Transkript
BERICHT
Trendtage Gesundheit 2019
Aktuelle Entwicklungen in der Genetik sind Chance und Dilemma zugleich
An den Trendtagen Gesundheit trafen sich auch dieses Jahr Vertreter verschiedenster Berufsgruppen im Bereich Gesundheit im KKL Luzern. In den verschiedensten Vorträgen rund ums Thema Genetik wurden die Chancen des Fortschritts sowie die daraus entstehenden neuen Fragen angeregt diskutiert.
Seit den systematischen Kreuzungsexperimenten Mitte des 19. Jahrhunderts von Gregor Mendel hat sich Einiges getan. 1998 konnten durch Next Generation Sequencing Genanalysen erstmals rasch und kostengünstig durchgeführt werden, was 2003 zur kompletten Aufschlüsselung des menschlichen Genoms führte. 2012 entdeckten zwei amerikanische Forscherinnen die CRISPR-Cas9-Methode, eine Art Genschere, welche Genmanipulationen mit bisher nie erreichter Präzision ermöglicht. Die Referenten beschrieben die Genauigkeit der bisherigen Methoden als «mit einer Schrotflinte auf Gene schiessen in der Hoffnung, etwas zu treffen». Die gewünschte Zielsicherheit eines Präzisionsgewehrs wird aber mit der CRISPR-Cas9-Methode aktuell noch nicht erreicht, und durch die Intervention können nicht voraussehbare zusätzliche Genschäden induziert werden. Während die Diskussion, was erlaubt sein soll und was nicht, noch voll im Gang ist, verkündete ein chinesischer Wissenschaftler Ende November 2018 bereits die Geburt der ersten genmanipulierten Zwillinge, welche gegen HIV resistent sein sollen. Dies ganz nach Dürrenmatt: «Was machbar ist, wird gemacht.»
Aktuelle Entwicklungen
Im Bereich der Onkologie wurden in den letzten Jahren riesige Fortschritte in der Diagnostik und Therapie erzielt. Allein gegen Lungenkrebs wurden über 50 neue Therapien entwickelt. Durch «liquid biopsy» (Analyse von Tumor-DNA aus einzelnen Tumorzellen im Blut) können Therapieentscheide verbessert werden. Gemäss Prof. Holger Moch, Direktor des Instituts für Pathologie am Universitätsspital Zürich, können bei gleicher mikroskopischer Morphologie auf molekularer Ebene grosse Unterschiede bestehen, welche nun bei der Therapieentscheidung berücksichtigt werden. Dadurch können je nach Situation bis zu dreimal so viel Patienten erfolgreich behandelt werden. Anstelle der Blickdiagnose durch den Pathologen werden die Resultate der molekularen Tumordiagnostik mit diversen Daten verglichen. Darauf basierend, wird ein zirka 30-seitiges Dokument mit Therapieempfehlungen erstellt. Der Therapieentscheid wird am molekularen Tumorboard interdisziplinär gefällt. Eine Therapieresistenz kann früh erkannt und die Behandlung angepasst werden. Neueste wissenschaftliche Erkenntnisse werden in Echtzeit berücksichtigt und nicht erst nach jahrelanger Konsensfindung durch Experten.
Gentests und therapeutische Forschung
Bereits jetzt sind im Internet und in Apotheken diverse Gentests frei verkäuflich. Meist wird ein genetisches Risikoprofil erstellt, aber auch die Untersuchung auf einzelne Genveränderungen ist möglich. Die Tests sind aktuell noch recht ungenau, werden aber immer besser. Noch sind die Erfahrungen sehr unterschiedlich. Eine Testperson liess in der Apotheke für 700 Fanken einen Gentest machen und bekam viele Seiten langweiliger genereller Empfehlungen wie mehr Sport und gesunde Ernährung. Andererseits erhielt gemäss Prof. Anita Rauch, Direktorin des Instituts für Medizinische Genetik, Universität Zürich, ein junger symptomatischer Herr dank genetischer Untersuchung frühzeitig die Diagnose einer Muskeldystrophie, und eine Therapie wurde eingeleitet. Sie empfiehlt daher, Patienten gegebenenfalls bei unklaren Symptomen oder bei positiver Familienanamnese in der genetischen Sprechstunde anzumelden. Auch im Bereich der Forschung können genetische Testungen das Vorgehen verändern. Während die bisherige Forschung auf dem «glücklichen Zufall», mit einer Chance von 10 Prozent ein wirksames Medikament zu entwickeln, beruhte, soll durch genetische Validierung, das heisst Abgleich einer Diagnose mit Veränderungen im genetischen Profil, diese Chance auf 20 Prozent ansteigen. Mithilfe dieser Methode konnte beispielsweise der monoklonale Antikörper Evolocumab entwickelt werden. Mithilfe der neuen Methoden entwickelten Forscher auch wirksame, jedoch sehr teure Therapien gegen seltene Erkrankungen. Leider sind diese Medikamente in der Schweiz teilweise nicht verfügbar oder werden von der Krankenkasse nicht vergütet. Dr. Rocco Falchetto, Schweizerische Gesellschaft für Porphyrie, der selber an erythropoetischer Porphyrie leidet, gab einen eindrücklichen Einblick in das Leben der Betroffenen, welche nicht nur gegen ihre Erkrankung, sondern auch um das Recht auf eine vorhandene wirksame Therapie kämpfen.
Auch Wissen kann krank machen
Die Genanalyse ermöglicht uns eine zunehmend präzisere Einschätzung des Risikos, im Verlauf des Lebens zu erkranken. Gemäss dem Ökonomen Prof. Konstantin Beck, Leiter des CSS Instituts für empirische Gesundheitsökonomie, kann durch dieses Wissen eine «virtuelle Krankheit» entstehen.
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Das Gesundsein beinhaltet auch, sich nicht mit einer drohenden Erkrankung auseinandersetzen zu müssen, was dann nicht mehr gewährleistet sei. Andererseits erhalten wir die Möglichkeit, durch personalisierte Lifestyle-Empfehlung oder durch frühzeitigen Einsatz von Medikamenten eine Krankheit frühzeitig abzuwenden oder zu behandeln. Versicherungstechnisch kann dieses Wissen ebenfalls problematisch sein, da der Risikoausgleich mindestens teilweise darauf beruht, dass wir nicht wissen, wer erkrankt und wer nicht.
Chancen und Risiken liegen nah beeinander
Einerseits steigt die Chance auf wirksame Therapien dank der neuen Methoden der genetischen Diagnostik und Genmanipulation, andererseits besteht die Gefahr von neuen Problemen durch nicht beabsichtigte Genschäden. Aufgrund der nicht vorhersehbaren Risiken sprachen sich alle Referenten für ein Moratorium für Eingriffe in das Keimbahnerbgut aus. Wie der Fall der «CRISPR-Babys» zeigt, halten sich aber nicht alle daran. Einerseits ist bereits ein Konsummarkt entstanden für frei verkäufliche Gentests, auf der anderen Seite stehen Patienten mit seltenen Erkrankungen, welche sehr leiden und nichts als ein normales Leben führen möchten. Daneben gibt es auch noch das Feld des «human enhancement», welches nicht neu ist (wer von Ihnen trägt eine Brille und trinkt Kaffee?), sich aber rasant weiterentwickelt. Auch besteht die Gefahr einer Zwei- beziehungsweise Dreiklassenmedizin. Mehrfach wurde von den Referenten auf das Solidaritätsprinzip hingewiesen. Nicht alle Patienten können gleichermassen von den Entwicklungen profitieren. Wer dafür verantwortlich ist, dass wirksame Therapien vorenthalten werden, blieb letztlich offen. Der darauf angesprochene Krankenkassenvertreter sieht das Problem zum einen bei der Bevölkerung, die nicht bereit ist, noch mehr Krankenkassenprämien zu zahlen. Zum anderen sollten auch die Pharmafirmen ihre Produkte günstiger anbieten. Die Aufgabe der Politiker sei daher das Setzen der Rahmenbedingungen.
Privatsphäre und Datenhoheit
Prof. Ernst Hafen, Institut für Molekulare Biologie der Universität Zürich, bemängelte unsere ungenügende Kompetenz im Umgang mit unseren Daten. Er stellte die Datenplattform MIDATA vor, auf der Daten von verschiedenen Quellen zusammengeführt und mit dem Einverständnis des Dateninhabers geteilt werden können. Im Gegensatz zum starren elektronischen Patientendossier können die Daten auch für Forschungszwecke verwendet werden. Gemäss Hafen müssen
Linktipp: Datenhoheit mit MIDATA
Die Genossenschaft MIDATA bietet eine Möglichkeit, vorhandene Daten für das Gemeinwohl zu nutzen – unter Wahrung der Ansprüche auf Kontrolle über personenbezogenen Daten. Inhabende eines Datenkontos bei MIDATA können zur medizinischen Forschung und zu klinischen Studien aktiv beitragen, indem sie selektiven Zugriff auf ihre persönlichen Daten gewähren. Mehr über die Stiftung erfahren Sie unter www.midata.coop oder direkt via QR-Code.
wir den Umgang mit unseren Daten lernen, so wie wir den Umgang mit Geld lernen mussten. Die Plattform kann dementsprechend mit einem Bankkonto verglichen werden.
Einige Überlegungen zum Schluss
Die Entwicklungen im Bereich der Genetik werfen viele, teilweise hoch philosophische und ethische Fragen auf. Was ist unser Schicksal? Was können wir beeinflussen – und sollen wir das auch? Gemäss Dr. Thomas Wallimann-Sasaki, Institut für Sozialethik der Universität Luzern, wäre es anstelle einer medikamentösen Prophylaxe vielleicht sinnvoller, weniger zu arbeiten, um das Risiko für einen Myokardinfarkt zu senken. Die Gene beeinflussen uns, machen uns aber nicht alleine aus. Die Epigenetik bestimmt, welche Gene aktiv und welche stillgelegt sind. Deshalb gleichen sich zum Beispiel Muskelzellen und Neuronen gar nicht, obwohl sie die gleichen Gene besitzen. Prof. Heike Bischoff-Ferrari, Leiterin des Zentrums Alter und Mobilität des Universitätsspitals Zürich, verglich die Genetik mit dem Flugzeug und die Epigenetik mit dem Piloten. Sie illustrierte die Umwelteinflüsse am Beispiel der Pima-Indianer, deren Stamm sich vor einigen Generationen getrennt hat. Diejenigen, die heute in Arizona in der Nähe von Phoenix niedergelassen sind, haben aufgrund des städtisch veränderten Lebensstils ein sehr stark erhöhtes Risiko für Diabetes und Adipositas im Vergleich zu denjenigen, die in den mexikanischen Bergen die traditionelle Lebensweise fortführen konnten. Das lässt sich auf ein Gen zurückführen, das es den Pima-Indianern erlaubt, die Fettzufuhr besser auszunutzen und Fett besser zu speichern. Dieses Gen kann im städtischen Umfeld zum Problem werden und war doch in der ursprünglichen Heimat ein Überlebensvorteil.
Solidarität nicht aus den Augen verlieren
Die Erkenntnisse der Gentechnik bringen der Medizin viele Möglichkeiten zur besseren Diagnostik und Therapie. Dabei entstehen aber auch neue Spannungsfelder mit ungeklärten Fragen. Über die Ziele ist sich die grosse Mehrheit einig – wie diese erreicht werden sollten, ist aber noch unklar. Einmal mehr ist der Dialog zwischen den Stakeholdern gefragt. Während über das elektronische Patientendossier seit 15 Jahren diskutiert wird, hat sich das Handy von einem Telefon zu einem Gerät mit diversen Einsatzmöglichkeiten auch im Gesundheitsbereich entwickelt. Gemäss Hafen wird das Handy in 5 Jahren ein medizinisches Gerät sein, mit dem man auch telefonieren kann. Dies zeigt, welche Entwicklungen unabhängig von Regulierung möglich sind. Bezüglich der Auswirkung der Entwicklungen auf die Kosten besteht einerseits die Befürchtung einer massiven Kostenzunahme, andererseits durch effizientere Prävention und Therapie auch das Potenzial einer Kosteneinsparung. Bei allen Überlegungen muss aus Solidaritätsgründen das Leiden des Patienten die wichtigste Rolle spielen, unabhängig davon, ob es sich um eine häufige oder seltene Krankheit handelt. s
Dr. med. Isabelle Fuss Allgemeine Innere Medizin FMH Hausarztpraxis MZ Brugg, Brugg
Quelle: «Genetik – Chance und Dilemma», Trendtage Gesundheit TGL 2019, KKL Luzern, 27. und 28. März 2019.
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