Transkript
EDITORIAL
Ist’s das Herz?
Bei einem Patienten mit Thoraxschmerzen kommt es erst einmal darauf an, zu klären, was er nicht hat. Hinter den Schmerzen steckt meistens keine lebensbedrohliche Ursache, aber in 5 bis 10 Prozent der Fälle kann es eben doch etwas Ernstes sein, wie ein Herzinfarkt oder eine Lungenembolie (1). Bleibt die Frage, ob es einfache und praxistaugliche Instrumente gibt, mit denen man eine gefährliche Ursache ohne grossen Aufwand vorderhand ausschliessen kann. Diagnostische Scores versprechen Abhilfe, aber wie zuverlässig sind sie wirklich? Diese Frage beantwortet eine kürzlich publizierte Übersichtsarbeit, in der die vorhandenen Studien zu fünf gängigen Praxis-Scores für den Ausschluss einer koronaren Herzkrankheit (KHK) beziehungsweise eines akuten Koronarsyndroms (instabile Angina pectoris oder Myokardinfarkt) unter die Lupe genommen wurden: zum Ausschluss einer KHK der GencerScore, der Marburger Herz-Score und der Score der International Working Group on Chest Pain in Primary Care (INTERCHEST), zum Ausschluss eines akuten Koronarsyndroms die Scores von Grijseels und Bruins Slot (2). Die schlechte Nachricht zuerst: Für den Ausschluss eines akuten Koronarsyndroms in der Hausarztpraxis empfehlen die Review-Autoren keinen einzigen der genannten Scores. Zum Ausschluss einer KHK hingegen sei der Marburger Herz-Score gut geeignet.
Dieser Score wurde auch in der Schweiz validiert und wird beispielsweise in den Praxis-Guidelines des Ärztenetzwerks mediX empfohlen (1). Vergeben wird jeweils 1 Punkt, falls Folgendes zutrifft: s Mann ≥ 55 Jahre oder Frau ≥ 65 Jahre s bekannte vaskuläre Erkrankung s Schmerzen sind belastungsabhängig s Schmerzen sind durch Palpation nicht
reproduzierbar s Patient vermutet, dass der Schmerz
vom Herzen kommt. Bei 0 bis 2 Punkten ist die KHK-Wahrscheinlichkeit gering (≤ 5%), bei 3 Punkten mittel (25%) und bei 4 bis 5 Punkten hoch (65%). Der INTERCHEST-Score sollte hingegen nach Ansicht der Review-Autoren nicht für klinische Zwecke eingesetzt werden, und beim Gebrauch des Gencer-Scores raten sie zur Vorsicht, weil zu diesem Score nur wenige Validationsstudien gemacht wurden. Doch so gut oder schlecht ein Score auch sein mag – am Ende zählt wohl doch die hausärztliche Erfahrung am meisten, meinen Sie nicht auch?
Übrigens: Zwar wächst die Erfahrung mit dem Alter bekanntermassen ganz von alleine, aber nun will man pensionierten Ärztinnen und Ärzten im Kanton Zürich die Bewilligung zur eingeschränkten Berufstätigkeit, die sogenannte Seniorenbewilligung, nicht mehr erneuern. In der Konsequenz würde das bedeuten, dass man ab dem Tag der Pensionierung für jedes verschreibungspflichtige Medikament zum Eigengebrauch einen jüngeren Kollegen um ein Rezept bitten müsste – es sei denn, man deklariere sich wieder als «berufstätig» mit allen Pflichten, wie Fortbildung, Haftpflicht und Notfalldienst. Dagegen hat sich nun Widerstand formiert, und eine IG Seniorenärzte wurde gegründet. Mehr dazu erfahren Sie auf Seite 176 in diesem Heft.
Renate Bonifer
Literatur: 1. mediX: Guideline Thoraxschmerz; www.medix.ch 2. Harskamp RE et al.: Chest pain in general practice: a systematic review
of prediction rules. BMJ Open 2019;9:e027081.
ARS MEDICI 6 | 2019
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