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Stellenwert der Sauerstofftherapie bei Lungenkrankheiten
FORTBILDUNG
Während die Gabe von Sauerstoff in Akut- und Notfallsituationen unumstritten ist, muss die Indikation bei einer ganzen Reihe von Erkrankungen gut überlegt sein. Die breite, ambulante Verfügbarkeit von Sauerstoffquellen hat auch zu fragwürdigen Anwendungen der Sauerstofftherapie geführt. Dieser Artikel fasst den sinnvollen Einsatz von Sauerstoff in der Behandlung pulmonaler Leiden zusammen.
Markus Solèr
Die Verabreichung von Sauerstoff, das heisst die Erhöhung der Sauerstoffkonzentration in der Atemluft von Patienten mit kardiopulmonalen Erkrankungen, hat eine lange Tradition. In Notfallsituationen und bei Akuterkrankungen, bei welchen die Sauerstoffaufnahme in der Lunge oder der Transport des Sauerstoffs in die Gewebe behindert ist, geht von der Gewebshypoxie eine grosse akute Gefahr aus, die durch die Gabe zusätzlichen Sauerstoffs gemindert werden kann. Solche kurzfristigen und zum Teil hoch dosierten Anwendungen von Sauerstoff, zum Beispiel in Reanimationssituationen, sind unbestritten sinnvoll und scheinen keinen unmittelbar negativen Effekt zu haben, vor allem im Vergleich zur Gefährdung durch die Hypoxie. Im Gegensatz dazu ist die hoch dosierte Anwendung von Sauerstoff bei der Beatmung in der Intensivmedizin schon nach wenigen Stunden mit schädlichen Auswirkungen auf das Lungenparenchym assoziiert. Auch für Sauerstoff gilt: Die Dosis macht das Gift! Aufgrund technischer Fortschritte und Entwicklungen stehen heute diverse Formen von Sauerstoffquellen verbreitet zur Verfügung und können auch für den Einsatz in der ambulanten Medizin und in der Langzeittherapie verschiedener Erkrankungen erwogen werden. Leider hat die niederschwellige Verfügbarkeit von Sauerstoff auch im ambulanten Setting zu teilweise unsinnigen, zumindest nicht objektiv als wirksam belegten Einsätzen geführt. Parallel dazu hat die
MERKSÄTZE
Auch für Sauerstoff gilt: Die Dosis macht das Gift!
Bei COPD ist ein Überlebensvorteil durch Langzeitsauerstofftherapie belegt, die Leistungsfähigkeit wird dadurch jedoch allenfalls minimal verbessert.
Der kurzfristig sichtbare symptomatische Effekt von Sauerstoff ist bei restriktiven, chronischen Lungenkrankheiten eindrücklicher als bei der COPD.
Sauerstoff ist, ausserhalb der Notfallsituation, keine Atemnottherapie!
breite Verfügbarkeit von Pulsoximetern in vielen Situationen die arterielle Hypoxämie erst sichtbar gemacht und ins Bewusstsein der Behandelnden gerufen.
Sauerstoff und chronisch obstruktive Lungenkrankheit (COPD)
Einen eigentlichen Durchbruch hat die Sauerstofftherapie in der Indikation der fortgeschrittenen, chronisch hypoxischen COPD geschafft, nachdem zwei grosse Sauerstofftherapiestudien in den 1970er-Jahren eine klinische Wirksamkeit der langfristigen, kontinuierlichen Sauerstoffsupplementation bei solchen Patienten belegen konnten. Der Nocturnal Oxygen Treatment Trial (NOTT) (1) und die entsprechende Studie des Medical Research Council (MRC) (2) in England belegten einen Überlebensvorteil und einen günstigen Effekt auf die Symptomatik respektive Lebensqualität bei niedrig dosierter, kontinuierlicher Sauerstoffgabe (2 l/min) über mehr als 16 Stunden pro Tag. Die Einschlusskriterien dieser beiden grossen Studien sind bis heute weitgehend die Indikationskriterien für die Verschreibung einer Langzeitsauerstofftherapie bei COPD geblieben: arterielle Sauerstoffspannung bei Zimmerluftatmung in Ruhe < 7,3 kPa (55 mmHg) unter stabilen Bedingungen, das heisst mehrere Wochen nach einer letzten Exazerbation und mit optimaler medikamentöser Behandlung! Zu betonen ist, dass der genaue Mechanismus der günstigen Wirkung auf das Überleben dieser Patienten nicht sicher geklärt ist. Am wahrscheinlichsten dürfte ihm eine günstige Beeinflussung des pulmonalen Gefässwiderstandes mittels Sauerstoffgabe (Euler-Liljestrand-Reflex) zugrunde liegen, welche die hypoxische pulmonale Vasokonstriktion vermindert oder verhindert und damit eine Entlastung des rechten Ventrikels bei gleichzeitig optimierter myokardialer Sauerstoffversorgung bewirkt (3). Weit weniger bedeutsam für die Begründung einer Langzeitsauerstofftherapie ist die (minimale) Änderung der Anstrengungstoleranz unter Sauerstofftherapie im Alltag. Bei Messungen im 6-Minuten-Gehtest gelingt es bei COPD-Patienten fast nie, eine klar verbesserte Leistung durch die zusätzliche Sauerstoffgabe zu dokumentieren! In dieser Hinsicht machen sich Arzt und Patient oft falsche Hoffnungen.
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Der Schritt zur Sauerstoffheimtherapie (wirksame Langzeittherapie heisst möglichst mehr als 16 Stunden pro Tag unter O2-Supplementation!) sollte gut überlegt und mit dem Patienten abgesprochen erfolgen. Viele Patienten möchten sich nicht in der Öffentlichkeit mit der Sauerstoffnasenbrille bewegen. Dies dürfte mit ein Grund für die in Studien recht mässige Compliance mit der Sauerstofftherapie sein. Zumindest zu Hause und vor allem während der Nacht muss dann die Sauerstoffbrille mit einer niedrigen Flussrate (1–2 l/min) unbedingt getragen werden, um einen Behandlungseffekt zu erreichen. Als einfachste und günstigste Sauerstoffquelle kommt heute der Sauerstoffkonzentrator zum Einsatz. Für gelegentliche O2-Zufuhr unterwegs kommen akkubetriebene, kleinere Konzentratoren infrage. Für sehr aktive Patienten, die sich immer wieder über längere Zeit ausserhalb der Wohnung aufhalten, bildet die Versorgung mit Flüssigsauerstoff die sinnvollste Lösung. Durch die Ermöglichung einer Sauerstoffzufuhr ausserhalb der Wohnung kann die Behandlungsdauer (Stunden pro Tag) erhöht werden, allerdings zum Preis einer öffentlichen Sichtbarkeit der Sauerstoffabhängigkeit. Auch hier gilt es, die Patienten zu beraten und die individuellen Präferenzen mitzuberücksichtigen. In der Akutphase einer COPD-Exazerbation wird der Sauerstoff heute sehr oft eingesetzt, was im Kliniksetting keinen grossen Aufwand bedeutet. Dabei soll mit möglichst geringen Sauerstoffmengen die Sättigung in einen Zielbereich von knapp über 92 Prozent in Ruhe angehoben werden. Zum Entlassungszeitpunkt ist die geforderte Stabilisierung der pulmonalen Funktion und Oxygenierung meist noch nicht erreicht. Es sollte die weitere Erholung unter optimaler inhalativer Therapie abgewartet und die arterielle Blutgasuntersuchung erst nach 6 bis 8 Wochen durchgeführt werden, um die Langzeitsauerstoffbedürftigkeit zu beurteilen. Im klinischen Alltag habe ich oft beobachtet, dass eine Sauerstoffheimtherapie bei Spitalentlassung nach COPDExazerbation verschrieben wurde. Bei der ambulanten Nachkontrolle nach zwei bis drei Monaten sind dann die Verschreibungslimiten oft nicht mehr erfüllt (in Studien bei 30 bis 60 Prozent der Patienten!), und der Sauerstoffkonzentrator oder die Flüssigsauerstofftherapie müsste wieder zurückgenommen werden. Dies ist oft nur gegen den Widerstand des Patienten möglich, der sich durch die Verfügbarkeit von Sauerstoff in falscher Sicherheit wiegt und diesen Entzug als Verschlechterung seiner Behandlung empfindet. Gegen eine Spitalentlassung mit Sauerstofftherapie ist nichts einzuwenden, wenn die Ruhehypoxämie bei Austritt noch vorliegt und wenn die Patienten auf die möglicherweise nur kurzfristige Sauerstoffbedürftigkeit aufmerksam gemacht werden. Eine Wirksamkeit der Sauerstoffsupplementation bei COPDPatienten mit nur leichter Hypoxämie, reiner Belastungshypoxämie oder rein nächtlicher Hypoxämie konnte bisher nicht nachgewiesen werden. Die grösste diesbezügliche Studie wurde erst 2016 im «New England Journal of Medicine» publiziert (4). Die Kosten und der Aufwand für die Langzeitsauerstofftherapie lassen sich also nur rechtfertigen, wenn eine mindestens mittelschwere Hypoxämie (arterielle Sauerstoffspannung unter 7,3 kPa bei ZL-Atmung in Ruhe) vorliegt!
Sauerstoff bei restriktiven Lungenkrankheiten
Bei Patienten mit chronischen, restriktiven Störungen ist zu unterscheiden zwischen Situationen mit ventilatorischer Insuffizienz, das heisst Hypoxie bei gleichzeitiger Hyperkapnie als Zeichen einer alveolären Hypoventilation (z.B. Atemmuskelprobleme, Kyphoskoliosen), und solchen mit einer schweren Gasaustauschstörung oder Diffusionsstörung als Ursache einer isolierten Hypoxie (z.B. Lungenfibrose). Die optimale Therapie der ventilatorischen Insuffizienz bei restriktiver Störung bildet sicher die Unterstützung der Atemmuskulatur durch eine nicht invasive, meist vor allem nächtliche (Masken-)Beatmung. Bei Patienten mit fortgeschrittener fibrosierender Lungenerkrankung mit Hypoxie ist dagegen die Sauerstoffsupplementation indiziert, um in Ruhe normale Sättigungswerte zu erreichen. Bei diesen Krankheiten wirkt sich der Sauerstoffmangel oft auch limitierend auf die Belastbarkeit im Alltag aus. Die Sauerstoffgabe auch während körperlicher Tätigkeiten kann die Leistungsfähigkeit und die Lebensqualität günstig beeinflussen. In der Regel ist also die Sauerstofftherapie nicht nur in Ruhe zur Normalisierung der Sauerstoffsättigung sinnvoll, sondern auch während körperlicher Aktivität. Dies führt, zusammen mit dem oft hohen und im Verlauf weiter ansteigenden Sauerstoffbedarf (2–6 l/min), in aller Regel zum Einsatz von Flüssigsauerstoff bei diesen Patienten. Die tragbaren Thermobehälter für Flüssigsauerstoff können für den ambulanten Einsatz am zu Hause stehenden, grossen Reservoir bedarfsweise aufgefüllt werden und erlauben eine gute Mobilität. Bei dieser Indikation existieren keine Langzeitstudien bezüglich Mortalität, dagegen ist hier der kurzfristig sichtbare symptomatische Effekt eindrücklicher als bei der COPD.
Sauerstoff bei Atemnot
Sauerstoff ist, ausserhalb der Notfallsituation, keine Atemnottherapie! Die Ursachen einer Dyspnoe, in Ruhe oder unter Belastung, sind vielfältig. Dabei ist der Mechanismus der Entstehung dieses subjektiven Gefühls bei den unterschiedlichen Erkrankungen nicht im Einzelnen geklärt. Gemäss einer weit verbreiteten und gut fundierten Entstehungshypothese korreliert das Atemnotsgefühl mit der Atemarbeit respektive indirekt mit den vorhandenen Steigerungsreserven der inspiratorischen Atemarbeit. Das physiologisch wichtigste Signal zur Steuerung der Ventilation ist der arterielle pH-Wert, der direkt von der arteriellen CO2-Konzentration abhängt. Ein leichter bis mässiger Abfall der arteriellen Sauerstoffkonzentration löst dagegen kaum ein Dyspnoegefühl aus. Bei Patienten mit obstruktiver Lungenerkrankung können vor allem die Reduktion des Bronchialwiderstandes und die Lungenentblähung die Atemarbeit reduzieren. Dies geschieht vor allem mit der inhalativen antiobstruktiven Therapie. Erreicht der Patient unter Belastung seine ventilatorische Limite, wird er wegen der überblähungsbedingten vermehrten Atemarbeit, aber auch wegen einer beginnenden oder verstärkten CO2-Rentention Dyspnoe verspüren. Eine pulsoximetrisch dokumentierbare Hypoxie liegt in diesen Situationen meist auch vor, doch deren Korrektur mittels Sauerstoffsupplementation verändert an der Symptomatik und Leitungsfähigkeit kaum etwas. Wird im klinischen Setting auf diese Situation mit Sauerstoffgabe reagiert, kann das zur
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unbegründeten Sauerstofffixierung auf Patientenseite führen. Die Bearbeitung der Atemtechnik (Lippenbremse) und die optimierte Inhalationstherapie sind hier sinnvoller. Die Studien, die eine Wirksamkeit der Sauerstofftherapie nur unter Belastung, bei reiner belastungsinduzierter Hypoxämie, zu dokumentieren versuchten, sind allesamt negativ ausgefallen.
Sauerstoff in der Palliativmedizin
Sauerstoff wird bei Palliativpatienten weit verbreitet zur Linderung von Atembeschwerden und Atemnot eingesetzt. Dieser Einsatz ist bei Hypoxie klar indiziert, zeitlich limitiert und sicherlich sinnvoll, auch vor dem Hintergrund der oft verwendeten atemdepressiv wirkenden Medikamente. Zu erwähnen ist aber eine Studie, in der Palliativpatienten mit Dyspnoe, aber ohne Hypoxämie randomisiert Druckluft oder Sauerstoff über die Nasenbrille verabreicht wurde und dabei kein Unterschied bezüglich Linderung der Dyspnoe nachweisbar war (5). Die kühlende Wirkung des Gasflusses auf die Nasenschleimhaut dürfte für den Palliativeffekt also ebenso wichtig sein wie die Normalisierung der arteriellen Sauerstoffsättigung. Selten wird Sauerstoff für akute Krisensituationen (oft stark psychisch überlagert) verschrieben. Auch wenn es dazu keine publizierten Daten gibt, kann eine beim Patienten zu Hause verfügbare Sauerstoffdruckflasche, die bei seltenen, akuten Dyspnoekrisen einer psychisch überlagerten Lungenkrankheit für jeweils kurze Zeiten zum Einsatz kommen kann, die Situation stabilisieren helfen und akute Notfallkonsultationen oder Hospitalisationen vermeiden.
Konklusion
Unser Organismus hat sich in der Evolution auf die atmo-
sphärische Sauerstoffkonzentration von 21 Prozent ange-
passt und optimiert. Mehr Sauerstoff in der Atemluft ist nicht
automatisch besser!
Medizinischer Sauerstoff ist ein Medikament, das eine klare
Indikation erfordert und in der richtigen Dosis (und Applika-
tionsform) verordnet werden muss! Die Kriterien der Wirk-
samkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit gilt es
auch hier zu berücksichtigen. Der optimalen Beratung der be-
troffenen Patienten, die für eine Sauerstofftherapie einigen
Aufwand auf sich nehmen müssen, ist dabei grösste Auf-
merksamkeit zu schenken.
L
Prof. Dr. med. Markus Solèr
E-Mail: msoler@bluewin.ch
Weiterführende Literatur: 1. Nocturnal Oxygen Therapy Trial Group: Continuous or nocturnal oxygen
therapy in hypoxemic chronic obstructive lung disease: a clinical trial. Ann Intern Med 1980; 93: 391–398. 2. Long term domiciliary oxygen therapy in chronic hypoxic cor pulmonale complicating chronic bronchitis and emphysema. Report of the Medical Research Council Working Party. Lancet 1981; 1: 681–686. 3. Lacasse Y et al: Home oxygen in chronic obstructive pulmonary disease (Review). Am J Respir Crit Care Med 2018; 197: 1254–1264. 4. The Long-Term Oxygen Treatment Trial Research Group: A randomized trial of long-term oxygen for COPD with moderate desaturation. N Engl J Med 2016; 375: 1617–1627. 5. Abernethy AP et al.: Effect of palliative oxygen versus medical (room) air in relieving breathlessness in patients with refractory dyspnea: a double-blind randomized controlled trial. Lancet 2010; 376: 784–793.
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