Transkript
POLITFORUM
Xundheit in Bärn
INTERPELLATION vom 11.6.2018
Das System des Tiers payant verhindert eine wirksame Kontrolle der Rechnungen durch die Versicherten
Isabelle Chevalley Nationalrätin GLP Kanton Waadt
In der Krankenversicherung liegt der grundlegende Unterschied zwischen dem System des Tiers payant und dem System des Tiers garant bei der Kontrolle der Rechnungen. Nur die versicherte Person kann eine Rechnung auf ihre Richtigkeit kontrollieren. Nur sie weiss, ob die in Rechnung gestellten Leistungen tatsächlich erbracht wurden. Nur sie weiss, ob die neun Physiotherapiesitzungen, die auf der Rechnung aufgeführt sind, tat-
sächlich stattgefunden haben. Nur sie weiss, ob die Konsultation 15 oder 30 Minuten gedauert hat. Nur sie weiss, ob der Chefarzt die Konsultation effektiv überwacht hat ... Wenn die versicherte Person die Schuldnerin der Rechnung ist, zwingt dies den Leistungserbringer zu einer sauberen Rechnungstellung, was nicht immer der Fall ist, wenn er – aus welchem Grund auch immer – die Rechnung direkt dem Versicherer schicken muss. Natürlich überprüfen nicht alle Versicherten die Rechnungen bis ins letzte Detail; aber es reicht schon, wenn einige es tun, damit ein Leistungserbringer, bei dem man sich ein paar Mal beschwert hat, gezwungen ist, ganz generell sorgfältiger vorzugehen. Interessant ist das Beispiel der Assura, die wenn möglich Vereinbarungen für das System des Tiers payant ablehnt. Als die Assura in den ersten Jah-
ren ihres Bestehens beschloss, dass Apothekerrechnungen zuerst von den Patientinnen und Patienten bezahlt werden müssen und erst danach von der Versicherung vergütet werden, sanken die zu vergütenden Arzneimittelkosten von einem Jahr aufs andere um 27 Prozent!
Ich stelle dem Bundesrat folgende Fragen: 1. Trägt das System des Tiers payant nicht zum
Anstieg der Gesundheitskosten bei? 2. Erlaubt das System des Tiers garant nicht eine
bessere Kontrolle darüber, welche Leistungen tatsächlich erbracht wurden? 3. Wäre es im System des Tiers garant nicht möglich, den Versicherten eine relativ lange Zahlungsfrist zu setzen, damit sie die Rückerstattung durch die Krankenkasse abwarten können?
STELLUNGNAHME DES BUNDESRATES VOM 5.9.2018 (LEICHT GEKÜRZT)
1./2. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung beruht auf dem Prinzip der Kostenübernahme. Artikel 42 Absatz 3 des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung verpflichtet daher den Leistungserbringer, dem Vergütungsschuldner eine detaillierte und verständliche Rechnung zuzustellen. Im System des Tiers garant ist der Schuldner die versicherte Person, im System des Tiers payant der Versicherer. Im zweiten Fall sieht Artikel 42 Absatz 3 KVG vor, dass die versicherte Person eine Kopie der Rechnung erhält, die an den Versicherer gegangen ist. Mit der Zustellung der Rechnungskopien sollen die Verantwortung und das Kostenbewusstsein der Versicherten gestärkt werden. Die Versicherten spielen denn auch eine wichtige Rolle bei der Rechnungsprüfung. Dank systematischem Erhalt der Rechnungskopie können sie ihre eigene Rechnungsprüfung vornehmen und allfällige Fehler in der Rechnungsstellung dem Versicherer melden. Die Kontrollmöglichkeiten der Versicherten sind zudem massgeblich von der Verständlichkeit der Rechnung abhängig. Der Bundesrat hat sich denn auch in seiner Stellungnahme zur Motion Brand («KVG. Transparenz bei der Leistungsabrechnung nach Tar-
med») bereit erklärt, die Transparenz in der Rechnungsstellung weiterzuentwickeln und zu verbessern. In jedem Fall bleibt aber die hauptsächliche Verantwortung für die Rechnungskontrolle bei den Versicherern. Diese haben unabhängig vom gewählten System für die Rechnungsstellung zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Kostenübernahme im Einzelfall gegeben sind. Zudem prüfen sie auch auf einer generellen Ebene, wie sich ein Leistungserbringer verhält, wie er z.B. ein Vergütungssystem anwendet, welche Kosten er verursacht und ob diese über dem Durchschnitt vergleichbarer Leistungserbringer liegen. Mit dieser Kontrolle kann das wirtschaftliche Verhalten der Leistungserbringer bei seiner Tätigkeit im Rahmen der Krankenversicherung vertieft geprüft werden. Für die Kostenkontrolle durch die Versicherer bietet das System des Tiers payant etliche Vorteile, wie zum Beispiel einen vollständigen Überblick über die erbrachten Leistungen, durch die ein Kostenanstieg eingedämmt werden kann. 3. In seiner Antwort auf die Interpellation Hardegger («Leistungen der Krankenversicherungen. Lücken in den Abrechnungssystemen Tiers
payant und Tiers garant») hat der Bundesrat angekündigt, dass das Bundesamt für Gesundheit im Rahmen seiner Aufsichtstätigkeit eine Evaluation zu den Rückzahlungspflichten durchführen werde. Diese Untersuchung aus dem Jahr 2015 hat ergeben, dass Versicherte, die ihre medizinischen Leistungen zunächst selbst bezahlen, das Geld von ihrem Krankenversicherer in durchschnittlich zehn Tagen rückerstattet erhalten. Es wurden aber Unterschiede zwischen den einzelnenVersicherern festgestellt. Einzelne Versicherer haben daraufhin Massnahmen ergriffen, um eine raschere Rückerstattung zu ermöglichen. Wenn die Versicherten also die Rechnungen der Leistungserbringer rasch an ihren Versicherer weiterleiten, erhalten sie das Geld in der Regel rechtzeitig zur Zahlungsfrist rückerstattet. Zudem unterliegt die Zahlungsfrist der Rechnungen grundsätzlich dem Privatrecht und kann folglich nicht vom Krankenversicherungsrecht geregelt werden.
ARS MEDICI 4 | 2019
99
POLITFORUM
INTERPELLATION vom 14.6.2018
Verbindliche Zusammenarbeit von Bund (BAG) und Swiss Medical Board in Bezug auf HTA
Thomas Hardegger
Nationalrat SP Kanton Zürich
Der Begriff «Health Technology Assessment» (HTA) steht international für die systematische Bewertung medizinischer Verfahren und Technologien. Deren Stärkung ist eine der in «Gesundheit 2020» festgelegten gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates. HTA ermöglicht eine transparente und evidenzbasierte Entscheidungsfindung, um nicht wirksame und nicht effiziente Leistungen zu reduzieren, die Qualität des Gesundheitswesens zu erhöhen und die Kosten zu verringern. Aufgrund dieser Empfehlungen des
HTA entscheidet das EDI oder bei den konfektionierten Arzneimitteln das BAG über eine allfällige Streichung, Einschränkung oder Weiterführung der Leistungspflicht. Das Swiss Medical Board (SMB) analysiert und beurteilt diagnostische Verfahren und therapeutische Interventionen aus der Sicht der Medizin, der Ökonomie, der Ethik und des Rechts. Daraus werden Empfehlungen zuhanden der politischen Entscheidungsträger und der Leistungserbringer formuliert. Das SMB geht bei umstrittenen Leistungen der Frage nach dem Mehrwert einer Behandlungsform gegenüber einer anderen nach. Es ist für medizinische Fachleute und für Patientinnen und Patienten von Nutzen, indem es Grundlagen für die Wahl der geeigneten Therapieform liefert. So wird ein Beitrag zur Verbesserung der Behandlungsqualität geleistet.
In diesem Zusammenhang bitte ich den Bundesrat um die Beantwortung nachfolgender Fragen: 1. Die Tätigkeiten des BAG und des SMB sind aus
Sicht der Patientinnen- und Patientenvertretungen sehr wertvoll. Der Zugang für die Patientinnen und Patienten zu den Resultaten des BAG wie des SMB und damit zum Nutzen ist zwar öffentlich, jedoch im Alltag nicht oder kaum praktikabel. Wie kann der Informationsfluss der Resultate bezüglich der Bevölkerung sichergestellt werden? 2. Sowohl das BAG wie das SMB überprüfen neue oder bestehende Leistungen auf ihren Nutzen für die Patientinnen und Patienten. Ist er nicht auch der Ansicht, dass sich eine verbindliche und engere Zusammenarbeit von BAG und SMB aufdrängt? 3. Die Resultate des SMB können nur als Empfehlungen publiziert werden. Ist er nicht auch der Ansicht, dass statt der Empfehlung verbindliche Regulierungen ermöglicht werden sollen? 4. Wie werden die Resultate des BAG und des SMB in die gesetzliche Grundlage für Qualität integriert?
STELLUNGNAHME DES BUNDESRATES VOM 5.9.2018 (LEICHT GEKÜRZT)
1. Der Zuständigkeitsbereich des Bundes liegt im Bereich der Bezeichnung der von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) vergüteten Leistungen. Health Technology Assessment (HTA) wird angewendet zur Prüfung neuer, umstrittener Leistungen oder zur Re-Evaluation von bereits von der OKP vergüteten Leistungen. Anpassungen der Voraussetzungen für die Kostenübernahme von Leistungen der OKP werden regelmässig in den offiziellen Publikationsorganen des Bundes publiziert. Die betroffenen Akteure des Gesundheitswesens (u.a. auch Patientenorganisationen) werden direkt informiert. Zudem werden die Anpassungen regelmässig im Bulletin des Bundesamtes für Gesundheit kommuniziert. Wichtige Informationen für Patientinnen und Patienten werden jeweils in den Medienmitteilungen des BAG aufgeführt bzw. in Form von Merkblättern auf der BAG-Website veröffentlicht. Weiter werden alle Health-Technology-Assessment-Berichte, die das BAG erstellen lässt, auf der Homepage des BAG veröffentlicht. Die Art und Weise der Veröffentlichung der Resultate/Empfehlungen des Swiss Medical Board (SMB) liegen in dessen eigener Kompetenz. 2. Der Bund als zuständige Entscheidungsinstanz bezüglich Fragen der Leistungspflicht hat die dafür notwendigen Prozesse definiert. In einer ersten Phase werden alle Informationen zu Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit einer Leistung zusammengestellt («Assessment») in Form von Antragsdossiers und/oder HTA-Berichten. Die Erarbeitung von HTA-Berichten vergibt das BAG in der Regel an externe qualifizierte Institutionen. Basierend auf diesen Grundlagen bewerten die ausserparlamentarischen Kommissionen die Erfüllung der
WZW-Kriterien und geben eine Empfehlung zur Leistungspflicht («Appraisal») ab. Die Entscheide betreffend Leistungspflicht werden von den zuständigen Bundesstellen gefällt (konfektionierte Arzneimittel durch das BAG, alle übrigen Leistungen durch das EDI). Hinsichtlich der Re-Evaluation von bereits von der OKP vergüteten, aber potenziell obsoleten Leistungen (Disinvestment) hat der Bund ein systematisches Vorgehen mit Einbezug der Stakeholder erarbeitet und installiert. In einem öffentlichen Themeneingabeverfahren können alle Akteure Themen eingeben, welche anschliessend von den ausserparlamentarischen Kommissionen anhand von definierten Kriterien priorisiert und auf deren Empfehlung durch das EDI zur weiteren Bearbeitung beschlossen werden. Es werden Themen ausgewählt, die im Rahmen der Zuständigkeit des Bundes liegen und regulierbar sind. Das SMB hat ein eigenes Themenauswahlverfahren und kann auch Themen berücksichtigen, die nicht durch den Bund regulierbar sind, etwa im Bereich der kantonalen Spitalversorgung. Die spezifische Arbeit des SMB besteht in der Verfassung von Empfehlungen durch dessen Appraisalkomitee. Das SMB selbst erstellt keine Assessmentberichte. Dies erfolgt durch externe Auftragnehmer. Für die Empfehlungen bezüglich Leistungspflicht sind die im Gesetz genannten und durch den Bundesrat eingesetzten ausserparlamentarischen Kommissionen zuständig. Die Arbeitsweise der beiden Gremien haben gewisse Überschneidungen, aber auch Unterschiede. Im Gegensatz zum Appraisalkomitee des SMB betrachten die ausserparlamentarischen Kommissionen weitergehende inhaltliche Aspekte, beispielsweise im Bereich der Anforderungen an die Qualität, der angemessenen An-
wendung der Leistungen unter Alltagsbedingungen sowie betreffend Anforderungen an eine wirksame Regulation und der Prüfung der Leistungspflicht durch die Versicherer. Auch diese Aspekte fliessen in die Bewertung der gesamtheitlichen Erfüllung der WZW-Kriterien ein. Entsprechend umfassen die ausserparlamentarischen Kommissionen auch Expertinnen und Experten aus einem breiteren Kreis von Stakeholdern als das Appraisalkomitee des SMB. Das BAG sowie das EDI und das SMB sind seit längerer Zeit im Gespräch bezüglich Möglichkeiten der Koordination und der Zusammenarbeit. 3. Berichte und Empfehlungen des SMB können grundsätzlich als Grundlage für die Regulation einer Leistung und in diesem Zusammenhang für das «Appraisal» in den ausserparlamentarischen Kommissionen dienen, wenn sie die erforderlichen Inhalte sowie die notwendige Qualität aufweisen. Dies ist in der Vergangenheit auch schon erfolgt. Nicht alle vom SMB bearbeiteten Themen eignen sich für eine Regulation der Leistungspflicht. So ist zum Beispiel die Aufnahme von vom SMB erarbeiteten Ergebnissen und Empfehlungen in klinischen Leitlinien Aufgabe der medizinischen Fachgesellschaften. 4. Die Arbeiten im Bereich HTA haben den Fokus auf der allgemeinen Nutzenbewertung von Leistungen und den grundsätzlichen Anforderungen an die Leistungspflicht. Sie unterscheiden sich somit von den Massnahmen der Qualitätssicherung in der Leistungserbringung. Beide Aspekte sind bereits im Gesetz verankert. Eine Integration von HTA in die aktuell im Parlament beratenen Gesetzesvorlage zur Anpassung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG) betreffend Stärkung von Qualität und Wirtschaftlichkeit ist somit nicht vorgesehen.
100
ARS MEDICI 4 | 2019