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STUDIE REFERIERT
Achillessehnenruptur
Operation oder konservative Therapie?
Die operative Behandlung einer Achillessehnenruptur ist im Vergleich zum nicht operativen Management mit weniger erneuten Rupturen, jedoch mit mehr Komplikationen verbunden. Da die Raten von Rerupturen und Komplikationen insgesamt gering sind, sollte die Entscheidung für das geeignete Management entsprechend individuellen Patientencharakteristika wie Alter, Sportlichkeit und Komorbiditäten getroffen werden.
British Medical Journal
Eine Achillessehnenruptur kann zu langfristigen Beeinträchtigungen der Beweglichkeit und der Körperkraft führen. Die bestmögliche Versorgung dieser Verletzung – operativ oder konservativ – wird kontrovers diskutiert. In einem systematischen Review mit Metaanalyse (1) verglichen Yassine Ochen vom University Medical Center in Utrecht und seine Arbeitsgruppe die Rate erneuter Rupturen, die Komplikationsrate und das funktionelle Ergebnis bei operativer und konventioneller Behandlung einer Achillessehnenruptur. Im Rahmen ihrer Untersuchung werteten die Forscher 10 randomisierte, kontrollierte Studien mit 944 Teilnehmern (6%) und 19 Beobachtungsstudien mit 14 918 Teilnehmern (94%) aus.
OP: weniger Rerupturen– mehr Komplikationen
Der chirurgische Eingriff war mit signifikant weniger erneuten Rupturen verbunden als die konservative Versorgung (2,3 vs. 3,9%). Die Risikodifferenz (RD) betrug 1,6 Prozent, die Risk Ratio (RR) lag bei 0,43 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,31–0,60); p < 0,001). Allerdings kam es bei den chirurgischen Eingriffen signifikant häufiger zu Komplikationen als bei der konventionellen Behandlung (4,9 vs. 1,6%; RD: 3,3%, RR: 2,76, 95%-KI: 1,84–4,13; p < 0,001). Die höhere Komplikationsrate im Zusammenhang mit der Operation war vor allem auf Infektionen zurückzuführen (2,8%). Bei früher und später Belastung mit dem gesamten Körpergewicht wurde in beiden Gruppen eine ähnliche Rerupturrate (mit Vorteil für die Operation) beobachtet. Bei beschleunigter funktioneller Rehabilitation zeigte sich in Studien kein signifikanter Unterschied
zwischen operierten und nicht operierten Patienten (RR: 0,60; 95%-KI: 0,26– 1,37; p = 0,23). Zwischen randomisierten, kontrollierten Studien und Beobachtungsstudien wurde keine Differenz bezüglich der Effektgrössen festgestellt. Aufgrund der insgesamt geringen Raten von Rerupturen und Komplikationen kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Entscheidung für das geeignete Management entsprechend individuellen Patientencharakteristika getroffen werden sollte. In weiteren Studien ist ihrer Ansicht nach eine Evaluierung des Erfolgs der jeweiligen Behandlung in verschiedenen Altersgruppen und im Zusammenhang mit Komorbiditäten wie einer Immunsuppression, Diabetes mellitus, einem erhöhtem Body-Mass-Index (BMI), Neuropathien oder peripheren vaskulären Erkrankungen erforderlich.
Konservative Behandlung – Verlängerung der Achillessehne möglich
In einem Kommentar im Editorial (2) erörtern Nicola Maffulli von der Universität Salerno (I) und Giuseppe Peretti vom IRCCS Istituto Ortopedico Galeazzi in Mailand (I) die klinische Relevanz der Ergebnisse. In der vorgestellten Studie war der Unterschied zwischen den Rerupturraten nach konservativer und chirurgischer Behandlung einer Achillessehnenruptur gering. Nach Ansicht der Kommentatoren sind weitere Ergebnisse für betroffene Patienten jedoch ebenso bedeutsam. So brauchten konservativ behandelte Patienten in anderen Studien mehr Zeit als operierte, bis sie wieder sportlichen Aktivitäten nachgehen konnten, und hatten weniger Vertrauen
in die Belastbarkeit ihrer Achillessehne.
Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass
es im Rahmen der konservativen Be-
handlung zu einer Verlängerung der
Achillessehne kommen kann. Dadurch
verändert sich das Zusammenspiel von
Sehne, Musculus gastrocnemius und
Musculus soleus, sodass sich die Patien-
ten beim Gehen nicht optimal vom
Boden abstossen können. Bei einer ver-
längerten Achillessehne können zwar
auch später noch korrigierende Opera-
tionen durchgeführt werden, sie sind je-
doch chirurgisch anspruchsvoller als eine
primäre Operation und zudem mit einer
längeren Rekonvaleszenz verbunden.
Eine konservative Versorgung ist
zudem meist auch mit einem niedrige-
ren Punktwert im Achilles Tendon
Total Rupture Score (ATTRS) verbun-
den als ein chirurgischer Eingriff. Der
Unterschied im Vergleich zu operierten
Patienten ist zwar statistisch nicht
signifikant, kann sich im Einzelfall
jedoch beträchtlich auf die Rückkehr
zur Aktivität auswirken.
Da bis anhin keine aussagekräftigere
Evidenz zu langfristig bedeutsamen Re-
sultaten vorliege, werden wohl auch
weiterhin über die bestmögliche Be-
handlung der Achillessehnenruptur
debattiert werden, vermuten Maffulli
und Peretti.
PS s
Quellen: 1. Ochen J et al.: Operative treatment versus
nonoperative treatment of Achilles tendon ruptures: systematic review and meta-analysis. BMJ 2018; 364: k5120. 2. Maffulli N, Peretti GM: Surgery or conservative management for Achilles tendon rupture? BMJ 2018; 364: k5344. Interessenlage: Die Autoren der referierten Studie und die Kommentatoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. Lesen Sie dazu auf Seite 234 den Kommentar unseres Beirats Dr. med. Luzi Dubs.
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ARS MEDICI 7 | 2019
STUDIE REFERIERT
KOMMENTAR
Dr. med. Luzi Dubs Facharzt FMH Orthopädische Chirurgie Rychenbergstrasse 155 8400 Winterthur E-Mail: dubs.luzi@bluewin.ch
Die Verletzung der Achillessehne – ein wunder Punkt
Die Verletzlichkeit des griechischen Helden Achilleus an seiner Trizepssehne hat ihre Symbolkraft bis in die heutige Zeit bewahrt. Einmal dort getroffen, kommt er definitiv zu Fall. Der Chirurgie ist es zu verdanken, dass man mit einer operativen Rekonstruktion den Sehnenschaden rückgängig machen kann, allerdings ist damit ein gewisses Risiko für eine folgenschwere Infektion verbunden. Das Unterlassen der Operation hatte jahrzehntelang den Beigeschmack eines Kunstfehlers. Seit mindestens zwei Jahrzehnten sind jedoch Studien vorhanden, die eine erstaunliche Heilungsrate nach konservativer Behandlung aufweisen und die das Kartenhaus von manchen mechanistisch denkenden Orthopäden ins Wanken oder gar zum Einstürzen gebracht haben. Wie soll es an dieser heiklen, kaum durchbluteten Stelle bei diesen eklatanten Dehiszenzen zu einer Heilung kommen? Nun wird eine Metaanalyse von 10 randomisierten Studien mit 944 Teilnehmern und von 19 Beobachtungsstudien mit 14 918 Teilnehmern vorgestellt. Diese lässt in mehrfacher Hinsicht aufhorchen: 1. Die Indikation für eine konservative Behandlung muss zwangs-
läufig einen klinisch relevanten Stellenwert haben. 2. Wenn es eine Metaanalyse mit rund 16 000 Teilnehmern braucht,
um eine statistisch signifikante Differenz zwischen der operativen und der konservativen Behandlung auszumachen, können und müssen die erwarteten Ergebnisunterschiede klein beziehungsweise klinisch nicht relevant sein. 3. Wenn sich die Resultate in randomisierten, kontrollierten Studien und in Beobachtungsstudien nicht unterscheiden, ist dies ein Hinweis auf harte Endpunkte (Reruptur, Infektion). 4. Mit den in der Metaanalyse genannten Wirkungsgrössen der absoluten Risikoreduktion (ARR) und der NNT (number needed to treat) beziehungsweise NNH (number needed to harm) lassen sich aussagekräftige Kosten-Nutzen-Berechnungen anstellen.
Die Rerupturrate unterscheidet sich in sehr geringem Ausmass
(ARR: 1,6%, NNT: 63). Man muss also 63-mal operativ vorgehen,
um eine Reruptur (mit Folge einer sekundären operativen Rekon-
struktion) zu vermeiden. Man kann davon ausgehen, dass eine
Kostendifferenz (Mehraufwand für die primäre Operation) von
6000 Franken inklusive der Behandlungskosten wegen Komplika-
tionen (2,8%) aufgrund einer Infektion entsteht. Es wären somit
rund 378 000 Franken aufzuwenden, um die Kosten für die Behe-
bung des unerwünschten Ereignisses durch die Reoperation auszu-
gleichen. Die Kosten für eine Reoperation sind einerseits unwesent-
lich höher als diejenigen für die primäre Operation, anderseits bei
Weitem nicht vergleichbar mit dem Betrag bei konsequenter Pri-
märoperation. Fairerweise müssten die Kosten für den zusätzlichen
Arbeitsausfall einberechnet werden. Dennoch würden gesundheits-
ökonomisch denkende Bürger klar zu dem Schluss gelangen, dass
ein konservatives Vorgehen aus volkswirtschaftlicher Sicht bevor-
zugt werden müsste. Es ist ganz offensichtlich medizinisch zumut-
bar. Die Ablehnung einer Kostenübernahme durch den UVG-Versi-
cherer, der gemäss dem Naturalleistungsprinzip die Verantwortung
für das Behandlungsresultat trägt, wäre legitim. Der KVG-Artikel
der WZW (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit)
wäre berücksichtigt.
Es ist durchaus nachvollziehbar, dass die im Editorial aufgeführten
Kollegen wissen möchten, ob gewisse Risikogruppen (Ältere, Di-
ckere, Diabetiker, Raucher, Sportler usw.) eher der einen oder eher
der anderen Gruppe zugeführt werden sollen. Subgruppenberech-
nungen in Metaanalysen sind aber kaum machbar, sodass jede
Risikogruppe in einer separaten Studie mit einer eigenen Validität
randomisiert und untersucht werden müsste.
Das genannte Argument, dass die konservativ behandelten Patien-
ten wegen einer Elongation der Achillessehne fortan benachteiligt
sein sollten und länger für die Wiedererlangung der ursprünglichen
Aktivität brauchen würden, bleibt einstweilen hypothetisch, zu-
mindest ist das nicht durch signifikante (relevante?) Unterschiede
belegt. Die Art und die Dauer der Rehabilitation im Anschluss an
eine konservative beziehungsweise operative Behandlung müssen
gleichsam in einer separaten Studie evaluiert werden, was bereits
teilweise gemacht worden ist.
Der vulnerable Punkt war bei Achilleus dessen Sehne, bei den ope-
rativ tätigen Chirurgen ist es eher die Bereitschaft, auf einen Eingriff
zu verzichten, der keinen aufwandgerechten und klaren Nutzen für
den Patienten bringt.
s
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