Transkript
FORTBILDUNG
Leichte kognitive Beeinträchtigung
Praxisleitlinie aus den USA
Die American Academy of Neurology (AAN) hat ein Update der Guideline zur leichten kognitiven Beeinträchtigung publiziert, das aktuelle Empfehlungen zur Diagnostik und zum Management gibt.
Neurology
Die leichte kognitive Störung (mild cognitive impairment, MCI) ist ein Zustand, bei dem Betroffene eine kognitive Beeinträchtigung aufweisen, die aber nur minimale Auswirkungen auf die Alltagsaktivitäten hat. Ein MCI kann zwar erster Ausdruck einer Alzheimer-Erkrankung sein, aber auch sekundär zu anderen Krankheitsprozessen auftreten. Beim amnestischen MCI stehen Gedächtnisstörungen im Vordergrund, das nonamnestische MCI beschreibt ein Syndrom mit vorwiegender Beeinträchtigung anderer kognitiver Funktionen (z.B. Sprache, Räumlichkeitssehen, Exekutivfunktionen). Die Guideline stellt zunächst vier Fragen und versucht, sie zu beantworten.
Wie hoch ist die MCI-Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung?
Bis anhin wurden recht unterschiedliche Definitionen für das MCI verwendet, und auch die bei der Diagnostik eingesetzten Tests zeigen etliche Unterschiede. Studien unterschiedlicher Qualität ergaben, dass ein MCI bei geringerem Bildungsstand häufiger zu beobachten ist. Zwei Studien ergaben, dass Männer häufiger betroffen sind, andere konnten diesen Unterschied nicht belegen. Eine Metaanalyse bestätigte eine Zunahme der Prävalenz mit steigendem Kohortenalter und bezifferte die Prävalenz mit 6,7 Prozent für 60- bis 64-Jährige, 8,4 Prozent für 65- bis 69-Jährige, mit 10,1 Prozent für 70- bis 74-Jährige, mit 14,8 Prozent für 75- bis 79Jährige und mit 25,2 Prozent für 80- bis 84-Jährige.
MERKSÄTZE
Die Diagnose einer leichten kognitiven Störung (mild cognitive impairment, MCI) muss durch geeignete Tests und eine gesamthafte klinische Beurteilung gestützt werden.
Ein MCI ist vom «normalen Altern» einerseits und von einer Demenz andererseits abzugrenzen.
Manche MCI-Patienten bleiben kognitiv stabil, andere verbessern sich wieder, und bei einigen schreitet die kognitive Beeinträchtigung zur Demenz voran. Bisher gibt es keine diagnostischen Marker, die diese Verläufe vorhersagen lassen.
Zu den Cholinesterasehemmern sind die Ergebnisse beim MCI negativ oder bestenfalls widersprüchlich, sie werden daher in dieser Situation nicht empfohlen.
Günstiger sind die Resultate für regelmässige körperliche Aktivität und kognitive Interventionen beim MCI.
Wie lautet die Prognose für Patienten, bei denen ein MCI diagnostiziert wurde?
Neun Klasse-I-Studien untersuchten die Prognose von MCIPatienten, und alle zeigten eine erhöhte Progression zu einer Demenz im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne MCI. In einer Metaanalyse betrug die kumulative Inzidenz einer Demenzentwicklung über zwei Jahre bei MCI-Patienten im Alter über 65 Jahre 14,9 Prozent.Vier Klasse-I-Studien zeigten eine Rückbildung des MCI in der Nachbeobachtung bei 14,4 bis 38 Prozent der MCI-Patienten. Demgegenüber dokumentierten zwei Studien im Vergleich mit Patienten, die nie eine MCI-Diagnose erhalten hatten, gesamthaft höhere Demenzkonversionsraten bei Teilnehmern, bei denen das MCI zunächst wieder zu normaler Kognition gewechselt hatte.
Welche medikamentösen Therapien sind beim MCI effektiv?
Die Guideline führt eine Reihe von Medikamenten an, die bisher beim MCI untersucht wurden. Donepezil wurde in drei Klasse-I-Studien geprüft. Über drei Jahre war Donepezil hinsichtlich der Progression zu einer Alzheimer-Demenz möglicherweise ineffektiv. Ob Donepezil die Progression auf verschiedenen Kognitionsskalen verzögert, ist unbekannt. Die Konfidenzintervalle konnten einen wichtigen Effekt nicht ausschliessen, und die Veränderung beim ADAS-Cog-Test war zwar statistisch signifikant, aber klinisch nicht bedeutsam. Galantamin wurde in zwei Klasse-II-Studien untersucht und ist wahrscheinlich bei Verabreichung über zwei Jahre hinsichtlich einer Progression zur Demenz ineffektiv. Basierend auf einer Klasse-II-Studie ist die Verabreichung von Rivastigmin über bis zu 48 Monate in der Reduktion der Demenzprogressionsrate möglicherweise ineffektiv. Weder für ein flavonoidhaltiges Getränk noch für verschiedene Vitamine (homozysteinsenkende B-Vitamine, Vitamin E, Vitamin E plus Vitamin C) sowie einige weitere Versuchspräparate fand die Analyse ausreichende Evidenz für eine Wirksamkeit beim MCI. Dies führt zu den äusserst zurückhaltenden Empfehlungen ind der Pharmakotherapie, auch für Cholinesterasehemmer (siehe Kasten 1).
Welche nicht pharmakologischen Behandlungsmöglichkeiten sind beim MCI effektiv?
In zwei Klasse-II-Studien wurden körperliche Trainingsprogramme untersucht. Die Ergebnisse lassen den Schluss zu, dass körperliche Aktivität während sechs Monaten wahrscheinlich die kognitiven Messergebnisse verbessert. Auf Basis einer Klasse-II-Studie und von vier Klasse-III-Studien, die jeweils unterschiedliche Interventionsstrategien anwen-
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
Empfehlungen zum Management bei leichter kognitiver Einschränkung
L Wenn bei Patienten die Diagnose eines MCI gestellt wurde, sollten Medikamente, die zu einer kognitiven Beeinträchtigung beitragen können, wenn möglich und wenn es medizinisch vertretbar ist, abgesetzt und beeinflussbare Risikofaktoren behandelt werden (Empfehlungsgrad B).
L Nach der MCI-Diagnose sollte Patienten und Familien erklärt werden, dass derzeit für keine Medikamente oder Ernährungsergänzungen ein symptomatischer kognitiver Nutzen bei MCI belegt ist (Empfehlungsgrad B).
L Für Patienten mit MCI können Ärzte die Wahl treffen, keine Cholinesterasehemmer anzubieten (Empfehlungsgrad B).
L Falls der Arzt sich entschliesst, Cholinesterasehemmer anzubieten, muss er zuerst mit dem Patienten die Tatsache diskutieren, dass dies eine Off-label-Verschreibung darstellt, die nicht durch empirische Evidenz gestützt wird (Empfehlungsgrad A).
L Wenn sich Patienten mit MCI für eine pharmakologische Behandlung interessieren, kann sie der Arzt über Zentren und Organisationen informieren oder an klinische Studien vermitteln (Empfehlungsgrad C).
L Patienten, bei denen ein MCI diagnostiziert wurde, sollte regelmässiges körperliches Training (2-mal pro Woche) als Teil eines Gesamtmanagements empfohlen werden (Empfehlungsgrad B).
L Mit den Patienten sollten die Diagnose und die Unsicherheiten hinsichtlich der Prognose besprochen werden. Behandelnde Ärzte sollten mit Patienten und Familien Fragen der Langzeitplanung wie Vollmachten, Fahrsicherheit, Finanzen und Erbschaftsangelegenheiten diskutieren (Empfehlungsgrad B).
L Bei MCI sollten Verhaltensauffälligkeiten und neuropsychiatrische Symptome erfasst und diese, wenn indiziert, sowohl mit pharmakologischen als auch mit nicht pharmakologischen Massnahmen behandelt werden (Empfehlungsgrad B).
L Bei Patienten mit MCI können kognitive Interventionen empfohlen werden (Empfehlungsgrad C).
aufweisen, sollte ein positives Testergebnis eine vertiefte Abklärung mit neuropsychologischen Tests nach sich ziehen. Die Diagnose eines MCI stützt sich schliesslich auf eine klinische Gesamtschau mit Erfassung von kognitiver Funktion und Funktionszustand und nicht nur auf einen spezifischen Testscore. Liegt eine kognitive Beeinträchtigung vor, muss zwischen der Diagnose eines MCI und einer Demenz unterschieden werden, auch wenn die Grenze nicht immer klar ist. Eine vorschnelle Demenzdiagnose kann für Patienten und Angehörige negative Auswirkungen haben. Für einen besseren Einblick in den funktionellen Zustand des Patienten ist die Fremdanamnese sehr wichtig. Ärzte, die im Umgang mit kognitiven Problemen unsicher sind, sollten eine Überweisung erwägen. Umgekehrt gehört zur Abklärung bei MCI auch eine körperliche Diagnostik mit Blick auf beeinflussbare Faktoren. Weil Patienten mit MCI sich verbessern, stabil bleiben oder sich kognitiv verschlechtern können, sind Biomarker, die das Risiko stratifizieren können, von grossem Interesse. Zurzeit gibt es jedoch keinen Biomarker, der erwiesenermassen ein Progressionsrisiko anzeigen könnte. Interessierte Patienten können jedoch direkt oder über Hilfsorganisationen an Forschungsinstitutionen vermittelt werden. Da sich der kognitive Zustand von MCI-Patienten in verschiedene Richtungen entwickeln kann, sollte die kognitive Funktion in regelmässigen Abständen überwacht werden, denn dies kann sich auf die Beratung und die Therapie auswirken.
deten, ergibt sich eine unzureichende Evidenz, um kognitive Interventionen zu unterstützen oder zurückzuweisen.
Empfehlungen zur Abklärung bei Verdacht auf MCI
Die Betreuung von Personen mit MCI befindet sich im Fluss. Dies gilt auch für die Diagnostik, in der Biomarker ein sich rasch entwickelndes Forschungsgebiet darstellen. Eine angemessene Diagnose des MCI ist wichtig, da der Zustand mit dem steigenden Anteil älterer Menschen häufiger wird und ein erhöhtes Demenzrisiko trägt. Dies deutet darauf hin, dass es sich um einen pathologischen Prozess handelt und nicht nur um normales kognitives Altern. Die Diagnosestellung ist auch wichtig, weil sie dazu führt, nach reversiblen Ursachen zu suchen, und den Patienten und ihren Angehörigen hilft, den Anlass ihrer Sorge einzuordnen. Dem steht die Befürchtung gegenüber, dass potenziell Ängste ausgelöst werden wegen einer Störung, die vielleicht gar nicht fortschreitet. Dennoch raten die Empfehlungen davon ab, die Beunruhigung von Patient und/oder Angehörigen mit dem Hinweis auf «normales Altern» abzutun, ohne eine nähere kognitive Prüfung vorzunehmen (Kasten 2). Zwar reichen subjektiv wahrgenommene Defizite nicht zur MCI-Diagnose, sie sind aber immer ein Hinweis auf eine mögliche Veränderung der kognitiven Funktion. Um diese besser zu erfassen, eignen sich verschiedene validierte Befragungsinstrumente. Da solche kurzen Abklärungsinstrumente gewöhnlich so kalibriert sind, dass sie eine maximale Sensitivität
Empfehlungen zum Management bei MCI
In einigen Fällen ist ein MCI mit reversiblen Ursachen assoziiert, die es zunächst zu erkennen gilt. Dazu gehören Medikamentennebenwirkungen, Allgemeinerkrankungen, Schlafstörungen und Depressionen. Diese Faktoren können modifiziert werden, und sie sind daher ein wichtiger Teil des Managements – um so mehr, da die symptomatischen Behandlungsoptionen bei MCI sehr beschränkt sind. So gibt es keine von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) zur Therapie bei MCI zugelassenen Medikamente (die Guideline enthält entsprechend keinerlei Hinweise zu in Europa bei abnehmender Kognition eingesetzten Phytotherapeutika). Nach Einschätzung der Autoren der Praxisleitlinie gibt es keine Langzeitstudien hoher Qualität, die für Medikamente oder Nahrungsergänzungen eine Verbesserung der Kognition oder eine Verlangsamung der Verschlechterung bei MCI-Patienten belegen. Dies sollte auch mit Patienten und Angehörigen besprochen werden. Bisherige Studien mit Cholinesterasehemmern bei MCI konnten keinen Nutzen für den kognitiven Verlauf oder eine Reduktion beim Fortschreiten zur Demenz belegen, obwohl einige Studien einen gewichtigen Effekt nicht ausschliessen konnten. Neben der fehlenden Wirksamkeit mahnen auch die Nebenwirkungen dieser Substanzen zur Zurückhaltung. Dies findet in den «Kann»-Formulierungen der entsprechenden Empfehlungen (Kästen 1 und 2) seinen Niederschlag.
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FORTBILDUNG
Kasten 2:
Empfehlungen zur Abklärung bei Verdacht auf leichte kognitive Einschränkung
L Wenn der Patient oder eine enge Kontaktperson Besorgnis über das Gedächtnis oder eine beeinträchtigte Kognition äussert, sollte eine Abklärung auf MCI erfolgen und nicht angenommen werden, dass die Sorge auf dem normalen Altern beruht (Empfehlungsgrad B).
L Im Rahmen von Check-up-Untersuchungen sollte zur Erfassung eines MCI nicht nur auf die Anamnese für subjektive Gedächtnisstörungen abgestellt werden (Empfehlungsgrad B).
L Erscheint ein Screening oder eine Abklärung auf MCI als indiziert, sollten validierte Tests für kognitive Beeinträchtigung eingesetzt werden (Empfehlungsgrad B). Bei einem positiven Testergebnis sollte eine formelle klinische Abklärung erfolgen (Empfehlungsgrad B).
L Bei Patienten mit MCI sollten vor der Diagnose einer Demenz nach Zeichen für eine funktionelle Beeinträchtigung der Kognition gesucht werden (Empfehlungsgrad B).
L Bei Verdacht auf ein MCI sollten Ärzte ohne die notwendige Erfahrung eine Überweisung an einen in Kognition erfahrenen Spezialisten vornehmen (Empfehlungsgrad B).
L Bei Patienten mit der Diagnose eines MCI sollte eine medizinische Evaluation auf potenziell beeinflussbare Risikofaktoren erfolgen (Empfehlungsgrad B).
L Mit interessierten Patienten können die Option der Erforschung von Biomarkern und eine Überweisung an entsprechende Zentren oder Organisationen diskutiert werden (Empfehlungsgrad C).
L Bei Patienten mit der Diagnose eines MCI sollten Kontrolluntersuchungen im Zeitverlauf erfolgen, um Veränderungen beim Kognitionszustand zu überwachen (Empfehlungsgrad B).
Günstiger ist die Evidenzlage für regelmässige
körperliche Aktivität, die daher für Patienten
mit MCI empfohlen wird (Empfehlungsgrad
B). Mit dem geringeren Empfehlungsgrad C
äusserst sich die Guideline auch positiv zu ko-
gnitiven Interventionen bei MCI.
Da effektive pharmakologische Therapien feh-
len und es auch keine bewiesenen Methoden zur
Reduktion des Progressionsrisikos gibt, kommt
der Beratung von Patienten und Angehörigen hin-
sichtlich Diagnose und Prognose grosse Bedeu-
tung zu. Dies ermöglicht auch, Langzeitplanun-
gen, Patientenverfügungen oder die Regelung
materieller Belange in Angriff zu nehmen, solange
die Kognition nicht gravierend beeinträchtigt ist.
Schliesslich ist es auch von grosser praktischer
Bedeutung, Verhaltensauffälligkeiten und neu-
ropsychiatrische Symptome zu erkennen und
diese gegebenenfalls mit pharmakologischen
und nicht pharmakologischen Massnahmen zu
behandeln.
L
Halid Bas
Quelle: Petersen RC et al.: Practice guideline update summary: mild cognitive impairment. Report of the Guideline Development, Dissemination, and Implementation Subcommittee of the American Academy of Neurology. Neurology 2018; 90: 126–135. Interessenlage: Die Autoren der referierten Originalpublikation deklarieren mannigfache finanzielle Beziehungen zu Firmen mit Interessen auf dem Gebiet der Psychopharmakologie.
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