Transkript
STUDIE REFERIERT
Chronische nicht krebsbedingte Schmerzen
Cannabis und Cannabinoide eher wenig wirksam
Unter chronischen nicht krebsbedingten Schmerzen (chronic non-cancer pain, CNCP) werden ganz un-
terschiedliche Krankheitsbilder wie neuropathischer Schmerz, Fibromyalgie oder Spasmen bei Multi-
pler Sklerose zusammengefasst. Zu ihrer Behandlung mit Cannabinoiden gibt es etliche, zumeist aber
sehr kleine Studien. Ein systematischer Review hat diese gesichtet.
Pain
Mit der Änderung gesetzlicher Vorgaben ist das Interesse an medizinischen Verwendungen von Hanfwirkstoffen und -präparaten in den USA und auch in Europa stark gestiegen. Ein Indikationsgebiet ist die Behandlung von CNCP. Die vorliegende Übersicht hat erstmals gemeinsam alle Daten zu Studien bei CNCP mit Hanfprodukten (Cannabis) und mit Hanfwirkstoffen (Cannabinoiden) zusammengetragen.
Grosse Vielfalt an Wirkstoffen
Die Autoren sammelten zunächst alle bisherigen Reviews (und die darin berücksichtigten Studien) und erstellten darüber hinaus vier systematische Reviews zu den spezifischen Schmerzzuständen neuropathischer Schmerz, Fibromyalgie, Arthritis sowie gemischte Gruppen von CNCP. In den erfassten Studien wurden Tetrahydrocannabinol (THC), Cannabidiol, die Kombination von THC und Cannabidiol, ferner pflanzlicher Cannabis (C. sativa L.) sowie andere Cannabinoide (z.B. THCSäure, Cannabidivarin, Nabilon, Dronabinol) geprüft. Für die Übersicht wurden randomisierte, kontrollierte Studien (RCT) berücksichtigt, darüber hinaus aber auch nicht randomisierte, quasi experimentelle, beobachtende und retrospektive Untersuchungen. Insgesamt wurden für den Review 91 Publikationen über 104 Studien mit 9958 Patienten verwendet – 47 waren RCT und 57 Beobachtungsstudien; 48 Studien betrafen neuropathischen Schmerz, 7 Studien Fibromyalgie, eine die rheumatoide Arthritis sowie 48 Studien andere CNCP, zum Beispiel durch Spasmen bedingte chronische Schmerzen bei Multipler Sklerose (MS).
Hohe NNT
In den RCT betrugen die gepoolten Ereignisraten für eine 30-Prozent-Schmerz-
reduktion 29 Prozent für Cannabinoide und 25,9 Prozent für Plazebo. Für Cannabinoide wurde ein signifikanter Effekt gefunden, mit einer «number needed to treat» (NNT) von 24 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 15–61). Für eine 50-Prozent-Schmerzreduktion war der Unterschied zu Plazebo hingegen nicht signifikant. Die gepoolte Veränderung bei der Schmerzintensität entsprach einer Abnahme von 3 mm auf einer 100-mm-Visuellen-Analogskala im Vergleich zu Plazebo.
Niedrige NNTH
In den RCT betrugen die gepoolten Ereignisraten für Nebenwirkungen aller Art 81,2 Prozent für Cannabinoide und 66,2 Prozent für Plazebo, entsprechend einer «number needed to harm» (NNTH) von 6 (95%-KI: 5–8). Es ergaben sich keine signifikanten Auswirkungen bei körperlichen und emotionalen Funktionen und eine Evidenz geringer Qualität für verbesserten Schlaf und für die Gesamteinschätzung durch die Patienten.
Beste Evidenz bei Multipler Sklerose
Die Evidenz für eine Effektivität von Cannabinoiden bei CNCP ist insgesamt beschränkt. Dies liegt einerseits an den oft sehr kleinen Teilnehmerzahlen in den Studien, die erfahrungsgemäss eher zu einer Überschätzung der Effektgrössen führen. Andererseits waren die Studiendauern mit median acht Wochen sehr kurz, was angesichts der chronischen Natur von CNCP kaum Rückschlüsse auf den langfristigen Nutzen erlaubt. Ungeklärt bleibt auch, ob es im Zeitverlauf zu einer Wirkungsabnahme der Cannabinoide kommt und ob Toleranzentwicklungen, iatrogene Abhängigkeit und Entzugssymptome Probleme bereiten könnten. Das am häufigsten studierte Cannabinoid war Nabiximols, eine Pflanzenex-
traktmischung aus den Blättern und Blüten der Hanfpflanze (in der Schweiz als Sativex® Mundspray zur Therapie schmerzhafter Muskelspasmen bei MS zugelassen). Im Vergleich zu anderen Cannabinoiden bestand das höchste Ausmass an Evidenz hoher Qualität für Nabiximols. Die Autoren kommen zu folgenden Schlussfolgerungen: Es erscheint als unwahrscheinlich, dass Cannabinoide bei CNCP hoch effektive Medikamente sind. Ebenso wenig wahrscheinlich ist, dass Cannabinoide eine Monotherapie für CNCP sind. Es gibt jedoch Evidenz mittlerer und hoher Qualität, die den Einsatz von Nabiximols zur Erzielung mässiger Schmerzreduktionen in der ergänzenden Therapie der MS stützen. Allerdings waren in den gepoolten Daten die geschätzten NNT hoch und die NNTH niedrig, was zu häufigen Behandlungsabbrüchen wegen unerwünschter Wirkungen führte. Daneben ergab der Review minimale Evidenz für eine Effektivität von Cannabinoiden in weiteren Bereichen, die für Patienten mit CNCP bedeutsam sind, beispielsweise körperliche und emotionale Funktionsfähigkeit. Da Patienten mit chronischen Schmerzen oft komplexe Komorbiditäten aufweisen, ist eine multidisziplinäre Therapie unter Berücksichtigung von körperlichen und psychologischen Behandlungsansätzen aussichtsreicher als ein nur auf Medikamenten basierendes Konzept. HB s
Quelle: Stockings E et al.: Cannabis and cannabinoids for the treatment of people with chronic noncancer pain conditions: a systematic review and meta-analysis of controlled and observational studies. Pain 2018: 159: 1932–1954.
Interessenlage: Einige Autoren der referierten Originalarbeit deklarieren finanzielle Unterstützung bei Forschungsvorhaben durch Pharmafirmen mit Interessen auf dem Gebiet der Schmerztherapie.
46 ARS MEDICI 1+2 | 2019