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FORTBILDUNG
Osteoporosescreening – ein Update
Handlungsempfehlungen der US Preventive Services Task Force
Die US Preventive Services Task Force (USPSTF) hat ihre Empfehlungen zum Screening und zur Behandlung von Osteoporose aktualisiert. Sie gelten für postmenopausale Frauen und ältere Männer ohne vorherige osteoporotische Frakturen, die nicht an Komorbiditäten leiden oder Medikamente einnehmen, die eine sekundäre Osteoporose begünstigen könnten.
JAMA
Bei der Osteoporose handelt es sich um eine Erkrankung des Skeletts, die durch einen Verlust an Knochenmasse und eine gestörte Mikroarchitektur des Knochengewebes gekennzeichnet ist. Die verminderte Knochenqualität führt zu erhöhter Brüchigkeit und somit zu einem erhöhten Frakturrisiko. Nach einer Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) liegt eine Osteoporose vor, wenn die Knochendichte an der Hüfte oder an der Wirbelsäule mindestens 2,5 Standardabweichungen (SD) (z.B. T-Score ≤ –2,5) geringer ist als die durchschnittliche Knochendichte einer Referenzpopulation junger, gesunder Frauen zum Zeitpunkt der angenommenen höchsten Knochendichte. Eine Osteoporose verläuft meist asymptomatisch, bis es zu einer Fraktur kommt. Osteoporotische Frakturen – und vor allem Hüftfrakturen – sind mit eingeschränkter Beweglichkeit, chronischen Schmerzen und auch häufig mit dauerhafter Behinderung verbunden. In den USA sterben nach einer Hüftfraktur 21 bis 30 Prozent der Betroffenen innerhalb eines Jahres. Etwa 70 Prozent aller osteoporotischen Frakturen ereignen sich bei Frauen. Bei Frauen ist die Osteoporoserate in jedem Alter
MERKSÄTZE
Mit Knochendichtemessungen kann das Risiko für osteoporotische Frakturen bei Männern und Frauen mit hoher Genauigkeit abgeschätzt werden.
Bei allen Frauen ab 65 Jahren sollte eine Knochendichtemessung vorgenommen werden.
Bei Frauen unter 65 Jahren sollte eine Knochendichtemessung nur vorgenommen werden, wenn klinische Faktoren auf ein erhöhtes Osteoporose- und Frakturrisiko hinweisen.
Bei Männern liegt keine ausreichende Evidenz vor, um den Nutzen eines Knochendichtescreenings zur Prävention osteoporotischer Frakturen beurteilen zu können.
höher als bei Männern. Die Prävalenz der primären Osteoporose nimmt jedoch bei beiden Geschlechtern mit dem Alter zu.
Screeningempfehlungen der USPSTF
Zur Prävention osteoporotischer Frakturen empfiehlt die USPSTF für Frauen ab 65 Jahren ein Osteoporosescreening anhand einer Knochendichtemessung (Empfehlungsgrad B). Bei Frauen unter 65 Jahren sollte die Knochendichtemessung dagegen nur durchgeführt werden, wenn klinische Faktoren auf ein erhöhtes Osteoporoserisiko hinweisen (Empfehlungsgrad B). Bei Männern liegt keine ausreichende Evidenz vor, um den Nutzen und die Risiken eines Osteoporosescreenings zur Verhinderung von Frakturen beurteilen zu können (IStatement).
Knochendichtemessung und klinische Risikoabschätzung
Das Risiko für osteoporotische Frakturen kann anhand von Knochendichtemessungen bei Männern und Frauen mit hoher Genauigkeit bestimmt werden. Am häufigsten wird eine zentrale Dual-Röntgen-Absorptiometrie (dual x-ray absorptiometry, DXA) der Hüfte und der Wirbelsäule vorgenommen. Klinische Bewertungsinstrumente wie der Simple Calculated Osteoporosis Risk Estimation (SCORE), das Osteoporosis Risk Assessment Instrument (ORAI), der Osteoporosis Index of Risk (OSIRIS) und das Osteoporosis Self-Assessment (OST) sind mit einer moderaten Genauigkeit zur Prädiktion von Osteoporose und osteoporotischen Frakturen verbunden. Mit dem Fracture Risk Assessment Tool (FRAX) kann das 10-Jahres-Risiko für eine osteoporotische Fraktur abgeschätzt werden.
Nutzen von Früherkennung und präventiver Behandlung
In der Studie Screening for Prevention of Fractures in Older Women (SCOOP) wurde der Nutzen des Osteoporosescreenings in Bezug auf die Frakturraten bei 12 483 postmenopau-
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KOMMENTAR
Zur Person
Dr. med. Luzi Dubs ist Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates. Er ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ARS MEDICI und befasst sich seit vielen Jahren mit den Fallstricken der Evidence Based Medicine.
Negativer Trend zur weiteren Medikalisierung der Gesellschaft
Die Lektüre dieses Updates über Osteoporose-Screening zeigt einmal mehr, wie die Gesellschaft auf raffinierte Weise «medikalisiert» werden soll. Wie fragwürdig die Empfehlungen zu einem breiten Screening sind, soll anhand einiger Fakten in Erinnerung gerufen werden.
Osteoporose-Definition lässt Perzentilenkurven ausser Acht Die Definition der sogenannten Osteoporose wird am Knochendichtewert von 25-jährigen, gesunden Menschen bestimmt. Durch den jährlichen physiologischen Knochenverlust von etwa 1 Prozent wird mit dem T-Score das Alter automatisch zum Risikofaktor gemacht. Die Osteoporose kann aber nur als Krankheit angesehen werden, wenn die Knochendichtemessungen von der jeweiligen Perzentilenkurve abweichen und dementsprechend mit dem Frakturrisiko korrelieren (Z-Score).
Jahren wird nur in der SCOOP-Studie angegeben (mit 12 483 Frauen): Die Reduktion der Hüftfrakturen beträgt gerade einmal 0,9 Prozent, nämlich von 3,5 Prozent ohne und 2,6 Prozent mit Screening. Um eine Hüftfraktur zu verhindern, muss man 112 Frauen fünf Jahre lang behandeln (number needed to treat). Der Effekt ist somit klinisch sehr klein, deswegen brauchte es eine grosse Fallzahl für die gewünschte statistische Signifikanz. Man kann ausrechnen, dass eine medikamentöse Therapie über fünf Jahre 300 000 bis 400 000 Franken kostet, um eine einzige Schenkelhalsfraktur zu vermeiden.
Fazit Bilanzierend vermögen (mich) die Handlungsempfehlungen der USPSTF in dieser Darstellung in keiner Weise zu überzeugen. Sie unterhalten den seit Jahren bestehenden Verdacht, dass beim Thema Osteoporose Interessenvertreter am Werk sind, welche nicht bereit sind, Risiken patientengerecht zu kommunizieren. Dies stimmt immer wieder nachdenklich. Immerhin ist in einem der beiden angeführten Kommentare, die mit den Empfehlungen in JAMA publiziert wurden, ein Ansatz kritischen Denkens erkennbar. Das stimmt etwas zuversichtlich. L
Luzi Dubs
* Geusens P et al.: Performance of risk indices for identifying low bone density in postmenopausal women. Mayo Clin Proc 2001; 77(7): 629–637.
Fragwürdiges Risiko-Assessment Die klinischen Assessment-Tools beziehen sich nebst dem Alter auch auf die Messung des Körpergewichts. Mit dem Osteoporosis Self-Assessment Tool (OST) errechnet man einen Wert aus der Differenz zwischen Körpergewicht und Alter, geteilt durch 5. Wenn der Wert unter 2 liegt, soll ein erhöhtes Osteoporoserisiko bestehen. In der Originalpublikation zum OST* ist für Kollektive mit durchschnittlich tiefem Osteoporoserisiko die Rede von einer Vortestwahrscheinlichkeit von 4 Prozent (4% von diesen Personen haben doch ein erhöhtes Risiko), von einem negativ prädiktiven Wert von zirka 95 Prozent und einer hohen Sensitivität von 90 Prozent. Die tiefe Spezifität des Tests von 8 Prozent wird dort (bewusst?) nicht genannt, ergibt sich aber, wenn man die Werte berechnet (s. Abbildung). Insgesamt liefert der Test somit nicht den geringsten Informationsgewinn mit einem positiv prädiktiven Wert von 3,9 Prozent! Man kreiert dafür 25-mal mehr falsch positive als korrekt positive, das heisst, es müssten 25-mal mehr Gesunde zum Densitometrie-Screening als sogenannt Osteoporosekranke, was die entsprechende Industrie freuen dürfte.
Mortalität im Alter viel bedeutender als Osteoporoserisiko Das 10-Jahres-Frakturrisiko (FRAX), speziell am Schenkelhals, ist sicher eine klinisch relevante Grösse und soll interessieren. Wenn man altersadaptiert das 10-Jahres-Sterberisiko gegenüberstellt, findet man Erstaunliches: Bei einer 60-jährigen Frau sind die beiden Risiken mit 6,5 Prozent nahezu gleich. Bei einer 85-jährigen Frau beträgt das Risiko, innert 10 Jahren zu sterben, 80 Prozent – es ist rund 8-mal höher, als innert 10 Jahren eine Schenkelhalsfraktur zu erleiden (9,5%). Mit zunehmendem Alter wird das Frakturrisiko also immer unbedeutender. Dies wird in den Empfehlungen verschwiegen.
Osteoporosemedikamente bringen weniger, als es scheint Die Senkung des Frakturrisikos durch Medikamente wie Bisphosphonate wird bezeichnenderweise immer noch in relativen Risikoreduktionen angegeben. Der absolute Effekt des Screenings und einer nachfolgenden medikamentösen Behandlung bei Frauen im Alter von 70 bis 85
Abbildung: Vierfelder-Tafel zum Errechnen von Spezifität und Sensitivität eines Diagnoseverfahrens und deren Resultate für ein Kollektiv von Frauen mit niedrigem Osteoporoserisiko im OSTScore (Osteoporosis Self-Assessment Tool). Mit dem OST-Score sollen Frauen identifiziert werden, bei denen eine Knochendichtemessung sinnvoll ist. Die Sensitivität beziffert die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person mit einer Krankheit, oder in diesem Fall einem erhöhten Osteoporoserisiko, tatsächlich erkannt wird. Die Spezifität beziffert, wie sicher eine Erkrankung beziehungsweise ein erhöhtes Risiko bei einer gesunden Person ausgeschlossen wird. Der negativ prädiktive Wert (NPV) gibt an, wie sicher man sich bei einem negativen Befund sein kann, der positiv prädiktive Wert (PPV), wie sicher ein positiver Befund ist. Wie gut das funktioniert, hängt auch davon ab, wie hoch die Prävalenz eines positiven Befunds in dem untersuchten Kollektiv ist. Dies ist bei Screening-Untersuchungen immer zu bedenken. In einem Kollektiv von Frauen mit sehr niedrigem Osteoporoserisiko (Prävalenz 4%) klassifiziert der OST-Score sehr viele Frauen als falsch positiv, sodass zu viele von ihnen zur Knochendichtemessung geschickt werden (Daten gem. Geusens P et al., 2001).
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salen Frauen im Alter von 70 bis 85 Jahren untersucht. In SCOOP zeigte sich kein signifikanter Unterschied der Raten osteoporotischer Frakturen zwischen Frauen, deren Risiko mit dem FRAX-Tool evaluiert worden war, und solchen, die ein Standardmanagement erhalten hatten (12,9% vs. 13,5%; Hazard-Ratio [HR]: 0,94; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,85–1,03). Der primäre Endpunkt – eine Senkung der osteoporotischen Frakturrate – wurde somit in dieser Studie nicht erreicht. Allerdings wurde in SCOOP eine signifikante Reduzierung der Hüftfrakturrate beobachtet (2,6% vs. 3,5%; HR: 0,72; 95%-KI: 0,59–0,89). Aufgrund dieser Daten kam die USPSTF zum Schluss, dass das Screening – gefolgt von einer Behandlung der Osteoporose – bei postmenopausalen Frauen mit einer Prävention osteoporotischer Frakturen verbunden ist.
Medikamente zur Frakturprävention
In Studien zeigte sich, dass die Anzahl der Frakturen bei postmenopausalen Frauen mit Osteoporose verringert werden kann. Mit Bisphosphonaten wurde bei Frauen die Rate vertebraler (relatives Risiko [RR]: 0,57; 95%-KI: 0,41–0,78; 5 Studien; n = 5433) und nicht vertebraler Frakturen (RR: 0,84; 95%KI: 0,76–0,92; 8 Studien, n = 16 438) signifikant gesenkt, die Rate der Hüftfrakturen jedoch nicht (RR: 0,70; 95%-KI: 0,44–1,11; 3 Studien, n = 8988). In einer anderen Studie (n = 7705) wurde mit Raloxifen (Evista®) bei postmenopausalen Frauen eine Reduzierung vertebraler Frakturen beobachtet (RR: 0,64; 95%-KI: 0,53– 0,76), jedoch keine Senkung der Rate nicht vertebraler Frakturen (RR: 0,93; 95%-KI: 0,81–1,06). Mit Denosumab (Prolia®) wurde in einer Studie (n = 7868) bei Frauen eine signifikante Reduzierung vertebraler (RR: 0,32; 95%-KI: 0,26–0,41) und nicht vertebraler Frakturen (RR: 0,80; 95%-KI: 0,67–0,95) sowie von Hüftfrakturen (RR: 0,60; 95%-KI: 0,37–0,97) beobachtet. In einer weiteren Studie wurde bei 2532 postmenopausalen Frauen mit Parathyroidhormon (Teriparatid; Forsteo®) eine signifikante Reduzierung vertebraler Frakturen (RR: 0,32; 95%-KI: 0,14–0,75), jedoch keine Senkung der Rate nicht vertebraler Frakturen (RR: 0,97; 95%-KI: 0,71–1,33) erzielt. Bei Männern wurde mit Parathyroidhormon (eine Studie; n = 298) eine nicht signifikante Reduzierung nicht vertebraler Frakturen beobachtet (RR: 0,65; 95%-KI: 0,11–3,38).
Kommentar: Noch zu wenig Knochendichtemessungen
Jane Cauley von der Universität Pittsburgh (USA) hält das Osteoporosescreening bei Hochrisikopatientinnen unter 65 Jahren für eine wichtige Massnahme, weil bei ihnen angesichts der vielen therapeutischen Optionen eine Frakturprävention möglich ist. Auch wenn in der SCOOP-Studie der primäre Endpunkt nicht erreicht wurde, hält sie den positiven Effekt des Screenings im Hinblick auf die Reduzierung der Hüftfrakturen für bedeutsam.
Das Knochendichtescreening ist ein effektives, kostengünstiges, nicht invasives Verfahren zur Identifizierung von Männern und Frauen mit hohem Frakturrisiko. Die Evaluierung der klinischen Risikofaktoren ist jedoch ebenfalls wichtig, meint die Editorialistin, da bei Personen mit geringer Knochendichte und einer hohen Anzahl von Risikofaktoren das höchste Risiko für eine Hüftfraktur vorliegt. Im Rahmen zukünftiger Forschungsprojekte sollten ihrer Ansicht nach Strategien zur Erhöhung der Screeningraten sowie zur besseren Identifizierung von jüngeren Frauen (50– 64 Jahre) und älteren Männern erarbeitet werden, die von einem Screening profitieren.
Kommentar: Nutzen des zweistufigen Screenings bei Frauen 65 Jahren nicht ausreichend belegt
Margaret Gourley von der University of North Carolina in
Chapel Hill (USA) bemängelt dagegen, dass der Empfeh-
lungsgrad B der USPSTF für ein zweistufiges Screening (kli-
nische Evaluierung des Osteoporoserisikos und ggf. Kno-
chendichtemessung) bei Frauen unter 65 Jahren nicht durch
überzeugende Evidenz untermauert wird. Daher hätte diese
Empfehlung eher als I-Statement formuliert werden sollen.
Die Kommentatorin weist darauf hin, dass keine Daten zum
Nutzen einer Osteoporosebehandlung vorliegen, die im Alter
von 50 bis 59 Jahren begonnen und über 3 bis 4 Jahrzehnte
fortgesetzt wird. Eine frühzeitige Behandlung ist ihrer An-
sicht nach daher keine evidenzgestützte Rationale für ein
Screening im Alter unter 65 Jahren.
Da bei jüngeren Frauen die Frakturraten geringer sind als bei
älteren, bestehe im Alter unter 65 Jahren das Risiko einer
Überbehandlung, die zudem mit Nebenwirkungen wie gast-
rointestinalen Beschwerden, Kieferosteonekrosen oder atypi-
schen Femurfrakturen verbunden sein kann. Auch stünden
dann im Alter ab 70 Jahren, wenn das Risiko für Hüftfraktu-
ren stark zunimmt, weniger Behandlungsoptionen zur Verfü-
gung.
L
Petra Stölting
Quellen: 1. US Preventive Services Task Force: Screening for osteoporosis to prevent
fractures, US Preventive Services Task Force recommendation statement. JAMA 2018; 319(24): 2521–2531. 2. Cauley JA: Screening for osteoporosis. JAMA 2018; 319(24): 2483–2484. 3. Gourlay ML: Osteoporosis screening – 2 steps may be too much for women younger than 65 years. JAMA 2018; 319(24): E1–E2.
Interessenlage: Zu 1) Alle Mitglieder der USPSTF erhalten Reisekostenerstattungen und Honorare für die Teilnahme an USPSTF-Meetings. Zu 2) Die Autorin des referierten Editorials erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. Zu 3) Die Autorin des referierten Editorials hat ein Forschungsstipendium vom National Institute of Aging für eine Beobachtungsstudie zum Osteoporosescreening bei Männern erhalten.
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