Transkript
INTERVIEW
«Ein paar Jahre hätte ich noch den Mumm gehabt, weiterzumachen»
Interview mit Prof. Dr. med. Christoph Hürny, ehemaliger Chefarzt an der Geriatrischen Klinik in St. Gallen
Wie einen Bruch im Lebenslauf empfindet Prof. Christoph Hürny die Pensionierung von seiner Chefarzttätigkeit in St. Gallen. Und obwohl er noch viel Energie besitzt, muss er sich eingestehen, dass sie für den Beginn einer ganz neuen Tätigkeit vermutlich nicht ausreicht. Aus diesem Grunde entscheidet er sich, bei dem zu bleiben, was er am besten kann.
Herr Prof. Hürny, wie geht es Ihnen seit der Pensionierung? Prof. Christoph Hürny: Ein Kollege, der vor mir in Pension gegangen ist, hat gesagt, er trete jetzt den Weg in die Bedeutungslosigkeit an. Von aussen betrachtet haben alle das Gefühl, das ist doch wunderbar: die Pensionierung! Man kann machen, was man will, hat keine Verpflichtungen mehr ... Ich habe über 40 Jahre mindestens 100 Prozent gearbeitet. Daneben habe ich nicht viele Hobbys gehabt und mir auch wenig Zeit dafür genommen, weil ich sehr gerne gearbeitet habe. Ich hatte sehr viel Glück mit der Stelle als Chefarzt für Geriatrie am Bürgerspital in St. Gallen. Ich konnte die Klinik nach meinen Vorstellungen und meiner Philosophie aufbauen und zusammen mit den Mitarbeitern weiterentwickeln. Wir waren wirklich alle sehr zufrieden mit der Arbeit in diesem Spital. Wenn es mir «gestunken» hätte, wäre es vielleicht auch nicht so schwierig gewesen, aufzuhören. Ein
Zur Person
Geboren 1946 in Bern. Studium an der Universität Bern und in Paris. 1981 bis 1983 Fellowship am Memorial Sloan Kettering Cancer Center, New York, N.Y. 1983 bis 1997 tätig am Inselspital Bern (Lory-Haus), von 1988 bis 1997 als stellvertretender Chefarzt. 1998 bis 2011 Chefarzt für Geriatrie am Kompetenzzentrum Gesundheit und Alter der Ortsbürgergemeinde St. Gallen. Verheiratet, 3 Kinder, 1 Enkelkind.
sprünglich komme ich ja aus Bern, und die spannende Auf-
gabe hat mich einige Jahre beschäftigt.
Ich habe mir immer auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer neuen Tätigkeit gestellt. In der Geriatrie ist das die wichtigste Frage überhaupt.
paar Jahre hätte ich noch den Mumm gehabt, weiterzumachen. Ich war nicht müde, wie beispielsweise ein Bauarbeiter, der jahrelang körperlich streng gearbeitet hat. In unserem Beruf haben die meisten noch Energie, vor allem wenn es einem gut gefällt.
Wie haben Sie sich gefühlt, als der Zeitpunkt der Berentung näher rückte? Hürny: Zum Ende meiner beruflichen Laufbahn wurde ich vom Kanton St. Gallen beauftragt, ein Geriatriekonzept zu erarbeiten und umzusetzen. Das war ein guter Abschluss, und es hat mir den Übergang vom Berufsleben zur Pensionierung erleichtert. Vermutlich im Zusammenhang mit dieser Aufgabe wurde ich nach meiner Pensionierung angefragt, ob ich die Geriatrieabteilungen im Kanton Bern evaluieren könnte. Ich habe das Angebot gerne angenommen. Ur-
Haben Sie sich frühzeitig Gedanken gemacht oder konkret geplant, womit Sie Ihre Zeit im Ruhestand verbringen? Hürny: Etwa zwei Jahre vorher habe ich angefangen zu überlegen, was ich nach meiner Pensionierung machen will. Eine Option wäre gewesen, wieder in die Forschung einzusteigen. Gereizt hätte mich auch, mit ganz alten Menschen Psychotherapie zu machen. Ein ganz anderer Gedanke war, einen Spielfilm zu drehen. Diesen Wunsch hatte ich schon als junger Mann. Im Endeffekt war mir das dann alles zu viel. Vorhin habe ich gesagt, ich hätte noch genügend Mumm gehabt, weiterzumachen. Auf der anderen Seite musste ich mir eingestehen, dass ich nach dem grossen Engagement in all den Jahren für die Klinik nicht mehr beliebig viel Energie zur Verfügung hatte. Meine Kraft hätte nicht gereicht, um etwas ganz Neues anzupacken und zu entwickeln, zum Beispiel auf eine Filmschule zu gehen. Ich habe mir immer auch die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer neuen Tätigkeit gestellt. In der Geriatrie ist das die wichtigste Frage überhaupt: Bei jeder Untersuchung oder Behandlung stellt sich die Frage, ob das für einen betroffenen alten Menschen einen Sinn ergibt. Kollegen von mir gehen zum Beispiel an die Universität und studieren als reguläre Studenten Geschichte oder Philosophie. Das hat für mich zu wenig Sinn. Schlussendlich habe ich mir gedacht, am besten mache ich doch das, was ich gerne mache und am besten kann. Das ist mir teilweise gelungen.
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Aufbau eines Hospizes in St. Gallen unterstützen würde. Die Art und Weise, wie die Pflegenden das Problem angegangen sind, hat mich fasziniert: Aus meiner Wahrnehmung führen Probleme, die im Zusammenhang mit der Arbeit auftreten, oft dazu, dass die Angestellten anfangen, sich zu beschweren oder zu meckern. Diese Pflegenden hatten mehrere Probleme bei ihrer Arbeit identifiziert, die zunächst zur Idee und anschliessend zur Entwicklung und zum Aufbau des Hospizes geführt haben, das im Februar dieses Jahres eröffnet wurde. Ich bin voll überzeugt von diesem Projekt, das ich von Anfang an mit meinem Namen und meiner Expertise unterstützt habe und das heute von einem Verein geführt wird, dessen Präsident ich bin.
Womit beschäftigen Sie sich jetzt? Hürny: Ich habe gesagt, dass ich das mache, was ich gerne tue und gut kann. Von meinem Mentor, Prof. Dr. med. em. Rolf Adler, ehemals Chefarzt der medizinischen Abteilung «Lory» am Inselspital, wurde ich in Gesprächsführung ausgebildet. Das Gespräch ist für jemanden wie mich, der eine biopsychosoziale Sichtweise hat, das Grundinstrument, um in Erfahrung zu bringen, wo die Probleme eines Patienten liegen. Seit mehr als 40 Jahren gebe ich im Wintersemester an der Universität Bern einen Studentenkurs in Gesprächsführung. Das mache ich sehr gerne, und ich habe das Gefühl, dass die Studenten das sehr schätzen und dass es ihnen etwas bringt.
Meine Aufgabe ist es zu zeigen, wie es in der knappen Zeit gelingt, den Menschen zu erfassen, mit dem man es zu tun hat, und ihn auch entsprechend zu beraten. Ich versuche, dem Unspektakulären etwas mehr Raum zu geben.
Die ersten zwei bis drei Jahre nach meiner Pensionierung war ich weiterhin am Kommunikationskurs «Überbringen schlechter Nachrichten» für angehende Onkologen beteiligt. Ich habe diesen Kurs, der heute für den Erwerb des Facharzttitels obligatorisch ist, mit entwickelt, das Teaching aber nun an einen jüngeren Kollegen abgegeben. Seit fünf Jahren führen wir auf verschiedenen Abteilungen des Kantonsspitals St. Gallen, darunter auf der Orthopädie, der ORL, der Urologie und der Allgemeinen Inneren Medizin, das sogenannte «Senior Teaching» durch. Dieses besteht aus Einzelsupervisionen der Assistenten bezüglich Gesprächsführung durch pensionierte Ärzte. Im Moment mache ich mit den Assistenten auf der Onkologie 2- bis 3-mal monatlich eine Supervision. Das wird sehr geschätzt. Viel Zeit nimmt zudem das Hospiz in Anspruch. Um den Zeitpunkt meiner Pensionierung sind drei Pflegefachleute auf mich zugekommen und haben mich gefragt, ob ich sie beim
Sie haben in einem Beitrag im «St. Galler Tagblatt» gesagt, dass Sie sich in Ihrer Laufbahn immer mit dem «Unspektakulären» beschäftigt haben. Wie haben Sie das gemeint? Hürny: Verglichen mit den teilweise grandiosen Fortschritten, die heute in der Medizin gemacht werden, sind Dinge wie das Gespräch, die mir wichtig sind, relativ unspektakulär geworden. Spektakulär ist zum Beispiel, wenn man mit einem Ballonkatheter aus der Peripherie eine Aortenklappe ersetzen kann oder dass heute die Möglichkeit besteht, sehr bösartige Tumoren, wie zum Beispiel Lymphome, zu heilen. Das ärztliche Gespräch wäre eigentlich auch etwas Spektakuläres. Vom amerikanischen Psychiater und Psychoanalytiker Ralph Greenson stammt die Aussage: «Das ärztliche Gespräch, die unmögliche Aufgabe.» Er hat das ärztliche Gespräch als etwas ganz Schwieriges betrachtet, weil man sich in den Patienten einfühlen und dennoch die Probleme auf sachlicher Ebene diskutieren muss. Medizinische Fortschritte und eine immer ausführlichere Dokumentation nehmen heute viel mehr Raum in der Arbeit der Assistenten ein. Auf der Onkologie beispielsweise sind die Assistenten mit den komplexen neuen Therapien gegen Krebserkrankungen derart beansprucht, dass weniger Zeit für das Patientengespräch bleibt. Als Beispiel kommen am Nachmittag im Durchschnitt sechs Patienten in die Lungenkrebs-Sprechstunde. Die Betroffenen sind von ihrer Persönlichkeit und ihrer psychosozialen Situation her total verschieden, aber das fällt dem Assistenten meist nicht auf, weil er mit der medizinischen Situation, wie dem CT-Befund, Labor und der Therapieverordnung, vollauf beschäftigt ist. Meine Aufgabe ist es zu zeigen, wie es in der knappen Zeit gelingt, den Menschen zu erfassen, mit dem man es zu tun hat, und ihn auch entsprechend zu beraten. Ich versuche, dem Unspektakulären etwas mehr Raum zu geben.
Halten Sie die Regelung, mit 65 Jahren in Pension zu gehen, für sinnvoll, respektive welche Regelung hätte Ihren Bedürfnissen entsprochen? Hürny: Es gibt ja heute noch nicht die Möglichkeit, einfach weiterzumachen, und das hat aus meiner Sicht gute und schlechte Seiten. In meiner Studentenzeit blieben die Chefs, bis sie 70 bis 75 Jahre alt waren, an der Klinik und haben aus damaliger Sicht alles etwas verstopft. Ich habe das Gefühl, man sollte weiterarbeiten können, aber vielleicht nicht als Klinikchef, sondern in einer Stabsstelle, zum Beispiel in der Studentenbetreuung oder Forschung oder einem anderen Bereich, der einen interessiert. Niedergelassene Ärzte können es sich so einrichten, dass sie langsam auf-
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hören. Ich nehme an, das fällt weniger schwer. Als Angestellter in einem öffentlichen Spital ist man plötzlich einfach draussen: Das ist wie ein Bruch.
In der Adoleszenz begibt man sich ins Leben hinaus und muss schauen, wie man zurechtkommt, und mit der Pensionierung muss man sich wieder zurückziehen.
Was bedeutet die Pensionierung für den Alltag? Hürny: Die Anpassung an das «Pensioniertsein» erfordert einen grösseren Aufwand – jedenfalls für mich. Es ist wie eine umgekehrte Adoleszenz. In der Adoleszenz begibt man sich ins Leben hinaus und muss schauen, wie man zurechtkommt, und mit der Pensionierung muss man sich wieder zurückziehen. Das beeinflusst auch den Selbstwert. Viele von uns definieren sich über die Arbeit. Man hat noch viel Energie und Mumm und ist trotzdem gezwungen, sich aus diesem «Beteiligtsein» zurückzuziehen. Die Folge davon ist der Bedeutungsverlust: Wenn man Chefarzt ist, dann kennen und schätzen einen die Leute im Spital und in der Stadt. Das bestätigt einen in dem Gefühl, etwas Sinnvolles zu machen und etwas wert zu sein. Mit dem Ende der Arbeit fällt zudem die Tagesstruktur weg, was unter anderem Konsequenzen für die Partnerschaft hat. Die Rollen müssen angepasst werden, und man muss sich selbst wieder eine Struktur schaffen. Neulich habe ich einen Kollegen in Bern getroffen, der vor Kurzem pensioniert wurde. Als ich ihn gefragt habe, wie es
ihm geht, hat er geantwortet: «Es geht, ich bin jetzt im 1. Lehrjahr.» Über mich kann ich sagen: Ich habe die Meisterprüfung noch nicht bestanden, aber es lebt sich gut so. Ein Lichtblick des Pensioniertseins ist, dass ich mir die Zeit so einrichten kann, wie es mir passt. Früher war ich mindestens von morgens um 7.30 Uhr bis abends um 8 Uhr im Spital. Heute habe ich viel mehr Freiheit. Diesen Sommer bin ich jeden Morgen mit dem Velo nach Trogen hinauf und anschliessend hinunter in die Badeanstalt «Drei Weieren» gefahren, um ausgedehnt zu schwimmen. Dafür hätte ich früher eine Woche frei nehmen müssen. Etwas ganz Wichtiges habe ich noch vergessen: Seit zwei Jahren haben wir einen Enkelsohn, und ich bin sehr froh darüber, dass wir viel Zeit miteinander haben. Ich empfinde das als etwas ganz Besonderes, fast wie das Dessert vom Leben.
Mit dem Ende der Arbeit fällt zudem die Tagesstruktur weg, was unter anderem Konsequenzen für die Partnerschaft hat. Die Rollen müssen angepasst werden, und man muss sich selbst wieder eine Struktur schaffen.
Welchen Rat können Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben, die demnächst in den Ruhestand gehen? Hürny: Während meiner Arbeit habe ich verschiedene Vorbereitungskurse für Angestellte vor der Pensionierung gegeben. Aber es ist natürlich viel einfacher, den anderen zu sagen, wie man es machen muss, als selbst in der Situation zu sein. Jetzt, wo ich die Pensionierung selbst durchgestanden habe, finde ich es schwierig, anderen einen Rat zu geben, weil ich erfahren habe, dass der Prozess individuell sehr verschieden ist. Es reicht sicher meist nicht, wenn man sich sagt, jetzt werde ich pensioniert, und dann schaue ich mal weiter. Man muss sich im Klaren darüber sein, dass sich durch den Wegfall der Arbeit vieles verändert und dass es einer grösseren Anpassungsleistung bedarf, sich das Leben neu einzurichten.
Was für eine Rolle spielt heute noch Ihr berufliches Netzwerk?
Hürny: Sven Kuntze, ein Journalist und Fernsehmoderator,
hat mal geschrieben: «Geh nicht zurück an deinen Arbeits-
platz, du störst.» Da ist viel Wahres dran. Ich habe immer
noch ein Büro in der Geriatrischen Klinik St. Gallen und
spiele in der hauseigenen Fussballmannschaft. Hie und da
habe ich lockere Kontakte zu den früheren Mitarbeitern. Ein-
zelne davon sind schon vor der Pensionierung Freunde ge-
worden. Ab und zu berichtet mir mein Nachfolger, wie sich
die Institution entwickelt. Ich habe aber eine wohltuende
Distanz dazu erworben. Mein berufliches Netz hat sich durch
die Arbeit für das Hospiz und die Gesprächsführungssuper-
visionen weiter entwickelt und neu formiert.
L
Das Interview führte Regina Scharf.
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