Transkript
INTERVIEW
In öffentlichen Institutionen muss man jüngeren Kollegen Platz machen
Interview mit Dr. med. Brigitte Muff, ehemalige Chefärztin Spital Bülach
Brigitte Muff hatte genug vom Wandel an ihrem Arbeitsort, dem Spital Bülach, und hat vier Jahre vor dem ordentlichen Ruhestand ihren Kittel an den Haken gehängt. Für Abwechslung von ihrem Zürcher Alltag sorgen heute humanitäre Einsätze für Hilfsorganisationen. Die Pensionierung hat nur Vorteile, findet sie.
Frau Dr. Muff, wie geht es Ihnen heute, etwa 2½ Jahre nachdem Sie dem Spital Bülach den Rücken gekehrt haben? Dr. Brigitte Muff: Super! Ich muss ehrlich sagen, dass ich niemanden aus meiner Generation kenne, dem es nicht gut geht seit der Pensionierung. Wenn ich die Zeit jetzt mit all dem, was ich vorher gemacht und erlebt habe, vergleiche, kommt es mir vor, als habe die Pensionierung nur Vorteile. Und wenn man etwas flexibel ist und auch ein bisschen was aushalten kann, findet man sicher eine neue Aufgabe. Es gibt viele spannende Sachen.
Zur Person
Geboren 1955 in Affoltern am Albis. Studierte an der Universität Zürich. Von 2005 bis 2015 Chefärztin der chirurgischen Klinik am Spital Bülach. Lebt mit ihrem Partner in Zürich, 2 Töchter.
Was haben Sie denn vorher alles gemacht? Muff: Neben meiner Arbeit als Chefärztin der Klinik für Chirurgie am Spital Bülach habe ich relativ viel standespolitisch gearbeitet, nebenbei eine Non-Profit-Management-Ausbildung gemacht, und ich hatte Familie. Ich stamme aus einer Generation, die die Einführung des Arbeitszeitgesetzes miterlebt hat. Durch die Umstellung von einer 100-StundenWoche auf annehmbare Arbeitszeiten oder eine Teilzeitbeschäftigung, wie ich sie hatte, wurde es überhaupt erst möglich, dass man neben seiner Arbeit Familie haben konnte und Zeit hatte für andere Dinge. Die ganze Standespolitik konnte ich in der Freizeit machen, weil ich überwiegend teilzeitbeschäftigt war, mit einem Pensum von 80 bis 90 Prozent. Eine 90-prozentige Anstellung bedeutete, dass man über das Jahr gesehen 22 zusätzliche Tage freihatte, das hat einem viel Frei-
heit gegeben. Wir in Bülach sind Anfang der 90er-Jahre Pioniere gewesen, was die Teilzeitarbeit in Kaderstellen betraf, und damit bei vielen Chirurgen auf massive Opposition gestossen.
Wie sieht Ihr Alltag heute aus? Muff: Das kommt ein bisschen darauf an, wo ich mich aufhalte. Hier in Zürich habe ich eigentlich einen ganz normalen Alltag. Im Moment ist meine Tochter aus Paris zu Besuch, sodass ich wenn möglich Zeit mit ihr verbringe. Meine Pflegetochter kommt demnächst ebenfalls nach Zürich. Kürzlich habe ich zusammen mit einer Freundin an einem Kraulkurs teilgenommen. Standespolitisch bin ich in der Ärztekammer, in der Medizinalberufekommission und im Ehrenrat der Ärztegesellschaft des Kantons Zürich aktiv. Neuerdings engagiere ich mich auch im Café Med. Daneben habe ich drei Missionen in Afrika gemacht: mit Médecins Sans Frontières (MSF) in Kamerun und mit den German Doctors in Sierra Leone. MSF ist chirurgisch sehr spannend, die Einsätze finden aber immer an heiklen Orten
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ausgesucht und habe die Zusammenarbeit mit ihnen «schampar» geschätzt. Aber ich hatte genug vom Wandel. Sukzessive bin ich an einem Punkt angekommen, an dem ich gefunden habe, dass ich diesen Job nicht mehr verantwortungsvoll ausüben könnte, falls ich alleinige ärztliche Direktorin würde. Dazu kam, dass es einen Riesenunterschied macht, ob ein Spital von einem CEO geführt wird, der Ökonom oder Jurist ist, oder von einer Person mit medizinischem Hintergrund. Für uns Mediziner steht die Qualität der medizinischen Betreuung im Vordergrund. Das bedeutet aber nicht, dass man die Ökonomie nicht auch im Fokus hat. Für Ökonomen oder Juristen stehen vor allem die Patientenzahlen und die Höhe des Case-Mix-Index im Vordergrund. Ich bin der Meinung, dass die Spitäler deshalb von Medizinern und nicht von Ökonomen geführt werden sollten.
Brigitte Muff mit Kollegen in Maroua, Kamerun
statt. Ich war drei Monate im Norden von Kamerun tätig. Da Boko Haram in diesem Gebiet aktiv ist, durften wir uns wegen der Entführungsgefahr nicht frei bewegen, das war hart! An und für sich würde ich nicht ungern weiter an Einsätzen für die Hilfsorganisation teilnehmen, aber meine Familie – vor allem meine Tochter – ist besorgt. Bei den German Doctors waren die chirurgischen Anforderungen nicht so hoch, Sierra Leone ist aber auch befriedet. Die Hilfseinsätze haben auch dazu geführt, dass ich mich in Kursen der Hilfsorganisationen weiterbilde.
Sie haben das Spital Bülach vorzeitig, vor dem Eintritt in den Ruhestand, verlassen. Wie kam es dazu? Muff: In Bülach war eine Umstrukturierung der Spitalleitung geplant. Zuvor gehörten zwei ärztliche Vertreter der Spitalleitung an: Ich habe die operativen Disziplinen vertreten und mein Kollege und Chefarzt für Innere Medizin die nicht operativen Fächer. Geplant war, dass zukünftig nur noch ein ärztlicher Vertreter in der Spitalleitung tätig sein sollte. Wir haben das beide abgelehnt, mit der Begründung, dass es nicht möglich ist, diese Stelle seriös auszuüben, wenn man daneben die Verantwortung für eine Klinik trägt und auch noch klinisch tätig ist. Natürlich hatte ich dabei die Unterstützung meiner leitenden Ärzte, und ich musste als Chefärztin auch nicht überall die Beste sein. Aber die Klinik war so aufgebaut, dass bei einem Teil der Viszeralchirurgie meine Fähigkeiten und mein Support erforderlich waren. In der Medizin ist es zudem häufig so, dass man seine Legitimation durch die klinische Tätigkeit erhält. Als ärztlicher Direktor wäre man die/der Vorgesetzte von sieben Chefärzten geworden – wenn man das Amt ernsthaft ausüben will, ist das mehr als ein Vollzeitjob. In der Zeit der Umstrukturierung bin ich gerade 60 Jahre alt geworden. Ich hatte keine schlechte Pensionskasse und konnte es mir erlauben aufzuhören.
Für jemanden, der seinen Beruf mit Leidenschaft ausgeübt hat, hört sich das sehr pragmatisch an. Muff: Ja, das war sehr pragmatisch. Natürlich habe ich an meiner Klinik gehangen. Ich habe die leitenden Ärzte selbst
War es keine Alternative für Sie zu sagen, ich kümmere mich bis zur Pensionierung ausschliesslich um meine Klinik? Muff: Das stimmt, und ich bin Stadtindianer genug, um das zu können. Das Problem ist, man beginnt dann, die Mitarbeiter mit hineinzuziehen, und diese kommen in einen Loyalitätskonflikt. Um das zu verhindern, hätte ich mich der Führung anpassen müssen. Ich hatte schon ganz früh in meiner Karriere den Wunsch, Chefärztin zu werden, um die Kultur zu bestimmen, in der ich arbeite. Gewisse Kompromisse kommen deshalb für mich nicht infrage. Zu kuschen war einfach keine Option.
Sie sind eine der wenigen Frauen, die eine chirurgische Klinik geführt haben. Heute sitzt in diesem Chefsessel ein Mann. Tut Ihnen das weh? Muff: Das ist mir relativ egal. Ich habe mich zwar immer gefreut, wenn sich Frauen beworben haben, aber bei so einem Posten ist für mich wesentlich, dass ihn jemand übernimmt, der seinen Job ernst nimmt und vergleichbare Wertvorstellungen hat wie ich. Es wäre schön, wenn sich mehr Frauen für eine solche Stelle engagieren würden, aber ich verstehe jeden, der im heutigen Setting nicht mehr mitmachen will. Meine Befürchtung ist allerdings, dass das gesellschaftliche Ansehen der Chirurgie bei der erwarteten Zunahme des Frauenanteils abnehmen wird. Und das obwohl gemäss Studien Frauen in der Chirurgie tiefere Komplikationsraten produzieren als Männer. Aber so funktioniert das gesellschaftliche System, und daran hat sich bei uns noch nicht viel geändert. Das heisst nicht, dass die Frauen nicht versuchen sollten, beruflich weiterzukommen. Aber es ist verständlich für mich, wenn jemand, der kein Mitbestimmungsrecht hat, nicht bereit ist, sich weiter zu engagieren. Heute würde ich wahrscheinlich nicht Chefärztin werden, sondern mir eine Stelle suchen, bei der ich mich dem System nicht unterwerfen muss.
Ich hatte schon ganz früh in meiner Karriere den Wunsch, Chefärztin zu werden, um die Kultur zu bestimmen, in der ich arbeite.
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Ich glaube, wenn man Medizinerinnen ernsthaft fördern will, benötigt man unter anderem 24-Stunden-Krippenplätze mit der Möglichkeit, das Kind auch dann abzugeben, wenn es krank ist. Ein solches Pilotprojekt ist an einem Arbeitsplatz wie einer Universität mit so vielen Mitarbeitern aus meiner Sicht längst fällig.
Es ist bekannt, dass immer mehr Frauen ein Medizinstudium absolvieren, aber nur wenige in Kaderpositionen ankommen. Sehen Sie, dass hier bereits ein Wandel stattfindet? Muff: In der Chirurgie gibt es nur wenige Frauen, die es in Kaderpositionen schaffen, und das nur dann, wenn sie sich super spezialisieren, beispielsweise in der Proktologie, der Schilddrüsenchirurgie oder auch in der Orthopädie. Chefärztin wird man dann aber nicht. Ich denke, in der Schweiz haben die Frauen immer noch zu wenig Support. In der Chirurgie gibt es so viele nette Gesten, um junge Kolleginnen zu fördern. Wenn man dann älter wird und der Konkurrenzdruck zunimmt, verändert sich das. Vieles, was gemacht wird, halte ich für Alibiübungen. Die Medizinerinnen, die ich kenne, arbeiten heute Teilzeit. Das führt dazu, dass anspruchsvolle Eingriffe selten oder gar nicht durchgeführt werden können, und es ist schlecht für die Kontinuität in der Patientenbetreuung. In meiner Zeit als Oberärztin in Bülach haben wir uns zu dritt zwei Vollzeitstellen geteilt. Wir waren teilzeitangestellt, haben aber monatsweise gearbeitet. Mein Prinzip war immer: Wenn man nach einer Operation an einen Kollegen übergeben muss, dann richtig. Orientiert man sich nicht daran, kann Teilzeit, abhängig davon, wie sie praktiziert wird, gefährlich sein. Ich glaube, wenn man Medizinerinnen ernsthaft fördern will, benötigt man unter anderem 24-Stunden-Krippenplätze mit der Möglichkeit, das Kind auch dann abzugeben, wenn es krank ist. Ein solches Pilotprojekt ist an einem Arbeitsplatz wie einer Universität mit so vielen Mitarbeitern aus meiner Sicht längst fällig.
Wartebereich für ambulante Patienten, Serabu, Sierra Leone
Andererseits habe ich festgestellt, dass viele Frauen keine Kaderposition wollen. In Bülach hatte ich eine sehr fähige Ärztin, die den Notfall geleitet hat und für deren Beförderung ich mich einsetzen wollte. Ein Mann wäre vermutlich auf das Angebot eingegangen, sie aber hat eine andere Stelle, wo sie wieder kurzfristig als Assistenzärztin tätig war, vorgezogen. Halten Sie die gesetzliche Regelung, dass man mit 65 Jahren aufhören muss zu arbeiten, noch für zeitgemäss?
Muff: Ich finde es gut, dass man den jüngeren Kollegen in den öffentlichen Institutionen Platz machen muss. Nicht gut finde ich, dass es nur wenige Möglichkeiten gibt, Personen über 65 Jahre ins Arbeitsleben zu integrieren, beispielsweise in der Lehre oder als Consultant. Diese Ressourcen zu nutzen hätte für alle Seiten Vorteile.
Nicht gut finde ich, dass es nur wenige Möglichkeiten gibt, Personen über 65 Jahre ins Arbeitsleben zu integrieren.
Wie haben Sie sich gefühlt, als der Zeitpunkt der Berentung näher gerückt ist? Muff: Super. Ich hatte eine Kündigungsfrist von sechs Monaten, aber weil ich noch so viele Frei- und Ferientage zur Verfügung hatte, konnte ich innerhalb von drei Monaten aufhören. Mir ging es danach überhaupt nicht schlecht. Ausserdem schlafe ich am Morgen gerne lange, was ab diesem Moment möglich war. Natürlich haben mir die sozialen Kontakte gefehlt, und ich gehe immer noch ab und an im Spital vorbei, um mit ehemaligen Kollegen einen Kaffee zu trinken.
Haben Sie sich frühzeitig Gedanken gemacht oder konkret geplant, womit Sie Ihre Zeit im Ruhestand verbringen? Muff: Nein, das habe ich nicht. Offenbar habe ich aber in einem Interview in der Fachzeitschrift «Swiss Knife» schon vier Jahre zuvor gesagt, ich würde gerne mal für ein Hilfswerk arbeiten. Das wusste ich gar nicht mehr. Nun sind zum Engagement bei MSF und den German Doctors noch andere Dinge dazugekommen.
Glauben Sie, dass es Frauen allgemein leichter fällt, den Übertritt ins Rentenalter zu meistern? Muff: Obwohl ich wahnsinnig gerne operiere, wenn ich in Afrika bin, muss ich auch nach 30 Jahren Chirurgie sagen, dass mir das Operieren nicht fehlt. Das überrascht mich selbst. Von anderen Kollegen, die jetzt pensioniert worden sind, weiss ich, dass sie ebenfalls kein Problem mit der neuen Situation haben. Der Verlust der Arbeit scheint weniger ein Problem zu sein als vielleicht der Statusverlust. Mir war die berufliche Position in repräsentativer Hinsicht nie wichtig, meine Klinik war auch nicht hierarchisch aufgebaut. Ich habe aber einige Personen erlebt, die Mühe damit hatten, dass sie nach der Pensionierung nicht mehr das Sagen haben. Mit dem Machtverlust können Frauen vermutlich besser umgehen. Vermutlich liegt das auch daran, dass Frauen nicht so auftreten, wie das Männer teilweise tun.
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in der Schweiz bekomme ich nicht mehr mit. Es gäbe ja zum Beispiel die Möglichkeit, als Vertretung in kleineren Spitälern zu arbeiten. Da ich in den letzten Jahren nicht in der Traumatologie gearbeitet habe, bin ich skeptisch, ob mir dazu nicht das Wissen fehlt. In Afrika ist das nie der limitierende Faktor, denn da geht es immer um Basischirurgie mit einfachen Mitteln. Dort ist man froh, dass man schon vor 30 Jahren gearbeitet hat und weiss, wie man mit den zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln umgehen kann.
Der Verlust der Arbeit scheint weniger ein Problem zu sein als vielleicht der Statusverlust.
Morgenrapport in Serabu, Sierra Leone
Viele Ihrer Kollegen wechseln, nachdem Sie das gesetzlich vorgeschriebene Rentenalter erreicht haben, in ein Privatspital oder in die Praxis. Was hat Sie daran gehindert? Muff: Aus Sicherheitsgründen habe ich meine Praxisbewilligung behalten. Manchmal weiss man ja nicht, was passiert. Abgesehen davon, dass es mir zu mühsam ist, mich neu akkreditieren zu lassen, wird es mit der Zeit auch heikel. Das Operieren funktioniert zwar nach einer längeren Pause und mit weniger Routine noch gut. Aber die aktuelle Entwicklung
Welchen Rat können Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen mit auf den Weg geben, die demnächst in den Ruhestand gehen? Muff: Schlichtweg keinen. Das ist sehr abhängig von der Person und davon, wie man das Leben schon immer gemeistert hat. Angenehm ist der Ruhestand, wenn man ihn sich leisten kann. Da das nicht bei jedem der Fall ist, glaube ich, dass es vor allen denen gut geht, die ihre Bedürfnisse herabschrauben und mit dem, was sie besitzen, zufrieden leben können. L
Das Interview führte Regina Scharf.
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