Transkript
©EPFL, Jamani Caillet
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Neurologie
Paraplegiker können wieder gehen
Über einen grossen Erfolg dürfen sich der Neurowissenschaftler Prof. Grégoire Courtine und sein Team an der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) sowie die Neurochirugin Prof. Jocelyne Bloch, CHUV, freuen: Drei Paraplegiker können dank ihrer Hilfe wieder gehen. Die drei Männer im Alter von 28, 35 und 47 Jahren hatten sechs bis acht Jahre zuvor eine Wirbelsäulenverletzung erlitten, die zu einer inkompletten Querschnittslähmung führte. Alle drei sassen seitdem im Rollstuhl, Gehen war für sie unmöglich. Den Patienten wurde ein Neurostimulator in der Lumbalregion implantiert, der mit 16 Elektroden unterschiedliche spinale Regionen stimulieren kann, die für unterschiedliche Bewegungen relevant sind. Bereits nach einem relativ kurzen Training konnten die drei Männer im Alter von 28, 35 und 47 Jahren mithilfe von Krücken
oder einem Rollator wieder gehen, auch ausserhalb des Labors und auf ebenen Wegen im Freien. Im Alltag bleibt der Rollstuhl noch das wichtigste Fortbewegungsmittel. Das Foto zeigt David Mzee, einen der drei Patienten. Bei der Steuerung der Bewegung mithilfe des Neurostimulators wirken mehrere Quellen zusammen: eine sprachgesteuerte Reglereinheit an einem Armband, Sensoren an den Füssen und nicht zuletzt die Gedanken des Patienten selbst. Je nach intendierter Bewegung schickt der Neurostimulator kurze elektrische Impulse mit hoher Frequenz an die relevanten spinalen Verschaltungen und ahmt damit die Signale nach, die für die Bewegung natürlicherweise vom Gehirn zu diesen Regionen fliessen würden. Gleichzeitig fliesst der Gedanke an die gewünschte Bewegung über den Umweg residueller, schla-
fender Nervenverbindungen in die gleiche
Region. Nach wenigen Tagen Training
kämen die Gedanken des Patienten und
die mittels der Stimulatorimpulse er-
höhte Erregbarkeit «mit der Präzision
eines Schweizer Uhrwerks» gleichzeitig
an den angesteuerten spinalen Nerven-
verschaltungen an, heisst es in einer Pres-
semitteilung von EFPL und CHUV. Dies er-
laube nicht nur eine natürlichere Bewe-
gung, als man sie etwa mit Exoskeletten
erreichen könne, sondern die Interaktion
zwischen elektrischen Impulsen und bio-
logischer Neuronenaktivierung durch die
Kraft der Gedanken könne gleichzeitig
auch das Wachstum neuer neuronaler
Verbindungen stimulieren. Tatsächlich
konnten die drei Patienten in Lausanne
nach einer gewissen Trainingszeit ihre
Beine in individuell unterschiedlichem
Mass auch dann wieder bewegen, wenn
der Neurostimulator ausgeschaltet war.
Dies ist ein grosser Unterschied zu anderen
Technologien, die in jüngster Zeit ebenfalls
für Paraplegiker entwickelt wurden, eine
Bewegung aber nur ermöglichen, solange
sie eingeschaltet sind.
RBO L
Wagner FB et al.: Targeted neurotechnology restores walking in humans with spinal cord injury. Nature 2018; 563: 65–71. Formento E et al.: Electrical spinal cord stimulation must preserve proprioception to enable locomotion in humans with spinal cord injury. Nature Neuroscience 2018, online first 31st Oct 2018.
Pressemitteilung von EPFL und CHUV am 31. Oktober 2018.
Prävention
Was bringt Büroarbeit im Stehen?
Wer im Büro arbeitet, verbringt durchschnittlich 70 bis 85 Prozent seiner Arbeitszeit im Sitzen, und in einem Drittel der Zeit steht man während mehr als einer halben Stunde nicht ein einziges Mal zwischendurch auf. Nun wurde in einer Studie in England überprüft, ob das Arbeiten an einem Stehpult etwas daran ändern kann. 37 Büros mit insgesamt 146 Angestellten, grösstenteils Frauen, nahmen teil. In 19 Büros (77 Teilnehmer)
wurden Stehpulte angeschafft, und die Angestellten wurden motiviert, das Arbeiten im Stehen in ihren Arbeitsalltag einzubauen. Bei den Teilnehmern in den anderen 18 Büros änderte sich nichts. Die tatsächlich im Sitzen oder in Bewegung verbrachte Zeit wurde mittels Schrittzählern und Sensorkissen auf den Bürostühlen ermittelt. Am Ende des 12-monatigen Programms verbrachten die Teilnehmer in der Inter-
ventionsgruppe bei der Arbeit im Durch-
schnitt 83 Minuten weniger im Sitzen
(95%-Konfidenzintervall: −116,57 bis −49,98;
p = 0,001) als die Teilnehmer der Kon-
trollgruppe. Der Unterschied zeigte sich
bereits nach drei Monaten, statistische
Signifikanz erreichte er aber erst später.
Auch diverse Lebens- und Arbeitsquali-
tätsparameter waren in der Gruppe mit
den Stehpulten besser, sie schlugen sich
aber nicht in weniger Krankmeldungen
nieder.
RBO L
Edwardson CL et al.: Effectiveness of the Stand More AT (SMArT) Work intervention: cluster randomised controlled trial. BMJ 2018; 363:k3870.
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ARS MEDICI 22 | 2018
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Kardiologie
Alle 20 Minuten 7 Minuten Bewegung
Viele Herzpatienten verbringen den grössten Teil des Tages sitzend oder liegend. Die in einigen Fällen möglicherweise als «Schonung» gut gemeinte Sparsamkeit bei der Bewegung sei jedoch alles andere als gut für die Gesundheit, heisst es in einer Pressemitteilung der European Society of Cardiology (ESC). Man wisse aus früheren Untersuchungen, dass zu wenig Bewegung das Leben verkürzen könne. Bewegung zwischendurch könne das Risiko hingegen senken, insbesondere dann, wenn dabei pro Tag mehr als 770 kcal verbrannt würden. Doch wie viel Zeit braucht man dafür? «Alle 20 Minuten aufstehen und dann für 7 Minuten leichte körperliche Aktivität», sagt Dr. Ailar Ramadi, Postdoc an der Abteilung für Rehabilitationsmedizin an der Universität von Alberta in Edmonton, Kanada. In ihrer Studie
wurden 132 Patienten mit KHK und einem
Durchschnittsalter von 63 Jahren eingeschlos-
sen. Die Probanden trugen 5 Tage lang ein Arm-
band zur Messung der körperlichen Aktivität.
Um auf den gewünschten zusätzlichen Kalo-
rienverbrauch zu kommen, waren pro Stunde
dreimal 7 Minuten leichte Bewegung nötig. Bei
angenommenen 8 Stunden Schlaf wären das
pro Tag zirka 4 Stunden und pro Woche 28 Stun-
den leichte Bewegung im Alltag.
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Ramadi A et al.: 064 – Relationship between breaks in sedentary behaviour and free living physical activity energy expenditure in individuals with coronary artery disease. ePoster Canadian Cardiovascular Congress (CCC), 20. bis 23. Oktober, Toronto
Pressemitteilung der European Society of Cardiology, 20. Oktober 2018.
Harnwegsinfekte
Viel trinken hilft wirklich
In der Regel rät man Patienten, die häufig unter Blasenentzündungen leiden, viel zu trinken, um die Bakterien «auszuschwemmen». Es wurde aber noch nie in einer randomisierten Studie nachgeprüft, ob das tatsächlich etwas bringt. Das hat sich nun geändert. An der in Bulgarien durchgeführten Studie nahmen 140 jüngere Frauen teil. Sie waren anfällig für Blasenentzündungen (mindestens 3 Zystididen im Jahr zuvor), im Durchschnitt Mitte 30, sexuell aktiv, alle noch nicht in der Menopause – und sie tranken vor der Studie in der Regel weniger als 1,5 Liter pro Tag. Die Studie dauerte ein Jahr. In dieser Zeit änderten die Frauen in der Kontrollgruppe nichts an ihrer üblichen Trinkmenge. Die andere Hälfte der Teilnehmerinnen sollte zusätzlich 1,5 Liter Wasser pro Tag trinken. Dafür erhielten sie pro Tag 3 Flaschen Mineralwasser à 500 ml mit der Massgabe, jeweils eine davon zu den Mahlzeiten zu trinken. Offen-
bar machten sie das auch tatsächlich, denn am
Ende der Studie war ihr tägliches Urinvolumen
im Durchschnitt gestiegen und die Osmolalität
ihres Urins gesunken.
In der Wassergruppe betrug die mittlere Anzahl
an Zystididen 1,7, mit einem 95-Prozent Konfi-
denzintervall von 1,5 bis 1,8 Episoden. In der
Kontrollgruppe waren es deutlich mehr, näm-
lich 3,2 Episoden (95%-Konfidenzintervall: 3,0 –
3,4). Der Unterschied war statistisch signifi-
kant. Insgesamt verzeichnete man in den 12 Stu-
dienmonaten 216 Zystitiden in der Kontroll- und
111 in der Wassergruppe. Reichlich Flüssigkeit
schützt also jüngere, dafür anfällige Frauen tat-
sächlich vor Blasenentzündungen.
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Hooton TM et al.: Effect of increased daily water intake in premenopausal women with recurrent urinary tract infections: A randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2018, online first 1st Oct 2018.
Rückspiegel
Vor 10 Jahren
Büstenhalterdemo in Bern
1500 Büstenhalter zieren, an langen Wäscheleinen aufgehängt, den Bundesplatz in Bern. Sie stehen symbolisch für 1500 Frauen, die im Vorjahr an Brustkrebs gestorben sind. Ziel der Aktion ist die schweizweite Einführung kantonaler Mammografieprogramme, nachdem ein solches Programm erstmals im Kanton St. Gallen eingeführt worden ist. Dabei werden alle Frauen ab 50 Jahre per Brief zur Mammografie eingeladen. In den folgenden Jahren führen weitere Kantone entsprechende Programme ein, einige haben sie aber bereits wieder beendet, weil sie deren tatsächlichen Nutzen bezweifeln.
Vor 50 Jahren
Adrenalin im Zerstäuber
Für Bienengiftallergiker, aber auch für Patienten mit anderen Allergien, wird zum Einsatz bei Anaphylaxie ein neuer Zerstäuber für Adrenalin empfohlen, der von einer Firma in Deutschland bezogen werden kann. Zweifellos die sicherste Therapie sei zwar die Injektion antiallergischer Mittel, heisst es in ARS MEDICI, diese sei jedoch «mit so grossen Inkonvenienzen verbunden, dass sie zweifellos so gut wie niemals befolgt wird».
Vor 100 Jahren
Wird’s ein Junge?
Auf die Frage, ob der Zeitpunkt der Ver-
schmelzung von Ei- und Samenzelle das Ge-
schlecht des Kindes bestimmen kann, gibt
Hugo Kramer, Wien, in ARS MEDICI eine
esoterisch anmutende Antwort. Demnach sei
die «energetische Potenz zwischen Sperma-
tozoen und Eichen» entscheidend, denn
«grundsätzlich ist jeder Teil bestrebt, sein
Geschlecht zu behaupten». Weil nun das
Spermium bereits viel Energie für den Weg zur
Eizelle, dem «Eichen» (gemeint ist das kleine
Ei, das «Ei-chen»), verpulvere, sei es seiner
Ansicht nach letztlich entscheidend, wie
lange die Eizelle bereits, eingebettet in die
Uterusschleimhaut, auf das Spermium warte.
Seien es bereits ein paar Tage, könne auch
«ein relativ schwacher Mann mit einem
kräftigen Weibe einen Knaben zeugen»,
schreibt Kramer.
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ARS MEDICI 22 | 2018