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«Bin ich mitschuldig an meiner Krebserkrankung?»
Das Verständnis für Schuldgefühle sowie für eigene Schuld und Unschuld können das Leben bereichern und die Rehabilitation nach Schicksalsschlägen erleichtern. Ärzte und Pflegefachleute haben viele Möglichkeiten, die Suche des Patienten nach lebensgeschichtlichen Zusammenhängen zu unterstützen (1), aber immer ohne ihm eine solche Suche aufzudrängen.
Jürg Kollbrunner
An den Anfang möchte ich den fiktiven Dialog zwischen dem chirurgisch tätigen Onkologen Wilhelm und der Psychoonkologin Dagmar stellen, in dem sich möglicherweise der eine oder andere Leser wiedererkennen könnte. Dieser Dialog verlangt nach einigen klärenden Erläuterungen, welche im Anschluss in vier Abschnitten zu den Brennpunkten der Thematik präsentiert werden. Wilhelm: Da hatte mich doch eine Patientin mit Mamma-Ca gefragt, ob sie mitschuldig an ihrer Krebserkrankung sei! Dagmar, nach einer kleinen Pause: Und was hast du ihr geantwortet? Wilhelm: «So ein Unsinn», habe ich ihr gesagt … und «Vergessen Sie das!» Beide schweigen eine Zeit lang, dann sagt Dagmar: Wie hat sie reagiert? Wilhelm: Sie hat nie mehr davon gesprochen. Dagmar: Aber vergessen hat sie es wahrscheinlich nicht. Wilhelm: Ich weiss nicht …, ich kann …, ich will doch da nicht nachfragen. Wenn es jetzt eine Patientin mit Lungenoder Larynx-Ca gewesen wäre, hätte ich etwas von der Schädlichkeit des Zigarettenrauchs oder, wenn es gepasst hätte, auch vom Alkohol sprechen können, aber das hätte ihr auch nichts genützt ..., und sie hätte es sowieso schon gewusst. Dagmar: Aber du weisst nicht, auf welche Weise sie befürchtet hat, mitschuldig zu sein? Wilhelm: Nein, natürlich nicht … Wenn sie wieder mit so destruktiven Gedanken gekommen wäre, hätte ich wahrscheinlich gesagt: «Krebserkrankungen sind genetisch bedingt. Für die Gene, die Sie mitbekommen haben, sind sie nicht verantwortlich. Sie und übrigens auch ihre Eltern tragen da keine Schuld.» Er schweigt einen Moment und fragt dann: Wie hättest denn du geantwortet? Dagmar: Ich hätte wahrscheinlich gefragt: «Wie kommen Sie auf den Gedanken, vielleicht mitschuldig an ihrer Erkrankung zu sein?» Wilhelm: Und was stellst du dir vor, was die Patientin auf eine solche Frage antworten würde? Dagmar: Es könnte sein, dass sie nur sagt, sie habe das irgendwo gelesen. Es könnte aber auch sein, dass sie von etwas zu erzählen beginnt, das sie schon lange belastet. Von einer persönlichen Beziehung, die sie vor Jahren abgebrochen hat, von einer Erwartung ihrer Eltern, die sie nie erfüllt hat. Oder von einer alten Sehnsucht, der sie nie gerecht geworden ist; von einem Groll, den sie bis heute unterdrückt; einer Kränkung, die sie nie verziehen hat; einer schwer einzugestehen-
den Eifersucht, einer belastenden Geschwisterrivalität oder auch nur von ihrem Ärger über ihre Ungeduld, wenn die Kinder ständig etwas von ihr wollen. Wilhelm: Und das würdest du ihr auftischen und sagen: «Eine solche Belastung könnte mit zu Ihrer Krebserkrankung beigetragen haben.»? Dagmar: Nein, ich würde nur genau zuhören und versuchen zu verstehen, wie sich die Last, von der die Patientin spricht, anfühlt. Wilhelm: Und dann? Dagmar: Dann kämen wir ins Gespräch über mögliche Ursachen der von ihr berichteten Belastung, auf die Art der Schuldgefühle, die sie daraus entwickelt hat – aus eigener Schuld entstandene oder anerzogene, eingeredete Schuldgefühle – und schliesslich auf die Möglichkeiten, mit ersteren versöhnlich zu leben und die zweiten aufzulösen. Wilhelm (leicht spöttisch): Dann meinst du, wenn du der Patientin einen Rat gegeben hast, wie sie eine geduldigere Mutter werden könnte, hättest du etwas Sinnvolles gegen ihre Krebserkrankung unternommen? Dagmar: Nein, ich gebe keine Ratschläge. Aber ich erreiche manchmal, dass sich die Patienten von mir verstanden fühlen und dadurch freier werden, sich selbst zu verstehen. Sie ahnen dann klarer, dass ihre Gedanken und besonders ihre Gefühle nicht so dumm sind, wie sie manchmal befürchten und wie ihnen andere ab und zu einzureden versuchen. Wilhelm: Aah so …, aber was ist dann der Punkt, an dem dein Gespräch mit der Patientin etwas mit ihrer Krebserkrankung zu tun haben wird? Dagmar (überlegt): Vielleicht ist es der Moment, in dem sie sich dafür zu interessieren beginnt, was das für ein Lebensabschnitt war, als der Ausbruch der Krankheit sie erschütterte und welche vielfältigen Folgen diese Erschütterung hatte. Vielleicht wird ihr bewusster, nach welchen Zielen sie sich im Leben, bewusst oder unbewusst, vor der Erkrankung ausgerichtet hat, und stellt einige dieser Ziele infrage und formuliert den Wunsch nach neuen. Wilhelm: Ich kann schon verstehen, dass solche Gespräche für die Rehabilitation hilfreich sind. Aber sie haben doch nichts mit der Ursächlichkeit von Krebserkrankungen zu tun! Dagmar: Ja, im Denken und Handeln der positivistischen, quantitativen, evidenzbasierten medizinischen Forschung trifft dies zu. In jenem der idiografischen, qualitativen, konstruktivistischen Forschung nicht. Manchmal staune ich über die Ärzte. Das sind doch vorwiegend differenziert denkende Menschen. Aber wenn es um physiologisch gut erforschte Krankheiten wie das Karzinom geht, verfallen sie in ein Ent-
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weder-oder-Denken: Entweder ist der Körper krank oder die Seele. Aber krank ist doch der Mensch! Warum ist es für sie so schwer, die naturwissenschaftlich verstehbare Körpergeschichte und die psychologisch verstehbare Erlebensgeschichte miteinander verwoben zu sehen? Wilhelm: Wir sind eben so ausgebildet: Messen ist zuverlässig, Fühlen und Fantasieren nicht. Dagmar: Da müssten wir aber noch klären, was unter zuverlässig verstanden werden soll und auch wie weit zuverlässig von hilfreich entfernt liegen kann. Beide schweigen eine Zeit lang. Wilhelm: Sag mir noch: Wie würdest du der Frau antworten, die sagt, sie habe irgendwo gelesen, dass sie an ihrem Krebs selbst schuld sein könnte? Dagmar: Ich würde sie fragen, ob sie solches auch schon gedacht habe oder was sie denke, was mit einer solchen Aussage gemeint sei. Wenn sie dann von einer möglichen eigenen Schuld sprechen würde, könnten wir diese gemeinsam zu klären versuchen. Wilhelm: Willst du denn unbedingt, dass Krebspatienten von Schuldgefühlen sprechen? Dagmar: Nein, aber ich will ihnen ermöglichen, von Schuldgefühlen zu sprechen, wenn sie das wollen. Rein von mir aus spreche ich Schuldgefühle nicht an. Nur wenn ein Patient solche erwähnt oder andeutet, gehe ich auf diese Thematik ein. Wilhelm: Sind denn Schuldgefühle bei Krebspatienten so wichtig? Dagmar: Die Themen Schuld und Schuldgefühle sind generell viel bedeutungsvoller, als wir meist annehmen. Sie tauchen fast täglich auf und sind – neben der Qual, die sie mit sich bringen können – ungemein attraktiv: Alle Kriminalromane, viele Berichte über Unfälle und Verbrechen und die meisten Liebesfilme handeln von Schuld und Schuldgefühlen; grosse Romane stets auch, und die Boulevardpresse lebt von diesen Themen. Wenn man dann noch daran denkt, dass psychisch kranke Menschen oft besonders intensiv mit Schuldgefühlen zu kämpfen haben, und weiss, dass beispielsweise mehr als ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in Deutschland unter einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung leidet (2), wird vollends klar, welche Bedeutung Schuld und Schuldgefühle haben. Und nach einer persönlichen Erschütterung, wie dem Ausbruch einer schweren Krankheit, ist es besonders naheliegend, Schuldfragen zu stellen: Habe ich etwas falsch gemacht? Oder die Ärzte? Oder ist in der Kindheit etwas schiefgelaufen?
Die unglückliche Geschichte der Schuldgefühle in der Psychoonkologie
In den 1960er-Jahren, den Geburtsjahren der Psychoonkologie, war die spezifische Forschung in Nordamerika und Europa vorwiegend auf die Entdeckung und den Nachweis von Persönlichkeitsfaktoren, die mit zu einer Krebserkrankung führen könnten, ausgerichtet. Unterstützt durch tiefenpsychologisches Denken hatte sie interessante Befunde geliefert. Aber in den Jahrzenten danach wurde diese Forschung durch vier Faktoren völlig verdrängt. 1. Es gelang den Forschern nicht, der unglücklichen Vermi-
schung von «Mitursächlichkeit psychosozialer Faktoren an der Krebserkrankung» und «Schuld der Patienten an der Erkrankung» auf eine hilfreiche Art zu begegnen: Wer von
möglichen lebensgeschichtlichen Mitursachen von Krebserkrankungen sprach, schien gleichzeitig die Betroffenen zu beschuldigen. 2. Der meist gewählte Ansatz der Beschreibung von Patienten mithilfe von Adjektiven der Persönlichkeit war nicht geeignet, Wesentliches von den Lebensgeschichten der Kranken zu erfassen: Zu einem bestimmten Messzeitpunkt depressiver oder manischer, hilfsbedürftiger oder aufopfernder zu sein als eine Vergleichsgruppe, sagt nichts über den Entstehungsweg, der zu diesen Prädikaten geführt hat, aus. 3. Die frühen Forscher haben vorwiegend Patienten untersucht, die bereits psychische Probleme zeigten (selection bias). 4. Die aufstrebende evidenzbasierte Medizin bewirkte, dass fast nur noch naturwissenschaftlich konzipierte Forschungsprojekte und mit Messdaten belegte Erkenntnisse anerkannt wurden. Erfahrungsberichte von Patienten, Familienangehörigen, Ärzten und Pflegenden verloren fast jeden wissenschaftlichen Wert. So wurde in den vergangenen zwei Jahrzehnten aus der ätiologischen eine fast rein rehabilitative Psychoonkologie, die sich nur noch um die psychologischen Auswirkungen von Krebserkrankungen kümmert.
Eine gravierende Fehlentwicklung evidenzbasierter Forschung
Die in den 1970er-Jahren eingeführte Evidenzbasierte Medizin (EbM) erlaubte grosse Fortschritte in der effektiven Überprüfung des Werts medizinischer Forschung und der Gültigkeit ihrer Ergebnisse, besonders in der Pharmakologie. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde die EbM jedoch zunehmend verzerrt angewendet. Deren Triade zur Evaluation der Qualität medizinischer Forschung aus «bester externer Evidenz», «individueller klinischer Expertise» und den «Werten und Erwartungen des Patienten» wurde allmählich auf das Element «beste externe Evidenz» reduziert. Randomisierte, kontrollierte, verblindete Studien wurden zum Goldstandard der medizinischen Qualitätssicherung erklärt, so dass idiografische, qualitative Forschungsansätze eine massive Entwertung erfuhren. In den meisten Metaanalysen werden heute Publikationen, die den EbM-Kriterien nicht genügen, systematisch schon vor der Analyse ausgeschlossen. So hatten zum Beispiel Ruotsaleinen et al. (3) in ihrem Review zu Therapieeffekten bei funktioneller Dysphonie über die Suche mit hundert Stichworten in sieben Datenbanken 5937 Publikationen zum Thema gefunden. Nach der Elimination der EbM-inkompatiblen Studien verblieben ihnen aber nur sieben Studien für die Metaanalyse. Tausende von teilweise wertvollen Studien wurden so ignoriert. Von den EbM-verpflichteten Forschern wird immer wieder behauptet, nur über die Gütekriterien ihrer quantitativen Arbeitsmethoden liessen sich gültige Erkenntnisse finden. Das stimmt aber nicht. Qualitative Forschungsansätze können auf genauso zuverlässigen Gütekriterien aufgebaut werden, nur zum Teil auf anderen. So wird zum Beispiel das Konzept der Validität in idiografischen Arbeiten durch «Stringenz» (Nachvollziehbarkeit), «Vertrauenswürdigkeit der Quelle» und der «Analyse der Erkenntnisinteressen der Forscher» ersetzt. Kritiker könnten fragen: Warum werden denn so wenige qualitative Studien publiziert? Die Antwort ist verblüffend: Nicht
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etwa wegen Qualitätsmängeln, sondern aus finanziellen Gründen. Als vor zwei Jahren 76 Forscher aus elf Ländern in einem offenen Brief an das renommierte British Medical Journal den dringenden Wunsch äusserten, mehr qualitative Studien zu publizieren (4), erhielten sie eine Absage mit der Begründung, qualitative Studien seien bei den meisten Lesern nicht beliebt, würden zu wenig heruntergeladen und zu selten zitiert. Quantitative Forschung ist einfach profitabler, vermutlich nicht nur für medizinische Journals, sondern auch für karriereorientierte Forscher und die Pharma- und Medizintechnikindustrie.
Krebserkrankungen beruhen auf Genmutationen. Wie soll da in ihrer Entstehung die Psyche eine Rolle spielen?
Die Epigenetik zeigt: Gene produzieren nichts. Sie sind nur Baupläne für die Produktion von Proteinen. Ob, wann und wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt abgelesen werden und tatsächlich zur Eiweissproduktion führen, ist von vielen, auch äusseren Faktoren abhängig. Ein hervorragendes Buch über diese Zusammenhänge ist jenes des Neurowissenschaftlers Joachim Bauer (5) mit dem vielsagenden Titel «Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern». Zusammen mit den Erkenntnissen der Psychoneuroimmunologie (z.B. Schwächung der Immunabwehr nach dem Tod eines Lebenspartners) der Psychoendokrinologie (z.B. Ängste und Depressionen als Mitursache und Folge endokrinologischer Veränderungen, seien es Kortisolausschüttungen oder Entgleisungen bei Diabetes) und Ergebnissen der Erforschung der Neuroplastizität ergibt sich ein eindrucksvolles Bild der Wechselwirkung zwischen subjektivem Erleben (insbesondere dem Lernen) und Körper: Die Gene zur Produktion von Proteinen der Muskulatur werden bei Sportlern häufiger abgelesen als bei bewegungsfaulen Menschen, und bei Londoner Taxifahrern liess sich während ihrer mehrjährigen Vorbereitung auf die Taxiprüfung eine Zunahme der grauen Substanz im Hippocampus, der Schaltstelle zwischen Kurz- und Langzeitgedächtnis, feststellen (6). Solche Phänomene lassen sich nur mit einer perfekten Interaktion zwischen dem Genom, verschiedenen Körpersystemen und dem lernenden Erleben erklären. Warum sollte dies bei Krebserkrankungen anders sein? Die einfache Idee, dass jene, die einer zu hohen Dosis an Karzinogenen ausgesetzt sind, an Krebs erkranken, trifft nur bei extremen Überdosierungen zu. In allen anderen Fällen entscheiden neben genetischen auch epigenetische, also endokrinologische, immunologische und neurophysiologische Faktoren, die alle auch von menschlichem Erleben abhängig sind, ob eine Krebserkrankung ausgelöst wird.
Krankheitserleben und Schuldgefühle
Wer erkrankt, hat das Bedürfnis, sich zu erklären, warum er erkrankt ist. Diese gesunde Reaktion kann erlauben, gesundheitsschädigende Einflüsse zukünftig zu meiden und aus eventuell eigenem Mitverschulden zu lernen. Statt um eine bei Krebserkrankungen oft nur begrenzt mögliche Sekundärprävention handelt es sich hier sozusagen um eine «Sekundärpromotion», also nicht um die Verhinderung erneuter Erkrankung, sondern um die Förderung neuer befriedigender Elemente der Lebensführung.
Was ist Schuld?
Auf die Frage, was Schuld, Moral, Gewissen und Schuldgefühle sind, lässt sich sehr unterschiedlich antworten. Der folgende Abschnitt ist im Wesentlichen dem Buch «Gespräch über Schuldgefühle in der therapeutischen Beratung» (7) entnommen: Schuld ergibt sich aus einem bewussten Handeln gegen das eigene Wohl oder gegen das Wohl anderer Menschen und Lebewesen. Sie entsteht bei Verstoss gegen eine soziale Norm, ein Gesetz oder gegen unsere innere moralische Instanz, das eigene Gewissen. Moral ist die Gesamtheit ethisch-sittlicher Normen, die das zwischenmenschliche Verhalten einer Gesellschaft regulieren. Sie beschreibt, welche Handlungen in einer bestimmten Gesellschaft gut oder böse und richtig oder falsch sind. Das Gewissen ist eine Instanz des Empfindens von Gut und Böse, Recht und Unrecht. Es richtet sich nicht nur nach der in unserer Kindheit durch Eltern und andere Bezugspersonen vermittelten Moral, sondern auch nach einem intuitiven inneren Wissen, das durch die angeborene Fähigkeit zum Empfinden von Mitgefühl entsteht. Ohne Bewusstsein für eine schädigende Handlung darf diese nicht als schuldhaft bewertet werden. Eine Schwierigkeit bei der Beurteilung von Schuld und Unschuld besteht nun darin, dass das Bewusstsein nicht dichotom ist. Das Bewusstsein ist ein Kontinuum mit unendlich vielen Abstufungen zwischen bewusst und unbewusst. Deneke (8) nennt den Mittelbereich dieser Spannweite «Ahnungsbewusstsein». Dessen Inhalte entsprechen unfertigen, schemenhaften Wirklichkeitsentwürfen, die aber dennoch unser Erleben und das daraus resultierende Verhalten nachhaltig beeinflussen. Wenn wir ahnungsbewusste Wahrnehmungen machen, verlangt verantwortungsbewusstes Handeln deshalb, sie in die Überlegung für unsere Entscheidungen einzubeziehen. Wenn wir das nicht tun, unser Ahnungsbewusstsein aus Gründen der Bequemlichkeit oder zum Schutz gegen eventuell aufsteigende Ängste verleugnen, unser Handeln aber zu schädigenden Effekten führt, machen wir uns schuldig. Häufig entstehen aus solcher Verdrängung subtile kleine Schulden in Form von Unehrlichkeiten, Sticheleien, subtilen Provokationen oder anderem respektlosem Verhalten, die sich aber in ihrer Wirkung potenzieren können. Die Abbildung auf der folgenden Seite zeigt, welche Kategorien von Schuld aus welcher Art der Wahrnehmung der Verursachung und der Handlungsart entstehen können.
Was sind Schuldgefühle?
Schuldgefühle sind soziale Emotionen als Reaktion auf in der Realität begangene schuldhafte Taten oder auf Fantasien vermeintlich verbotener Impulse egoistischer, sexueller oder aggressiver Art. Schuldgefühle sind oft sehr belastend. Sie können soziale Beziehungen vergiften und Begleiter oder Mitursachen vieler Erkrankungen sein, schleichend oder stechend quälend, über Stunden, Wochen oder gar über Jahre. Den Schuldgefühlen verwandt sind die Schamgefühle, die nicht nur das Gefühl vermitteln, mit einer Tat gegen eine soziale Norm verstossen zu haben und bestraft werden zu können, sondern im ganzen entblössten Sein geächtet, vielleicht sogar von einer sozialen Gruppe ausgeschlossen zu werden. Für die Auseinandersetzung mit Schuldgefühlen ist die Unterscheidung zweier Arten dieser Gefühle von grosser Bedeutung:
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Wahrnehmung der Verursachung
Handungsart
Kategorie der Schuld
bewusst
bewusst schädigende Handlung = böse
kriminelle Schuld moralische Schuld
ahnungsbewusst
chronisch kleine schuldhafte Handlung
= fahrlässig
chronisch leichte moralische Schuld
Pseudounschuld
existenzielle Schuld
unbewusst
unbewusste schädigende Handlung
= schicksalshaft
Schuld ohne moralische Schuld
Kriminelle Schuld: nach Straftat, also nach Verletzung eines mit gerichtlich festgelegten Strafen sanktionierten Gesetzes. Moralische Schuld: nach Verstoss gegen das eigene Gewissen oder gegen eine mehrheitlich akzeptierte soziale Norm. Chronische leichte moralische Schuld: nach einer Häufung harmlos erscheinender Alltagshandlungen, die bei mehrfacher Wiederholung aber doch Schaden verursachen; besonders bedeutungsvoll in der Erziehung kleiner Kinder. Pseudounschuld: Behauptung, dass «man eigentlich machtlos sei»; Illusion, schuldlos leben zu können; vorauseilender Gehorsam; Gehorsam gegenub̈ er anonymisierter Autorität oder Verleugnung der menschgemachten globalen Schädigung von Klima und Natur. Sie ist geprägt durch Verleugnung des Ahnungsbewusstseins. Existenzielle Schuld: Durch unsere blosse Existenz beanspruchen wir gewisse Ressourcen, was andere unvermeidbar einschränkt.
Abbildung: Verschiedene Formen von Schuld (aus [7])
s Die authentischen Schuldgefühle sind solche, die von eigener Schuld abstammen. Sie sind schmerzhaft, bei grosser Schuld quälend, manchmal über eine lange Zeit. Sie bieten aber eine einzigartige Chance: Wenn wir die hinter ihnen stehende Schuld verstehen lernen, können wir nicht nur unser Verschulden bedauern, uns entschuldigen, um Verzeihung bitten und uns um Wiedergutmachung bemühen, sondern wir können auch lernen, in der Zukunft das bestimmte schuldhafte Verhalten zu vermeiden.
s Die übernommenen Schuldgefühle sind nicht weniger schmerzlich. Es sind Schuldgefühle, die uns unsere Bezugspersonen in unserer Kindheit aus Bequemlichkeit oder zum Schutz gegen ihre Ängste eingeredet haben: Wir sollten uns in bestimmten Situationen (nach bestimmten Handlungen) stets schuldig fühlen, obwohl es bei genauer Prüfung offensichtlich ist, dass wir in diesem Moment nichts Schuldhaftes getan haben, zum Beispiel, wenn wir nur einen besonderen Wunsch geäussert oder Ärger direkt gezeigt haben. Wenn wir so «geimpft» worden sind, können auch im Erwachsenenleben in entsprechenden Situationen Schuldgefühle auftauchen. Sogar wenn wir erkennen, dass wir uns momentan nichts Schuldhaftes vorzuwerfen haben, kommt das Schuldgefühl als Echo der Vergangenheit hartnäckig immer wieder auf. Das Ziel in der «Behandlung» übernommener Schuldgefühle ist es, sie zu schwächen oder aufzulösen.
Einige krebskranke Menschen können – wie andere Kranke und auch Gesunde – in ihrem Lebenslauf Momente erkennen, in denen sie sich tatsächlich verschuldet haben und sich selbst oder anderen Menschen untreu geworden sind. Zu lernen, diese Tatsache zu akzeptieren, sich zu entschuldigen und sich selbst zu verzeihen, kann befreiend wirken. Andere Krebskranke leiden unter übernommenen Schuldgefühlen, zum Beispiel nach einer Kritik an den eigenen Eltern, beim Sich-Abgrenzen und dem Wahrnehmen von eigenen Bedürf-
nissen, deren Realisierung für andere unbequem ist; nachdem
sie eine Bezugsperson verlassen haben oder von einem nahen
Menschen verlassen worden sind. Solche Schuldgefühle zu
hinterfragen und sich von ihnen zu befreien, kann neue Ho-
rizonte öffnen.
Das Verständnis für Schuldgefühle sowie für eigene Schuld
und Unschuld und die nachfolgende Modifizierung der Stra-
tegien zur Lebensgestaltung können das Leben bereichern, die
Rehabilitation nach Schicksalsschlägen erleichtern und auch
den Sinn des eigenen Lebenslaufs erkennbar werden lassen.
Ärzte und Pflegefachleute haben viele Möglichkeiten, im Ge-
spräch mit dem Patienten dessen Suche nach lebensgeschicht-
lichen Zusammenhängen zu unterstützen (1). Allerdings soll
eine solche Suche stets intrinsisch motiviert sein, darf also nie
jemandem weder plump noch subtil aufgedrängt werden. s
Dr. phil. J. Kollbrunner Psychotherapeut Wengerliweg 8, 3152 Mamishaus E-Mail: j.kollbrunner@bluewin.ch
Literatur: 1. Kollbrunner J: Psychosoziale Beratung in Therapieberufen. Schulz-Kirch-
ner Verlag, Idstein, 2017. 2. Jacobi F et al.: Psychische Störungen in der Allgemeinbevölkerung. Studie
zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland und ihr Zusatzmodul Psychische Gesundheit (DGES1-MH). Nervenarzt 2014; 85: 77–87. 3. Ruotsalainen J et al.: Systematic review of the treatment of functional dysphonia and prevention of voice disorders. Otolaryngol Head Neck Surg 2008; 138: 557–565. 4. Greenhalgh T et al.: An open letter to the BMJ editors on qualitative research. BMJ 2016; 352: i563. 5. Bauer J: Das Gedächtnis des Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern. Piper, München, 2006. 6. Woolett K, Maguire EA: Acquiring «the knowledge» of London's layout drives structural brain changes. Curr Biol 2011; 21(24): 2109–2114. 7. Kollbrunner J: Gespräch über Schuld und Schuldgefühle in der therapeutischen Beratung. Schulz-Kirchner Verlag, Idstein, 2018. 8. Deneke FW: Das Unbewusste – kein eigenes, abgegrenztes System. In: Cierpka M, Buchheim P (Hrsg.): Psychodynamische Konzepte. Springer, Berlin, S. 63–70, 2001.
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