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BERICHT
Kleine und grössere Sensationen
Highlights vom europäischen Diabeteskongress
In Berlin haben sich am Jahreskongress der European Society for the Study of Diabetes (EASD) über 15 000 Delegierte aus mehr als 130 Ländern eingefunden. Aus dem umfangreichen Programm mit 1200 Vorträgen haben wir als Vorgeschmack auf die in einer der nächsten Ausgaben beigelegte «CongressSelection» ein paar Highlights für Sie herausgepickt. Wichtig ist zweifellos das neue Konsensuspapier der amerikanischen und europäischen Diabetesgesellschaft.
Neues Konsensuspapier zur Blutzuckersenkung
EASD und ADA (American Diabetes Association) haben sich
aufgrund der zahlreichen neuen Studiendaten vor allem zum
kardiovaskulären Outcome von verschiedenen Antidiabetika
auf ein neues Konsensuspapier geeinigt. Kernpunkt des
neuen Papiers ist nicht mehr nur die sichere Blutzucker-
senkung, sondern die gleichzeitige Berücksichtigung von
patientenrelevanten Umständen wie kardiovaskuläre oder
renale Komorbiditäten, Gewicht, Lebensumstände, Motiva-
tion und Kosten.
Jedem Patienten mit Typ-2-Diabetes soll eine Ernährungsbe-
ratung zugänglich gemacht werden. Vor allem übergewich-
tige Patienten sollen zu intensivem Lebensstilmanagement
angehalten werden, Teil davon ist eine Ernährungsumstel-
lung und Gewichtsreduktion. Bei Patienten mit BMI > 40
oder zwischen 35 und 39 mit erfolglosem Diätprogramm ist
eine bariatrische Chirurgie empfohlen.
Zur medikamentösen Behandlung empfiehlt das EASD/
ADA-Konsensuspapier weiterhin Metformin als Erstlinien-
medikament zur Blutzuckerkontrolle. Die weitere Kombina-
tion mit Antidiabetika bei Nichterreichen des HbA1c-Ziels
ist abhängig von Patientenpräferenzen und klinischen Gege-
benheiten wie etwa kardiovaskuläre Erkrankungen, Herz-
insuffizienz oder Nierenerkrankung sowie Adipositas. Bei
Vorliegen einer kardiovaskulären Erkrankung oder einer
chronischen Niereninsuffizienz ist die Verabreichung von
SGLT-2-Hemmern oder GLP-1-Rezeptoranaloga empfohlen.
Ohne diese Komorbiditäten kann zu Metformin entweder
ein DPP-4-Hemmer, GLP-1-RA, SGLT-2-Hemmer oder ein
Glitazon hinzukombiniert werden. Ist die Gewichtsproble-
matik vorherrschend, ist ein SGLT-2-Hemmer oder ein GLP-
1-RA als Metforminzusatz zu bevorzugen. Steht dagegen
die Kostenfrage im Vordergrund, sind als Metforminzusatz
Sulfonylharnstoffe oder Glitazone zur weiteren Blutzucker-
senkung empfohlen.
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1. Davies MJ et al.: Management of hyperglycaemia in type 2 diabetes, 2018. A consensus report by the American Diabetes Association (ADA) and the European Association for the Study of Diabetes (EASD). Diabetologia 2018 Oct 5; Epub ahead of print.
Quelle: «ADA/EASD Consensus Report», Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 2018, 1. bis 5. Oktober in Berlin.
Entwarnung für Canagliflozin: keine erhöhte Amputationsrate beobachtet
In der grössten retrospektiven Real-World-Studie,
OBSERVE-4D, mit über 700 000 amerikanischen Patienten
konnte der Verdacht ausgeräumt werden, wonach mit dem
SGLT-2-Hemmer Canagliflozin ein erhöhtes Amputationsri-
siko bei Typ-2-Diabetikern verbunden sei. Darin wurden
zwei Aspekte untersucht: 1. das Risiko von Amputationen
unterhalb des Knies unter Canagliflozin, anderen SGLT-2-
Hemmern und weiteren Antidiabetika sowie 2. die Hospita-
lisationsrate aufgrund von Herzinsuffizienz bei Patienten mit
und ohne kardiovaskuläre Erkrankungen (CVD). Die Patien-
tendaten stammen aus vier amerikanischen Datenbanken,
worunter sich über 140 000 Neuanwender von Canagliflozin
(> 40 000 mit CVD), über 110 000 Anwender von sonstigen
SGLT-2-Hemmern (> 30 000 mit CVD) und über 460 000
Anwender von anderen Antidiabetika (116 000 mit CVD)
befanden.
Das Hospitalisationsrisiko infolge Verschlechterung einer
Herzinsuffizienz war unter Canagliflozin gleich wie mit an-
deren SGLT-2-Hemmern, jedoch signifikant tiefer im Ver-
gleich mit Nicht-SGLT-2-Hemmer-Antidiabetika.
Das Amputationsrisiko unter Canagliflozin war weder im
Vergleich zu anderen SGLT-2-Hemmern signifikant erhöht
noch im Vergleich zu Nicht-SGLT-2-Hemmer-Antidiabetika.
Das galt auch für die Subgruppe mit CVD.
Damit zeigt Canagliflozin ein ähnliches Wirksamkeits- und
Sicherheitsprofil wie die anderen SGLT-2-Hemmer. Die Ein-
nahmedauer der Antidiabetika unterschied sich in den ver-
schiedenen Datenbanken, betrug jedoch weniger als 6 Mo-
nate. Damit kann über einen möglichen Langzeiteffekt keine
Aussage getroffen werden, so der Studienleiter Prof. Patrick
Ryan.
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1. Ryan PB et al.: Comparative effectiveness of canagliflozin, SGLT-2 inhibitors and non-SGLT-2 inhibitors on the risk of hospitalization for heart failure and amputation in patients with type 2 diabetes mellitus: A realworld meta-analysis of 4 observational databases (OBSERVE-4D). Diabetes Obes Metab 2018 Jun 25; Epub ahead of print.
Quelle: «Cases of type 1 diabetes diagnosed after the age of 30 are frequently not identified and may be misdiagnosed as type 2 diabetes», Abstract 301, Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 2018, 1. bis 5. Oktober in Berlin.
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Foto: vh
DPP-4-Hemmer Linagliptin sicher fürs Herz
Bei Typ-2-Diabetikern, bei denen eine HbA1c-Senkung mit Metformin allein nicht zu bewerkstelligen ist, bewirkt der Zusatz des DPP-4-Hemmers Linagliptin eine zuverlässige Blutzuckersenkung, ohne das kardiovaskuläre oder das renale Risiko zu erhöhen. Das zeigte die CARMELINA-Studie, die am EASD-Kongress vorgestellt wurde. Diese untersuchte die kardiovaskulären und renalen Langzeitwirkungen von Linagliptin versus Plazebo auf Typ-2-Diabetiker mit hohem Risiko für Herz- oder Nierenerkrankungen. Die multizentrische, doppelblind-randomisierte, kontrollierte Studie schloss 6979 Typ-2-Diabetiker mit hohem kardiovaskulärem Risiko ein. Die meisten von ihnen hatten auch eine Nierenerkrankung. Die Teilnehmer erhielten während 2,2 Jahren zusätzlich zur Standardtherapie Linagliptin einmal täglich 5 mg oder Plazebo. Als primärer Endpunkt waren kardiovaskulärer Tod, nicht tödlicher Herzinfarkt oder nicht tödlicher Hirnschlag (3-PMACE) definiert. Als zweiter Endpunkt galt das Erreichen einer chronischen Nierenerkrankung im Endstadium (ESKD), Tod infolge Nierenerkrankung oder ein anhaltender Abfall der geschätzten glomerulären Filtrationsrate (eGFR) um mehr als 40 Prozent im Vergleich zu den Ausgangswerten. Die Standardtherapie bestand hier aus Antidiabetika, Antihypertonika und Lipidsenkern. In der Linagliptingruppe traten nach 2,2 Jahren bei 12,4 Prozent der Patienten (n = 434) kardiovaskuläre Ereignisse ein, in der Plazebogruppe trat der primäre Endpunkt bei 12,1 Prozent der Teilnehmer (n = 420) ein. Ein ähnliches Bild zeigte sich im renalen Bereich. In der Linagliptingruppe erfuhren 9,4 Prozent (n = 327) eine Verschlechterung der Nierenfunktion, in der Plazebogruppe waren dies 8,8 Prozent (n = 306).
«Die Studienergebnisse zeigen, dass Linagliptin bei Patienten
mit kardiovaskulärer oder renaler Vorerkrankung bedenken-
los eingesetzt werden kann», erklärte der Studienleiter Bern-
hard Zinman, Mount Sinai Hospital Toronto (CAN), am
EASD-Kongress.
Weil sich in anderen Studien auch Auswirkungen von Anti-
diabetika auf die Herzinsuffizienz gezeigt hatten, galt ein
weiterer vordefinierter Endpunkt der Hospitalisation infolge
Verschlechterung der Herzinsuffizienz. Eine solche Hospita-
lisation wurde in der Linagliptingruppe bei 6 Prozent
(n = 206) nötig, in der Plazebogruppe etwa bei gleich vielen
Teilnehmern (6,5%; n = 226). Somit hat dieser DPP-4-Hem-
mer auch auf die Herzinsuffizienz keinen Einfluss.
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Quelle: «Cardiovascular and renal microvascular outcome study with linagliptin in patients with type 2 diabetes mellitus (CARMELINA)», Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 2018, 1. bis 5. Oktober in Berlin.
HARMONY: GLP-1-Rezeptoragonist Albiglutid reduziert kardiovaskuläre Ereignisse
Bei Patienten mit Typ-2-Diabetes und kardiovaskulärer Erkrankung reduziert der lang wirksame GLP-1-Rezeptoragonist (RA) Albiglutid im Vergleich zu Plazebo kardiovaskuläre Ereignisse signifikant. Das zeigte die in 28 Ländern durchgeführte, randomisierte und kontrollierte Nichtunterlegenheitsstudie HARMONY mit 9463 Teilnehmern. Diese erhielten einmal wöchentlich Albiglutid 30 oder 50 mg oder Plazebo. Primärer Endpunkt war die Nichtunterlegenheit bei erstem Auftreten von Myokardinfarkt, Hirnschlag oder kardiovaskulärem Tod nach 1,6 Jahren. Der primäre Endpunkt trat in der Albiglutidgruppe bei 7,1 Prozent der Patienten ein, in der Plazebogruppe bei 9 Prozent.
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Mit einer Reduktion von kardiovaskulären Ereignissen um
signifikante 22 Prozent ist Albiglutid der Plazebobehandlung
überlegen.
Die Anzahl akuter Pankreatitisfälle (10 bzw. 7), von Pankre-
askrebs (6 bzw. 5) oder von medullärem Schilddrüsenkarzi-
nom (0 bzw. 0) sowie anderen schweren Nebenwirkungen
unterschied sich nicht signifikant in den beiden Gruppen.
Vor dem Hintergrund, dass Typ-2-Diabetiker ein doppelt so
grosses Risiko für eine kardiovaskuläre Erkrankung haben
wie Patienten ohne Diabetes, steht für Typ-2-Diabetiker mit
Albiglutid eine weitere Option mit belegtem kardiovaskulä-
rem Schutz und akzeptablen Nebenwirkungen zur Verfü-
gung. Die Number needed to treat, um in 1,6 Jahren ein kar-
diovaskuläres Ereignis zu verhindern, liegt unter Albiglutid
bei 50, so der Studienleiter Prof. Stefano Del Prato, Depart-
ment of Clinical and Experimental Medicine, University of
Pisa (I). Die Studie wurde zeitgleich mit der Präsentation im
«Lancet» publiziert (1).
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Referenz: 1. Hernandez AF et al.: Albiglutide and cardiovascular outcomes in pati-
ents with type 2 diabetes and cardiovascular disease (Harmony Outcomes): a double-blind, randomised placebo-controlled trial. Lancet 2018 Oct 2; Epub ahead of print.
Quelle: «HARMONY Outcomes», Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 2018, 1. bis 5. Oktober in Berlin.
PIONEER: GLP-1-Rezeptoragonist als Tablette
Injizierbare Substanzen so zu formulieren, dass sie auch oral verabreicht wirken, galt als reinste Utopie. Doch diese ist Realität geworden und könnte schon bald verfügbar werden. Mit SNAC (Sodium-N-Amino-Acrylat) als Koformulierung für den GLP-1-Rezeptoragonisten Semaglutid ist eine beschleunigte transzelluläre Absorption durch den Magen gelungen, ohne dass das Peptid unwirksam wird. Pharmakokinetische Studien haben gemäss Prof. Daniel Drucker, Lunenfeld-Tanenbaum Reserach Insitute, Mount Sinai Hospital,
University of Toronto (CAN), zufriedenstellende Resultate
geliefert.
Die orale Formulierung wurde mittlerweile im PIONEER-
Phase-3-Studienprogramm getestet: in PIONEER-1 versus
Plazebo, in PIONEER-2 versus SGLT2-Hemmer, in
PIONEER-3 versus DPP-4-Hemmer, in PIONEER-4 versus
andere GLP-1-Rezeptoragonisten und in PIONEER-7 mit
flexibler Dosisanpassung versus DPP4-Hemmer. In allen Stu-
dien waren die HbA1c-Senkung als definierter primärer End-
punkt und die Gewichtsreduktion als sekundärer Endpunkt
unter einer Dosis von 14 mg Semaglutid stärker als bei den
Vergleichssubstanzen, wie Prof. Steve Bain, Swansea Univer-
sity Medical School, Swansea (GB), am EASD-Kongress be-
richtete.
In der PIONEER-5-Studie wird das orale Semaglutid bei
Patienten mit Nierenfunktionsstörung untersucht, in der
PIONEER-6-Studie auf kardiovaskuläre Langzeiteffekte und
in PIONEER-8 als Add-on zu Insulin versus Insulin allein.
Das ganze Studienprogramm umfasst 8845 Patienten mit neu
diagnostiziertem Typ-2-Diabetes.
Als bezüglich Blutzuckersenkung und Gewichtsreduktion
effektivste Dosis hat sich mit 1 x täglich 14 mg die stärkste
der drei untersuchten Dosierungen 3, 7, und 14 mg heraus-
kristallisiert. Zum Vergleich: Die s.c.-Dosierung beträgt
1 mg. Die von der s.c-Formulierung her bekannten gastro-
intestinalen Nebenwirkungen sind dosisabhängig und eben-
falls transient.
Auch wenn die Spritzen für die Patienten mit dieser Formu-
lierung eines Tages entfallen könnten, so sei zu beachten, dass
das orale Semaglutid morgens 30 Minuten vor dem Früh-
stück oder anderen Medikationen eingenommen werden
müsse.
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Quelle: «PIONEER Trial», Jahreskongress der European Association for the Study of Diabetes (EASD) 2018, 1. bis 5. Oktober in Berlin.
Valérie Herzog
BEKANNTMACHUNG
AGLA-Pocketguide Ernährung
Die Arbeitsgruppe Lipide und Atherosklerose (AGLA) hat ihren Pocketguide «Ernährung und kardiovaskuläre Prävention» in aktualisierter und erweiterter Ausgabe veröffentlicht. In der Broschüre werden Zusammenhänge zwischen Ernährung und kardiovaskulärem Risiko aufgezeigt und evidenzbasierte Ernährungsempfehlungen zur Primär- und Sekundärprävention der Atherosklerose beschrieben. Zusätzlich vermittelt der Pocketguide konkrete Empfehlungen für die Besonderheiten bei metabolischem Syndrom, arterieller Hypertonie, Diabetes mellitus Typ 2, Hyperlipidämie und tiefem HDL-Cholesterin. Ein eigenes Kapitel ist der Klassifikation, Prävention undTherapie der Adipositas gewidmet: Nebst den Gewichtsreduktionsprogrammen werden die neusten Entwicklungen und Erkenntnisse zur medikamentösen und bariatrischen Therapie beschrieben.
Die AGLA-Pocketguides basieren auf internationalen Richtlinien, welche für die Schweiz adaptiert werden. Die verantwortlichen Expertenkomitees arbeiten unentgeltlich, sind interdisziplinär aufgestellt und berücksichtigen die Erfahrungen aus Klinik und Praxis gleichermassen.
Der Pocketguide im praktischen Kitteltaschenformat ist auf Deutsch und Französisch verfügbar und kann bei der AGLA gegen einen Unkostenbeitrag von 6 Franken bestellt werden: https://www.agla.ch/empfehlungen/bestellservice
red
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