Transkript
Worauf bei geriatrischen Notfällen zu achten ist
Der Schein trügt sehr oft
BERICHT
Ältere Personen sind trotz gleichen chronologischen Alters biologisch in sehr unterschiedlichem Zustand. Während die einen gebrechlich sind, gehen andere noch diversen Sportarten oder Berufen nach. Dr. Heimlich beispielsweise rettete noch im Alter von 96 Jahren mit seinem berühmten Manöver, das er bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal anwendete, einer Mitbewohnerin im Seniorenheim das Leben. Dennoch können auch fitte Senioren zu Notfallpatienten werden. Was bei Senioren auf der Notfallstation anders ist, erklärte PD Dr. Christian Nickel, Leitender Arzt vom Notfallzentrum am Universitätsspital Basel.
Präsentiert sich ein alter Patient auf der Not-
fallstation, sind eine akute Allgemeinzustands-
verschlechterung und eine Verwirrung noch
kein Grund für die herabwürdigende Diagnose
«Pflegenotfall». Denn die Symptomausprägung
bei alten Patienten kann anders sein als bei jün-
geren. Beispielsweise tritt bei einem Herz-
infarkt die Verwirrung (13%) fast so häufig auf
wie die klassischen Thoraxschmerzen (19%) (1).
Die für einen Myokardinfarkt typischen Tho-
Christian Nickel
raxschmerzen können mit zunehmendem Alter
sogar ganz ausbleiben, wie eine Untersuchung
zeigte (2). Gemäss dieser hatten von 434 877 Herz-
infarktpatienten 33 Prozent keine Thoraxschmerzen. Es
zeigte sich, dass die Patienten ohne Thoraxschmerzen im
Durchschnitt 7 Jahre älter waren (74 vs. 67 Jahre) als die Lei-
densgenossen mit Thoraxschmerzen. Das hat auch Folgen:
Patienten ohne Thoraxschmerzen kamen im Vergleich zu
jenen mit Thoraxschmerzen später ins Spital, wurden weni-
ger aggressiv behandelt und hatten eine höhere Spitalmorta-
lität (23,3 vs. 9,3%) (2). «Eine atypische Präsentation ist bei
alten Patienten typisch», fasst Nickel zusammen. Thorax-
schmerzen als Zeichen eines Myokardinfarkts nehmen mit
steigendem Alter ab, Dyspnoe, allgemeine Schwäche, Verwir-
rung, Bauchschmerzen und Synkopen dafür zu (3). «Die all-
gemeine Schwäche ist leider sehr unspezifisch, aber auf Not-
fallstationen häufig. Sie belegt international den 5. Rang aller
Notfallpräsentationssymptome», so Nickel.
bei 519 über 65-jährigen Notfallpatienten (4). «Entscheidungen aufgrund des chronologischen Alters allein sind fehl am Platz», so Nickel. Ein weiterer Grund für die Untertriage waren nicht korrekt interpretierte Vitalzeichen (4). Diese sind bei älteren Patienten nicht prädiktiv für Tod oder eine Verlegung auf die Intensivstation, wie eine andere Studie mit 3800 Patienten mit Vitalzeichenmessung zeigte (5). Sich primär auf solche Scores zu verlassen, berge daher die Gefahr, schwer kranke Patienten zu verpassen, so Nickel. Hilfreich sei es, die Ausgangswerte zu kennen. Hat ein Patient im «Normalzustand» einen systolischen Blutdruck von 180 mmHg, kann ein Blutdruck von 120 mmHg bei ihm einen Schockzustand bedeuten. Auch die Atemfrequenz gibt wichtige prognostische Hinweise bei älteren Patienten. Eine hohe Atemfrequenz von > 30/min ist mit siebenfachem Mortalitätsrisiko verbunden (6). Ab einem Alter von 65 Jahren steigt die Spitalmortalität mit erhöhter Atemfrequenz viel stärker an als bei jüngeren Patienten (7). Ein verlässliches Zeichen für den Zustand einer alten Person bei Spitalpräsentation ist sein Gang, dieser sagt manchmal mehr aus als ein Blick in die Krankengeschichte (8). Mit der 4-Positionen-SUHB-Skala zur Beurteilung des Gangs (S = stabil aufrecht; U = unstabil aufrecht, H = braucht Hilfe beim Gehen; B = bettlägerig) lässt sich beispielsweise die 30-TageSpitalmortalität schon recht gut abschätzen. Bei einem stabilen Gang liegt das Risiko bei 0,1 Prozent, bei einem instabilen (Krücken) bei 1,7 Prozent, mit Rollstuhl bei 5,2 Prozent, bei Bettlägerigen bei sogar 18 Prozent.
Untertriage bei älteren Notfallpatienten häufig
Die häufigsten Erkrankungen, weswegen über 65-jährige Patienten die Notfallstation mit allgemeiner Schwäche aufsuchen, sind Infekte, Dehydratation, Elektrolytstörungen, Herzinsuffizienz, Anämie oder gar Malignome, aber auch einfach Gebrechlichkeit (Frailty). Eine unspezifische Krankheitspräsentation kann dazu führen, dass Risiken nicht erkannt werden. Folge davon seien Untertriageraten von bis zu 25 Prozent, zitierte der Referent eine eigene Untersuchung
Liebe zum Detail: Füsse untersuchen kann sehr hilfreich sein
Auch Stürze sind bei älteren Personen häufige Ursachen für
den Notfallbesuch. Ab einem Alter von 65 Jahren stürzt etwa
jeder Dritte einmal pro Jahr. «Werden Sie skeptisch, wenn
jemand über einen Teppich stolpert, den er schon 30 Jahre
hat. Untersuchen Sie die Füsse, manchmal sagt deren Pflege
viel aus. Ungepflegte, lange, krumme Nägel können beispiels-
weise ein Zeichen für beeinträchtigte Exekutivfunktionen
ARS MEDICI 19 | 2018
777
BERICHT
Kasten:
Wichtig bei geriatrischen Notfällen
L chronologisches Alter entspricht selten dem biologischen Alter L atypischer Myokardinfarkt ohne Thoraxschmerzen mit dem Alter
zunehmend L allgemeine Schwäche ist das fünfthäufigste Symptom auf der
Notfallstation und kann gefährlich sein L Vitalzeichen mit Baseline vergleichen L Gang ist ein Vitalzeichen der älteren Person L Sturzrisiko abschätzen L Sturzhergang hinterfragen L Schwäche, Stürze, Delir treten oft zusammen auf L Medikamentenliste kontrollieren L Patientenwillen erfragen
sein, aber auch über den Sozialstatus mit Vereinsamung oder finanziellen Problemen Auskunft geben.» Eine prospektive Studie bei älteren Sturzpatienten untersuchte die Risikofaktoren für Sturz. Von 263 Patienten waren 39 Prozent im Jahr zuvor schon einmal oder mehrere Male gestürzt. 14 Prozent stürzen im folgenden halben Jahr erneut. Dabei stellten sich als grösste Risikofaktoren chronische Fusswunden (HazardRatio [HR]: 3,71), vorangegangene Stürze (HR: 2,6), Unfähigkeit, die Zehennägel zu schneiden (HR: 2,04), und eine selbstberichtete Depression (HR: 1,72) heraus (9). Ein guter Indikator für das Sturzrisiko ist gemäss Nickel der «Walk-and-Talk-Test». Man geht mit dem Patienten ein Stück und fragt ihn etwas. Bleibt er stehen, um zu antworten, ist sein Risiko, in den nächsten 6 Monaten zu stürzen, erhöht (positiv prädiktiver Wert 83%), wie eine schwedische Untersuchung zeigte. Wer anhielt, um zu sprechen, hatte im Vergleich zu den Weitergehenden einen weniger sicheren Gang und bewegte sich auch langsamer fort (10). Auch dem Sturzhergang sollte mehr Gewicht beigemessen werden. Das Etikett «Stolpersturz» ist gängig, doch ist die Prognose von «Stolperern» nicht besser oder schlechter als von jenen, die aus anderen Gründen gestürzt sind, wie aus einer Datenanalyse hervorging. Daher sollte dieses Etikett nicht mehr verwendet werden, da sie den Eindruck einer benignen Ursache erweckt, so die Autoren dieser Untersuchung (11). Nicht zuletzt gibt auch das Verletzungsmuster Aufschluss. Nicht immer ist der angegebene Sturz die Ursache. Auch Misshandlungen oder Vernachlässigung können zu «Stürzen» führen. Weitere Hinweise hierfür können ungepflegtes Äusseres, Untergewicht, nicht wetterangepasste Kleidung oder eine ausgeprägte Ängstlichkeit sein.
Ursachensuche bei gebrechlichen Senioren
Bei gebrechlichen (frail) alten Personen genügt irgendein Stressor, um eine allgemeine Schwäche, Stürze oder ein Delir zu induzieren. Das sind alles unspezifische Symptome, die ähnliche Outcomes haben (12) «und oft auch zusammen auftreten», so Nickel. Daher ist es wichtig, die zugrunde liegende Ursache zu finden.
Ein Blick auf die Medikamentenliste noch vor der stereotypen Suche nach Harnwegsinfekten kann auch schon Aufschluss geben. Oft finden sich darauf mehrere Psychotropika, die auch zum aktuellen Zustand geführt haben könnten. Das Delir als akuter Verwirrtheitszustand mit fluktuierendem Verlauf findet sich bei etwa 10 Prozent aller älteren Notfallpatienten und ist häufig ein Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung. Es kann aber auch triviale Ursachen haben wie beispielsweise Schmerz oder eine volle Blase. Das Delir, das per se mit einer erhöhten Mortalität einhergehe, werde verpasst, wenn nicht systematisch danach gesucht werde, erinnerte Nickel.
Entlassen oder nicht?
Zu entscheiden, ob ein älterer Notfallpatient stationär aufzu-
nehmen ist oder nicht, ist nicht einfach. Das Vitalzeichen
«Walk and Talk», die Baselinewerte sowie eine Fremd-
anamnese können dabei helfen. Patienten mit verändertem
mentalem Zustand, mit Dyspnoe oder Schwäche/Müdigkeit
sollten aber eher nicht entlassen werden, da das Mortalitäts-
risiko bei ihnen 3- bis 4-fach erhöht ist, wie eine amerikani-
sche Untersuchung bei über 10 Millionen Notfallpatienten
zeigte. In dieser Untersuchung wurden unerwartete Todes-
fälle innerhalb von 7 Tagen nach dem Besuch der Notfallsta-
tion auf Ursachen und Risikofaktoren analysiert (13).
Eine Entscheidung kann nach Abklärung der geriatrischen
Big 5 M (Multikomplexität, Medikamente, Mobilität, Geist
[Mind] und Patientenwillen [Matters most]) erfolgen. Wich-
tig sei es, in jedem Fall zu fragen, was der Patient wolle, rät
Nickel abschliessend.
L
Valérie Herzog
Quelle: «Geriatrische Notfälle – Top 10 Pitfalls», 11. 1. 2018, Universitätsspital Basel.
Referenzen: 1. Day JJ et al.: Acute myocardial infarction: diagnostic difficulties and out-
come in advanced old age. Age Aging 1987; 16: 239–243. 2. Canto JG et al.: Prevalence, clinical characteristics, and mortality among
patients with myocardial infarction presenting without chest pain. JAMA 2000; 283: 3223–3229. 3. Glickman SW et al.: Development and validation of a prioritization rule for obtaining an immediate 12-lead electrocardiogram in the emergency department to identify ST-elevation myocardial infarction. Am Heart J 2012; 163: 372–382. 4. Grossmann FF et al.: At risk of undertriage? Testing the performance and accuracy of the emergency severity index in older emergency department patients. Ann Emerg Med 2012; 60: 317–325. 5. Lamantia MA et al.: Predictive value of initial triage vital signs for critically ill older adults. West J Emerg Med 2013; 14: 453–460. 6. Buist M et al.: Outcomes from out of hospital cardiac arrest (OHCA)? What really matters is the patient. Resuscitation 2004; 85: 155–156. 7. Smith GB et al.: Should age be included as a component of track and trigger systems used to identify sick adult patients? Resuscitation 2008; 78: 109–115. 8. Kellett J et al.: A four item scale based on gait for the immediate global assessment of acutely ill medical patients – one look is more than 1000 words. Eur Geriatr Med 2014; 5: 92–96. 9. Carpenter CR et al.: Identification of fall risk factors in older adult emergency department patients. Acad Emerg Med 2009; 16: 211–219. 10.Lundin-Olsson L et al.: Stops walking when talking as a predictor of falls in elderly people. Lancet 1997; 349: 617. 11. Sri-on J et al.: Is there such a thing as a mechanical fall? Am J Emerg Med 2016; 34: 582–585. 12. Clegg A et al.: Frailty in elderly people. Lancet 2013; 381: 752–762. 13. Obermeyer Z et al.: Early death after discharge from emergency departments: analysis of national US insurance claims data. BMJ 2017; 356: j239.
778
ARS MEDICI 19 | 2018