unter Therapie mit SSRI. Diese An-
nahme könne allerdings angesichts der heute verfügbaren
Evidenz nicht aufrechterhalten werden. So zeigte eine epide-
miologische Studie mit mehr als 65 000 Patienten aus den
USA, dass das Suizidrisiko im Monat vor Beginn einer anti-
depressiven Therapie am höchsten war und dann progredient
abnahm (8).
Ungeachtet der Wirksamkeit der SSRI würden, so Mann,
auch alternative medikamentöse Optionen in der Suizidprä-
vention gewünscht, von denen insbesondere ein rascher Ein-
tritt der Wirkung zu erwarten ist. Als Hoffnungsträger nennt
Mann Ketamin, das sich in mehreren Studien in der Behand-
lung schwerer Depression als wirksam erwiesen hat. Hin-
sichtlich Suizidgedanken wurde Ketamin im Rahmen einer
kontrollierten Studie mit Midazolam verglichen. Bereits am
ersten Tag der Therapie berichteten mehr als die Hälfte der
Patienten von einer Reduktion der Suizidgedanken, gemes-
sen mit der Scale for Suicidal Ideation (SSI), um mindestens
die Hälfte. Mann unterstreicht, dass sich in dieser Studie
auch die neurokognitiven Endpunkte in der Ketamingruppe
verbesserten (9). Eine wichtige Rolle dürfte dabei neben der
Blockade von NMDA-Rezeptoren (die die Neurotoxizität
von Glutamat reduziert) auch die Aktivierung von AMPA-
Rezeptoren spielen, die mit der Ausbildung zusätzlicher
Synapsen und damit mit Neuroplastizität assoziiert ist. s
Reno Barth
Quelle: Plenary Lecture im Rahmen des Kongresses der European Psychiatric Association (EPA), am 8. April 2019 in Warschau.
Referenzen: 1. Oquendo MA et al.: Life events: a complex role in the timing of suicidal
behavior among depressed patients. Mol Psychiatry 2014; 19(8): 902–909. 2. Milak MS et al.: Regional brain metabolic correlates of self-reported de-
pression severity contrasted with clinician ratings. J Affect Disord 2010; 126(1–2): 113–124. 3. Willeumier K et al.: Decreased cerebral blood flow in the limbic and prefrontal cortex using SPECT imaging in a cohort of completed suicides. Transl Psychiatry 2011; 1: e28. 4. Jollant F et al.: Orbitofrontal cortex response to angry faces in men with histories of suicide attempts. Am J Psychiatry 2008; 165(6): 740–748. 5. Jollant F et al.: Decreased activation of lateral orbitofrontal cortex during risky choices under uncertainty is associated with disadvantageous decision-making and suicidal behavior. Neuroimage 2010; 51(3): 1275–1281. 6. Oquendo MA et al.: Positron emission tomographic imaging of the serotonergic system and prediction of risk and lethality of future suicidal behavior. JAMA Psychiatry 2016; 73(10): 1048–1055. 7. Gray NA et al.: Antidepressant treatment reduces serotonin-1A autoreceptor binding in major depressive disorder. Biol Psychiatry 2013; 74(1): 26–31. 8. Simon GE et al.: Suicide risk during antidepressant treatment. Am J Psychiatry 2006; 163(1): 41–47. 9. Grunebaum MF et al.: Ketamine for rapid reduction of suicidal thoughts in major depression: a midazolam-controlled randomized clinical trial. Am J Psychiatry 2018; 175(4): 327–335.
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