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INTERVIEW
Reizdarmsyndrom – ein komplexes Krankheitsbild unklarer Genese
Das Reizdarmsyndrom zählt zu den häufigsten gastrointestinalen Erkrankungen. Seine Prävalenz in der Bevölkerung wird auf bis zu 15 Prozent geschätzt. Obwohl nicht jeder Betroffene einen Arzt aufsucht, können die chronisch auftretenden, typischen Symptome, wie abdominelle Schmerzen, Blähungen und Stuhlunregelmässigkeiten, einen zum Teil erheblichen Leidensdruck verursachen. Was sich hinsichtlich Diagnostik, Pathophysiologie und Therapie des Reizdarmsyndroms verändert hat, erläutert der Berner Gastroenterologe Prof. Dr. med. Frank Seibold in einem Gespräch.
ARS MEDICI: Herr Professor Seibold, das Reizdarmsyndrom (RDS) ist offenbar weit verbreitet. Unter welchen Symptomen leiden die Betroffenen? Prof. Dr. med. Frank Seibold: Die Key-Symptome des RDS sind Bauchschmerzen und Veränderungen der Stuhlgewohnheiten, wobei Frauen jeden Alters (vor allem über 35-jährige) deutlich häufiger betroffen sind. Männer mit RDS sehen wir in der Praxis selten. Aus der Literatur ist bekannt, dass dieses Krankheitsbild sehr häufig ist – man geht davon aus, dass 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung solche Beschwerden haben, das ist sehr viel. Viele Patienten leiden an leichten Formen, so-
Zur Person
Prof. Dr. med. Frank Seibold Facharzt FMH für Innere Medizin und Gastroenterologie Gastroenterologische Praxis Balsiger, Seibold & Partner Crohn-Colitis-Zentrum, Bern
Im Vergleich zu anderen Erkrankungen, bei denen spezifische Biomarker existieren, die zur Diagnostik herangezogen werden können, beruht die Diagnose des RDS im Wesentlichen auf einer Eingrenzung der Symptome. Man bewegt sich hier also auf relativ dünnem Eis.
dass keine Behandlung bei einem Spezialarzt erforderlich ist, andere dagegen leiden so extrem, dass die Erkrankung fast zum Lebensinhalt wird. Für diese Patienten ist es wichtig, dass sie optimal therapiert werden.
Das Krankheitsbild manifestiert sich ja in unterschiedlichen Formen … Seibold: … ja, und zwar je nach Art der Stuhlveränderung. Es gibt eine Form, die überwiegend mit Obstipation einhergeht, eine, bei der die Diarrhö überwiegt, und eine Mischform. Dabei unterscheiden sich jeweils die therapeutischen Vorgehensweisen.
sene Hypothese ist, dass es zu einer veränderten Zusammensetzung des Mikrobioms kommt; diskutiert wird in diesem Zusammenhang auch eine bakterielle Überwucherung des Dünndarms. Aber auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten scheinen eine Rolle zu spielen. So weiss man, dass gewisse fermentierbare Kohlenhydrate von den Patienten nicht mehr toleriert werden. Man geht davon aus, dass diese Kohlenhydrate im Dünndarm nicht resorbiert werden und in den Dickdarm gelangen und es so zu vermehrten Symptomen kommt. Deswegen wurde die FODMAP-Diät (Kasten) initiiert, die bei einem grossen Teil der Patienten tatsächlich zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden führen kann. In neuerer Zeit werden auch genetische sowie immunologische Faktoren diskutiert. Zudem lassen sich im Darm dieser Patienten oft auch leichtgradige Entzündungen nachweisen. Es handelt sich also um eine ausgesprochen komplexe, vielfältige Pathogenese. Der eigentliche initiale Auslöser dieses Krankheitsbildes ist bisher allerdings noch immer nicht bekannt.
Was weiss man heute über die auslösenden Faktoren? Seibold: Die kennen wir noch nicht ganz genau. Es gibt dazu
verschiedene Theorien. Eine gängige, aber noch nicht bewie-
Vor Jahren wurden erstmals die ROM-Kriterien für die Definition und die Diagnose funktioneller Magen-DarmErkrankungen wie dem RDS festgelegt. 2016 folgte mit
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ROM-IV eine neue Version. Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Änderungen? Seibold: Im Vergleich zu anderen Erkrankungen, bei denen spezifische Biomarker existieren, die zur Diagnostik herangezogen werden können, beruht die Diagnose des RDS im Wesentlichen auf einer Eingrenzung der Symptome. Man bewegt sich hier also auf relativ dünnem Eis. In verschiedenen Konsensusmeetings wurden die Definition sowie das diagnostische Vorgehen festgelegt. Demnach ist Voraussetzung für die Diagnosestellung, dass zunächst andere organische Erkrankungen, die ähnliche Symptome verursachen können, sorgfältig ausgeschlossen werden müssen. Als wichtigste Änderung in den neuen ROM-Kriterien wurde verpflichtend festgeschrieben, dass abdominelle Schmerzen vorliegen müssen, die mit einer Veränderung der Defäkation sowie der Stuhlfrequenz und der Stuhlbeschaffenheit einhergehen. Die früheren ROM-Kriterien waren hier deutlich weicher formuliert und enthielten noch so unspezifische Begriffe wie «Unwohlsein» oder «Abdominalbeschwerden». Diese wurden jetzt eliminiert und durch das obligate Vorhandensein des (abdominellen) Schmerzes ersetzt. Die Definition ist jedoch noch immer relativ schwammig, was sicher auch daran liegt, dass bei diesem Krankheitsbild verschiedenste Ursachen eine Rolle spielen, deren Zusammenhänge bisher noch ungeklärt sind.
Wie gehen Sie bei der Diagnosestellung vor? Seibold: Besonders wichtig ist als Erstes eine genaue Anamnese. Darüber hinaus sind vor der Diagnosestellung – wie erwähnt – andere schwerwiegende organische Ursachen für die Beschwerden auszuschliessen. So sind beispielsweise entzündliche Läsionen (zumindest durch einen CalprotectinNachweis im Stuhl sowie eine Blutanalyse) und chronische Infektionen, eine Zöliakie, die Endometriose sowie Tumorund/oder Stoffwechselerkrankungen auszuschliessen. Viele Patienten haben oft bereits eine Magen- und/oder Darmspiegelung hinter sich.
Das hängt vermutlich damit zusammen, dass man heute deutlich sensibler geworden ist und eher zum Arzt geht, wenn man sich unwohl fühlt, während man früher Erkrankungen, die nicht unbedingt zum Tode führten, nicht so ernst genommen beziehungsweise ertragen hat und nicht sofort ärztlich abklären liess.
Zur Erinnerung: Was sind FODMAP?
Das Akronym FODMAP steht für fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole (Zuckeralkohole). Es handelt sich dabei um eine Gruppe kurzkettiger Kohlenhydrate, zu denen Fruktose, Laktose, Fruktane und Galaktane sowie Sorbitol, Mannitol, Xylitol und Maltitol gehören. Alle FODMAP-Substanzen besitzen die gleichen charakteristischen Eigenschaften, die zu den für RDS typischen abdominellen Beschwerden führen: L Sie sind im Dünndarm schlecht resorbierbar. L Sie sind aufgrund ihrer geringen Molekülgrösse osmotisch aktiv und
können damit die Darmmotilität verändern. L Sie werden im Kolon rasch durch bakterielle Zersetzung zu kurzketti-
gen Fettsäuren, Methan, Kohlendioxid und Wasserstoff metabolisiert. Durch diese Fermentierungsprozesse kommt es zur Gasbildung, die zu Blähungen und – durch den gesteigerten Druck auf die Darmwand – zu abdominellen Schmerzen führt.
Als in den 1980er-Jahren erstmals nachgewiesen wurde, dass die Zufuhr von Kohlenhydraten wie Fruktose und Sorbitol Reizdarmbeschwerden auszulösen vermag und die Beschwerden verursachenden Kohlenhydrate sukzessive charakterisiert worden waren, wurde die FODMAPreduzierte Diät 2005 erstmals als mögliche therapeutische Massnahme bei Reizdarmbeschwerden vorgestellt (Aliment Pharmacol Ther 2005; 21: 1399). 2013 konnte in einer retrospektiven Studie erstmals gezeigt werden, dass ein Verzicht auf FODMAP bei 74 Prozent aller Patienten mit einer Verbesserung der Symptomatik einhergeht (Pharmacol Res 2013; 69: 52). In weiteren randomisierten, kontrollierten Studien bestätigten sich die Ergebnisse: RDS-Patienten hatten signifikant weniger Beschwerden unter einer FODMAP-armen Diät. Im Hinblick auf eine ausgewogene Ernährung sollten die einzelnen Komponenten nach anfänglicher Restriktion allerdings nacheinander wieder eingeführt werden, auch um so möglicherweise die Substanz zu identifizieren, die zu den Beschwerden führt.
Eine mögliche Assoziation zwischen der Unverträglichkeit von Kohlenhydraten und dem Reizdarmsyndrom wurde erst in den 1980er-Jahren diskutiert. Könnte das mit der Zunahme allergischer Erkrankungen zu tun haben? Seibold: Nicht unbedingt. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass man heute deutlich sensibler geworden ist und eher zum Arzt geht, wenn man sich unwohl fühlt, während man früher Erkrankungen, die nicht unbedingt zum Tode führten, nicht so ernst genommen beziehungsweise ertragen hat und nicht sofort ärztlich abklären liess. Ob das RDS auch eine allergische Komponente besitzt oder mit Umweltbedingungen zu tun hat, wäre zwar denkbar, ist aber hochspekulativ. Dazu kommt, dass ausgeprägte Nahrungsmittelallergien eher selten sind. Nahrungsmittelunverträglichkeiten können dagegen durchaus Symptome auslösen. Dazu gehören beispielsweise die Laktose- und Fruktosemalabsorption, die dazu führen, dass empfindliche Patienten auf laktose- oder fruktosehaltige Lebensmittel mit Darmsymptomen wie Blähungen und Bauchschmerzen reagieren. Hier ist eine gute Ernährungsberatung indiziert, um eine symptomorientierte individuelle Diät nach dem FODMAP-Prinzip zusammenzustellen – das ist relativ anspruchsvoll. Aber die Einführung der FODMAP-armen Diät beim RDS war sicher ein entscheidender Erfolg.
Spielt hier auch eine nicht zöliakiebedingte Glutenüberempfindlichkeit eine Rolle? Seibold: Ja, denn Gluten kann ebenfalls die Mukosabarriere angreifen und Immunreaktionen auslösen, die zu Beschwerden führen. Neben Gluten enthalten viele Getreidesorten aber auch Fructane, die zu den FODMAP gehören und somit zu Symptomen führen können.
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Wie lange sollte der Patient sinnvollerweise eine FODMAPreduzierte Diät einhalten, bevor einzelne Nahrungsmittel beziehungsweise Kohlenhydrate, insbesondere solche, die ihm wichtig sind, sukzessive wieder in die Ernährung einbezogen werden? Seibold: Der Patient sollte diese Diät mindestens 2 bis 6 Wochen einhalten, sodass er längerfristig sicher symptomfrei ist. Dies ist ganz wichtig – eventuell muss dieses Intervall sogar verlängert werden –, denn erst dann kann man die fraglichen Substanzen nacheinander wieder in das Ernährungsprogramm einführen, sodass sich bei erneutem Auftreten von Beschwerden die individuelle Unverträglichkeit identifizieren lässt. Eine begleitende Ernährungsberatung sorgt zudem dafür, dass keine Unterversorgung mit Nährstoffen befürchtet werden muss.
Worin unterscheidet sich der Wirkmechanismus der neuen Substanzen von einem üblichen Laxans wie Bisacodyl? Motilitätsfördernd sind sie ja letztlich alle. Seibold: Motilitätsanregend wirken sie alle, aber auf unterschiedliche Weise. Während Bisacodyl durch vermehrte Wasser- und Elektrolytretention das Stuhlvolumen erhöht und so quasi unspezifisch die Darmperistaltik anregt, sind die Wirkungen der neuen Substanzen gezielt an spezifische Rezeptoren oder Molekülstrukturen gebunden. So wird die Motilitätsförderung von Prucaloprid beispielsweise durch eine selektive Stimulation des Serotonin-5-HT4-Rezeptors ausgelöst. Zudem haben einige der neuen Medikamente, wie verschiedene Studien gezeigt haben, auch einen positiven Effekt auf die Schmerzsymptomatik, was bei Bisacodyl nicht gezeigt wurde.
Die wichtigste Basis für den Therapieerfolg ist ein vertrauensvoller Arzt-Patienten-Kontakt. Fühlt sich der Patient ernst genommen, wirkt sich das beruhigend aus und bestärkt ihn darin, nicht lebensbedrohlich erkrankt zu sein.
Hat ein RDS-Patient ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende gastrointestinale Erkrankungen? Seibold: Nein. Es ist jedoch so, dass Patienten mit schwerer chronischer Reizdarmsymptomatik oft so erheblich unter Schmerzen leiden, dass sich daraus ein allgemeines Schmerzproblem und damit eine Art Teufelskreis entwickeln kann und die Schmerzen zunehmend intensiver empfunden werden. Daher ist es durchaus sinnvoll, dass man versucht, eine Therapie einzuleiten, die dazu beiträgt, dass es den Patienten besser geht.
Was setzen Sie zur Behandlung des RDS ein? Womit haben Sie die besten Erfahrungen gemacht? Seibold: Die Behandlung sollte sich an den Beschwerden und Bedürfnissen des Patienten orientieren und muss entsprechend individuell gestaltet werden. Die wichtigste Basis für den Therapieerfolg ist ein vertrauensvoller Arzt-PatientenKontakt. Fühlt sich der Patient ernst genommen, wirkt sich das beruhigend aus und bestärkt ihn darin, nicht lebensbedrohlich erkrankt zu sein. Die Wahl der Therapeutika hängt dann davon ab, ob es sich um eine überwiegend obstipationsoder diarrhödominante Variante handelt, ist aber oft auch ein Ausprobieren, was dem Einzelnen am besten hilft und gleichzeitig gut verträglich ist. So setzen wir beim Obstipationstyp – neben den besprochenen Ernährungsanpassungen und dem Einsatz von löslichen Fasern – versuchsweise auch neuere Medikamente ein wie Prucaloprid (Resolor®), Linaclotid (Constella®) oder Lubiproston (Amitiza®). Die Erfahrung zeigt, dass einige Patienten sehr gut darauf ansprechen und kaum unter Nebenwirkungen leiden, während andere keine Besserung erfahren und vor allem über Nebenwirkungen klagen.
Was hat sich bei Diarrhödominanz bewährt? Seibold: Im Prinzip lässt sich hier das bekannte Loperamid (Imodium®) sehr gut einsetzen, es hat allerdings keinen Effekt auf die Schmerzen. In ausgewählten Fällen kommt auch das Antibiotikum Rifaximin zum Einsatz. Wenn alles andere nicht funktioniert, kann man in Einzelfällen auch den Offlabel-Einsatz von Ondansetron in Erwägung ziehen.
Mit welcher Therapiedauer ist bei einem RDS zu rechnen? Seibold: Das Reizdarmsyndrom ist ja häufig eine chronische Erkrankung. Leider ist es so, dass es vor allem bei den schwereren Fällen, die bei den Gastroenterologen vorstellig werden, nicht mit einer zwei- bis dreimonatigen Behandlung getan ist. Meistens ist hier eine mehrjährige Therapie erforderlich.
Was halten Sie von einem fäkalen Mikrobiotatransfer, dessen
Wirkung in einer ersten Studie kürzlich untersucht wurde?
Seibold: Das ist ein enorm spannendes Gebiet. Leider fehlen
uns jedoch in Europa im Moment noch die gesetzlichen
Grundlagen, diese Behandlungsart ausserhalb von Studien
anzuwenden. Die EMEA setzt hier sehr strenge Massstäbe.
Ganz anders in den USA, wo bereits kommerzielle Stuhlban-
ken existieren. Es gibt hierzu jedoch eine interessante Unter-
suchung an keimfreien Mäusen, denen Stuhl von reizdarm-
kranken Mäusen transferiert wurde. Es zeigte sich über-
raschenderweise, dass das Reizdarmsyndrom durch den
Stuhltransfer auf die gesunden keimfreien Mäuse übertragen
werden konnte. Natürlich lassen sich tierexperimentelle Stu-
dien nie auf den Menschen übertragen, aber das ist doch ein
interessantes Ergebnis. Ich kann mir vorstellen, dass unser
Darmmikrobiom durch die Ernährung, durch Umweltsub-
stanzen sowie durch Arzneistoffe und Antibiotika ganz
erheblich beeinflusst wird. Dies ist zurzeit ein grosses For-
schungsthema, nicht zuletzt weil inzwischen viele Erkran-
kungen vom Autismus bis zu Depressionen unter anderem
mit einer Dysbalance des Darmmikrobioms in Zusammen-
hang gebracht werden.
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Das Interview führte Claudia Reinke.
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