Transkript
FORTBILDUNG
Das «taube» Ohr
Ein Fall für «smarter medicine»
Inspiriert durch die «Smarter-medicine»-Bewegung, beschreiben wir einen Fall aus der hausärztlichen Sprechstunde, bei dem anhand der Anamnese und der körperlichen Untersuchung die Diagnose gestellt werden konnte. Wir unterstellen, dass einige Kollegen aus unterschiedlichen Gründen weitere Untersuchungen veranlasst hätten und zeigen die möglichen Konsequenzen auf. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen unbedingt weiter abgeklärt werden muss. Dies zu unterscheiden und unter Einbezug des Patienten zu entscheiden ist die ärztliche Kunst, die wir alle stetig verbessern sollten. Grundlagen für gute Entscheidungen sind unter anderem die Risikokompetenz von Ärzten und Patienten sowie die Risikokommunikation, was hier ebenfalls kurz dargestellt wird.
Caroline Wiedmer, Isabelle Fuss und Matthias Bischof
Der Fall
Eine 46-jährige Patientin stellt sich in der hausärztlichen Sprechstunde vor aufgrund eines Taubheitsgefühls im Bereich des rechten Ohrläppchens. Sie bemerkte dies erstmals auf dem Rückweg von den Sommerferien im Auto. In der Vorgeschichte ist eine Adipositas bekannt, welche neben Lifestyle-Massnahmen mit Dulaglutid (Trulicity®), einem GLP-(glucagon-like peptide-)1-Analogon, behandelt wurde. Die Patientin hatte darunter 6,4 kg an Gewicht verloren. Auf Nachfrage werden Kopfschmerzen sowie lokale Schmerzen, Schwindel, Fieber, Krankheitsgefühl oder weitere neurologische Ausfälle verneint. Die Patientin ist jedoch sehr beunruhigt, da sich das Taubheitsgefühl im Verlauf bis auf die Dorsalseite des gesamten äusseren Ohrs ausbreitete. Im klinischen Status ist die Inspektion unauffällig. Abgesehen vom lokal verminderten Berührungsempfinden im beschriebenen Areal ist der Neurostatus unauffällig. Eine Druckdolenz sowie eine Lymphadenopathie bestehen nicht, der übrige (hausärztliche) HNO-Status ist ebenfalls unauffällig.
188 der 549 Patienten wurden zur weiteren Abklärung überwiesen, wovon insgesamt 15 Patienten initial oder im Verlauf (meist aufgrund einer Grössenprogredienz) operiert wurden. Die Beobachtungszeit der übrigen Patienten betrug im Mittel 52 bis 60 Monate. Die Autoren der oben genannten Studie schlugen vor, die Guidelines der Meningeombehandlung zu überarbeiten und die Kontrollen zu reduzieren. Gemäss einer
Und nun?
Nun folgt der fiktive Teil der Geschichte: Die Patientin macht sich grosse Sorgen, da bei ihrem Arbeitskollegen kürzlich ein Hirntumor diagnostiziert wurde. Könnte es sich hier nicht um das erste Symptom handeln? Zur Sicherheit wird eine Magnetresonanztomografie-(MRT-)Untersuchung des Schädels angemeldet. Hier zeigt sich ein 14 mm grosses FalxMeningeom.
Mögliche Risiken nicht indizierter MRT-Schädeluntersuchungen
Zufallsbefunde Gemäss Studie von Bos et al. von 2016 (1) zeigten sich bei 5800 MRT-Schädeluntersuchungen (Durchschnittsalter der Patienten: knapp 65 Jahre) bei 549 Personen Zufallsbefunde. Gemäss Abbildung 1 wurden am häufigsten Meningeome entdeckt (143 Fälle), gefolgt von Aneurysmen (134 Fälle) und Arachnoidalzysten (92 Fälle).
Abbildung 1: Inzidenz von Zufallsbefunden in der Magnetresonanztomografie (MRT) des Schädels, nach Bos D et al. 2017 (1)
Studie von DeMonte aus dem Jahr 1995 (2) steigt die Inzidenz von Meningeomen mit dem Lebensalter kontinuierlich an, sodass in Autopsieserien 2,7 Prozent der männlichen und 6,2 Prozent der weiblichen über 80-Jährigen ein bis dahin asymptomatisches Meningeom aufwiesen.
Psychische Belastung Zufallsbefunde können für Patienten belastend sein, schwierige Entscheidungen müssen getroffen werden. Studien zu diesem Thema haben wir nicht gefunden, diese wären aber sicherlich spannend.
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Kasten 1:
Kosten einer MRT-Untersuchung des Schädels
Leistungen 39.5050 39.5010 39.0015
39.5300
Diverse
Bezeichnung (MRI) Neurokranium, Übersicht + Zuschlag weitere Serien (MRI) Grundkonsultation/Betriebsstelle Radiologie im Spital (KVG) Technische Grundleistung 0, Magnetic Resonance Imaging (MRI), ambulanter Patient Kontrastmittel (Gadovist) Total
AL:; TL:;
Anzahl 1 1
1
1 1
AL 115,01 50,01
5,74
0
TL 260,19 182,84
52,29
77,35
Total 375.20 232,85
58,03
77,35
verrechenbar Fr. 333.93 Fr. 207.24
Fr. 51.65
Fr. 68.84 Fr. 156.45 Fr. 818.10
Die Daten wurden freundlicherweise vom Kantonsspital Baden zur Verfügung gestellt.
Probleme durch Kontrastmittel Allergien auf Kontrastmittel sind zum Glück selten, kommen aber vor. Hier sind die jodhaltigen Kontrastmittel problematischer. Ebenso kann ein jodhaltiges Kontrastmittel eine Hyperthyreose bei vorhandener Schilddrüsenautonomie auslösen. Ein weiteres Problem kann die Verschlechterung einer Niereninsuffizienz bis hin zum Nierenversagen sein. Die gadoliniumhaltigen Kontrastmittel hingegen können bei Niereninsuffizienz zu nephrogener systemischer Fibrose führen. Die Langzeitfolgen von repetitiven Gaben (z.B. im Rahmen der Nachkontrollen) sind noch unklar. Eine Studie von Ramalho et al. 2016 (3) stellte Anreicherungen in bestimmten Hirnregionen wie Basalganglien oder Kleinhirn fest.
Kosten Eine MRT-Untersuchung des Schädels kostet ohne Beurteilung etwa 800 Franken (Kasten 1). Kommt es zu Zufallsbefunden, welche weiter abgeklärt oder nachkontrolliert werden, sind die Kosten entsprechend höher.
Abbildung 2: Betroffenes schraffiertes Areal, entspricht dem Innervationsgebiet des N. auricularis magnus und des N. occipitalis minor des Plexus cervicalis
Nutzen 15 der 549 Patienten mit Zufallsbefunden wurden operiert. Ob diese Patienten nun von der MRT-Untersuchung profitierten beziehungsweise wie das Resultat mit und ohne Operation gewesen wäre, ist nicht bekannt.
Zurück zum Fall
Durch genaueres Nachfragen stellte sich heraus, dass die Patientin in den Sommerferien die meiste Zeit ihre Sonnenbrille trug oder nach oben klappte. Ein Blick ins Anatomiebuch (Abbildung 2) enthüllte, dass der Ramus posterior des N. auricularis magnus das sensibilitätsgeminderte Gebiet versorgt, womit die Verdachtsdiagnose einer Druckläsion dieses Nervs gestellt wurde. Durch Druckläsionen verursachte Fühlstörungen erholen sich üblicherweise innert dreier Monate, was auch bei unserer Patientin der Fall war. Die Gewichtsabnahme begünstigte vermutlich in diesem Fall die Entwicklung der Läsion. «Red flags», welche ein Erzwingen der Diagnose erfordern, wären: L Allgemeinsymptome wie Kopfschmerzen, Fieber, Ge-
wichtsverlust oder Nachtschweiss
L zusätzliche (u. U. disseminierte) neurologische Ausfälle L Ausfallmuster, die nicht exakt dem Innervationsgebiet eines
peripheren Nervs entsprechen.
Differenzialdiagnosen Als Differenzialdiagnosen kommen folgende Erkrankungen infrage: L Herpes zoster: dermales Verteilungsmuster, meist mit loka-
len Schmerzen verbunden, Hautveränderungen erst im Verlauf L Polyradikulitis (z.B. Borreliose): radikuläres Verteilungsmuster, meist mehrere periphere Nerven betroffen, Allgemeinsymptome L Vaskulitis: meist mehrere Nerven betroffen, Allgemeinsymptome L zentral verursachte sensible Ausfälle (z.B. demyelinisierende Erkrankung): Areal entspricht nicht dem Versorgungsgebiet peripherer Nerven, zeitlich disseminierte neurologische Ausfälle. In diesem Fall bestanden keine «red flags». Durch das genauere Nachfragen konnte der Auslöser für die Druckschädi-
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Kasten 2:
Hätten Sie’s gewusst?
Von 1000 Frauen haben 10 Brustkrebs; die Inzidenz beträgt also 1 Prozent. Die Sensitivität des Mammografiescreenings beträgt 90 Prozent, die Spezifität 91 Prozent. Wenn eine Frau nun ein positives Resultat hat, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Brustkrebs hat? Darstellung anhand von natürlichen Häufigkeiten: Von den 10 Frauen mit Brustkrebs erhalten 9 ein positives Resultat, von den 990 Frauen ohne Brustkrebs erhalten 89 ein positives Resultat. Von den 98 Frauen mit positivem Resultat haben 9 Brustkrebs; das heisst, ungefähr eine von 10 Frauen mit positivem Resultat hat tatsächlich Brustkrebs (nach [5]).
1000 Frauen
Kein Brustkrebs: 990
Brustkrebs: 10
Resultat negativ: 901
Resultat positiv: 89
Resultat negativ: 1
Resultat positiv: 9
gung gefunden werden, und weitere Untersuchungen waren nicht nötig. Die medizinische Vorgeschichte mit Gewichtsabnahme ist ein Risikofaktor für die Entwicklung von Druckläsionen peripherer Nerven durch Verminderung des subkutanen Fettpolsters.
Weitere Beispiele für Druckläsionen peripherer Nerven sind unter anderem: L Karpaltunnelsyndrom L Peroneusläsionen (fehlerhafte Lagerung während Opera-
tionen, Überkreuzen der Beine) L Radialisparese (Parkbanklähmung) L Meralgia paraesthetica (Einengung durch das Leistenband) L Sulcus-ulnaris-Syndrom (Aufstützen der Ellbogen).
Was uns «smarter medicine» bringt
Unter dem Schlagwort «smarter medicine» werden in den letzten Jahren zunehmend Untersuchungen und Behandlungen infrage gestellt, welche den Patienten keinen Nutzen bringen oder sogar Schaden anrichten. Ziel der Bewegung ist primär die optimale Behandlung. Die finanziellen Einsparungen sind dabei ein willkommener Nebeneffekt. Der Verein «smarter medicine – Choosing Wisely Switzerland» hat es sich zur Aufgabe gemacht, Listen mit unnützen Interventionen zu erstellen und Ärzte, Patienten sowie auch die Politik für das Thema zu sensibilisieren. Hinderlich bei der Umsetzung sind unter anderem der Wunsch sich abzusichern sowie die Technikgläubigkeit bei Patienten und teilweise auch Ärzten. Der Nutzen sowie die Zuverlässigkeit von Untersuchungen werden häufig überschätzt.
Um zu entscheiden, müssen Risiko und Nutzen bekannt sein
Die Mitautorin kam an den «Trendtagen Gesundheit» 2018
in den Genuss eines Referats von Prof. Gerd Gigerenzer zu
Risikokompetenz und Risikokommunikation. Im Gegensatz
zu unserem Fall ging es hauptsächlich um die Interpretation
von Testresultaten in Abhängigkeit von Sensitivität und Spe-
zifität. Erschreckenderweise war der Grossteil der im Publi-
kum anwesenden Fachpersonen nicht in der Lage, Risiken
und Nutzen einer Vorsorgeuntersuchung adäquat einzu-
schätzen, wobei dies nicht an der mangelnden Ausbildung
der Zuhörer lag, sondern hauptsächlich an der Art der Risi-
kokommunikation.
Zur Einschätzung des Risikos empfiehlt Prof. Gigerenzer die
Verwendung von natürlichen Häufigkeiten zur Beurteilung
eines Testresultats (5)(siehe Kasten 2).
Die zweite Empfehlung lautet: Fragen Sie nach der absoluten
Veränderung anstelle der relativen. Zum Beispiel erhöht die
Antibabypille der dritten Generation das Thromboserisiko
um 100 Prozent (gegenüber Einnahme der Antibabypille der
zweiten Generation). Das heisst, dass statt einer von 7000
Frauen nun 2 von 7000 Frauen eine Thrombose erleiden. Die
Warnung bezüglich der 100-prozentigen Risikoerhöhung
führte in England zu 13 000 zusätzlichen Abtreibungen
sowie 13 000 zusätzlichen Geburten wegen Absetzens der
Antibabypille. Wie viele Thrombosen verursacht wurden,
wissen wir nicht.
L
Korrespondenzadresse: Dr. med. Caroline Wiedmer Praxis Dr. med. L. Villiger Ärztezentrum Täfernhof Mellingerstrasse 207 5405 Baden-Dättwil E-Mail: c.wiedmer@praxisvilliger.ch
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine potenziellen Interessenkonflikte.
Literatur: 1. Bos D et al.: Incidental findings on brain MRI, prevalence, clinical mana-
gement and natural course. Ned Tijdschr Geneesk 2017; 161(0): D1051. 2. De Monte F: Current management of meningeomas. Oncology 1995;
9(1): 83–91, 96. 3. Ramalho J et al.: Gadolinium-based contrast agent accumulation and
toxicity: an update. AJNR Am J Neuroradiol 2016; 37(7): 1192–1198. 4. Paracelsus Magazin, Ausgabe 3/1997 : Ohrakupunktur. 5. Gigerenzer G: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft.
Bertelsmann, 2014.
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