Transkript
FORTBILDUNG
Woher kommen die Ödeme?
Diagnostik und Therapie bei dicken Beinen
Schwellungen im Bereich der Beine können vielfältige Ursachen haben. Oft stecken Ödeme dahinter, wobei neben dem Phlebödem in erster Linie an Lymph- oder Lipödeme zu denken ist. Wie die verschiedenen Ödemarten gekennzeichnet sind und welche Untersuchungen zur Diagnose führen, wird im folgenden Beitrag dargestellt.
Michaela Heidemann, Roman Zimmer
In der Hausarztpraxis stellen sich oft Patienten mit geschwollenen Beinen vor. Die Palette möglicher Differenzialdiagnosen ist breit (Abbildung 1). Beim Verdacht auf eine tiefe Beinvenenthrombose oder auf eine akute Infektion muss eine kurzfristige und genaue Abklärung erfolgen. Sollte der Arzt zu keinem konkreten Ergebnis kommen, ist die Vorstellung in einer spezialfachärztlichen Sprechstunde, zum Beispiel bei einem Gefässspezialisten, sinnvoll. Die weiteren Differenzialdiagnosen lassen sich meist schon durch die Anamneseerhebung und die klinische Untersuchung eingrenzen. Doch wie geht es weiter, wenn es sich um eine Lipohypertrophie, ein Lipödem, ein Lymphödem oder gar eine Mischform handelt?
Reiterhosenphänomen und negatives Stemmer-Zeichen
Das Lipödem ist häufig und betrifft mit einem Anteil von mindestens 10 Prozent weltweit fast ausschliesslich Frauen (1). Männer zeigen derartige Veränderungen nur bei hormonel-
MERKSÄTZE
Die Palette möglicher Differenzialdiagnosen bei geschwollenen Beinen ist breit. Bei Verdacht auf tiefe Beinvenenthrombose oder auf eine akute Infektion muss eine kurzfristige und genaue Abklärung, gegebenenfalls in einer spezialfachärztlichen Sprechstunde, erfolgen.
Auch die Abgrenzung von Lipohypertrophie, Lipödem, Lymphödem oder von Mischformen ist mitunter schwierig und die Vorstellung bei einem Gefässspezialisten daher sinnvoll.
Therapieziel ist einerseits, die Beschwerden zu lindern, und andererseits, Komplikationen zu verhindern. Dazu stehen konservative (Kompression, komplexe manuelle Entstauung, regelmässige körperliche Aktivität) und gegebenenfalls invasive Therapieoptionen (Fettabsaugung, plastische Chirurgie, Kryolipolyse) zur Verfügung.
len Störungen (z.B. Hypogonadismus), einer Hormontherapie oder infolge einer Leberzirrhose (2). Nach der Anamneseerhebung führt die Untersuchung wegen der typischen Charakteristika wie Disproportion der Fettverteilung von Ober- zu Unterkörper, Aussparung der Füsse beziehungsweise der Hände und auffälliger Druckdolenz häufig schon zur Diagnose. Ein weiteres Anzeichen ist das negative Stemmer-Zeichen. Normalerweise lässt sich die Haut über der Grundphalanx der zweiten und dritten Zehe abheben (= positives StemmerZeichen). Bei zunehmender Fibrosierung der Haut ist dies nicht mehr möglich. Weitere Parameter wie Gewicht, Body-Mass-Index (BMI), «waist-hip ratio», «waist-height ratio» und Umfangsmessungen der Extremitäten (3) sind zudem zu erfassen. Sie dienen der Verlaufskontrolle, um die Umfangsreduktion dokumentieren zu können, die durch die Therapiemassnahmen erreicht wurde. Zur Abgrenzung verschiedener Ödemtypen haben sich die in der Tabelle genannten Kriterien als sehr praktisch erwiesen. Eine Diagnose zu stellen, ist nicht immer einfach, denn oft liegen gemischte Ödeme vor. Um keine begleitende chronisch venöse Insuffizienz oder Lymphabflussstörung zu übersehen, ist die Vorstellung der Patientinnen bei einem Gefässspezialisten (Angiologe, Phlebologe oder Gefässchirurg) sinnvoll.
Das Lipödem – nur eine feminine Körperkonstitution?
Die chronische und progrediente Verteilungsstörung des Fettgewebes bedingt eine Disproportion von Stamm und Extremitäten (4). Die Patientinnen klagen über ein Schwereund Spannungsgefühl der Beine, eine feste Schwellung, Druckschmerzhaftigkeit und Hämatomneigung. Sie suchen häufig die Schuld bei sich selbst und sind durch ihre veränderte Körperkonstitution teilweise psychisch stark belastet. Das passende Gegenargument liefern die in der Literatur beschriebenen familiären Häufungen. Child berichtete 2010, dass sich in sechs Familien mit Lipödem ein autosomal-dominantes Vererbungsmuster mit inkompletter Penetranz über drei Generationen dokumentieren liess (2).
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chronisch venöse Insuffizienz
tiefe und oberflächliche Venenthrombose
dicke Beine
Infektion
primäres/sekundäres Lymphödem
degenerative Gelenkveränderungen
Lipödem Gefässmalformationen
Tumorerkrankungen Dependency-Ödem
Abbildung 1: Mögliche Differenzialdiagnosen beim «dicken Bein»
Tabelle :
Ödemtypen: typische Merkmale
Lipödem
Fettvermehrung Disorption Ödem Druckschmerz Hämatomneigung
+++ +++ +++ +++ +++
Lipohypertrophie +++ +++ Ø Ø (+)
Adipositas
+++ (+) (+) Ø Ø
Lymphödem
(+) + +++ Ø Ø
Über die Arterien wird das Blut bis zum grossen Zeh gepumpt. 90% des Blutes fliessen durch die Venen zum Herzen zurück.
Die restlichen etwa 10 Prozent werden über das zweite Rücklaufsystem, die Lymphgefässe, zum grossen Kreislauf zurücktransportiert.
Abbildung 2: Funktion der Lymphgefässe
Lymphflüssigkeit wird über kleine Poren von den Lymphgefässen aufgenommen und nach oben gepumpt.
Verengung der Lymphgefässe durch vermehrte Fetteinlagerungen. Der Rückfluss der Lymphflüssigkeit ist damit blockiert.
Abbildung 3: Verteilung und Stadien des Lipödems
Was steckt dahinter?
Beim Lipödem kommt es zu einer Hypertrophie und einer Hyperplasie der Fettzellen. Die umgebenden Lymphbahnen werden komprimiert, sodass der Lymphabfluss behindert wird (Abbildung 2). Durch eine erhöhte Kapillarpermeabilität tritt zusätzlich Flüssigkeit in den interstitiellen Raum aus. Die Kapillarfragilität ist für die Hämatomneigung verantwortlich. Die begleitende Lymphkomponente führt beim Lipödem zwar meist nicht zu einem positiven Stemmer-Zeichen, ist aber dennoch vorhanden. Mit zunehmendem Alter kann das an sich intakte Lymphsystem das erhöhte Flüssigkeitsangebot nicht mehr bewältigen, und die Ödemneigung nimmt zu (Abbildung 3). In der Orthostase begünstigt der gestörte venoarterielle Reflex (VAR) das Ödem (5). Im fortgeschrittenen Stadium sklerosiert dann die Dermis zunehmend. Die sichtbar werdende Papillomatose wird durch die Proliferation der Fibroblasten verursacht (6).
Therapieansätze – konservativ oder invasiv?
Therapieziel ist einerseits, die Beschwerden zu lindern, und andererseits, Komplikationen zu verhindern. So können etwa Infektionen, aber auch die strukturellen Veränderungen des Beins (Wulstbildungen im Bereich der Oberschenkelinnen- oder auch Knieinnenseiten) zu einer langfristigen Einschränkung der Lebensqualität und sogar der Berufsfähigkeit führen. Im Fokus der Therapie steht die Begleitung der Patientin. Dabei sollte der Arzt eine hohe Akzeptanz für die wichtigen Grundpfeiler der konservativen Therapie wie Kompression, komplexe manuelle Entstauung sowie regelmässige körperliche Aktivität erreichen. Mit einem «einfachen» Konfektionsstrumpf der Klasse 2 ist es meist nicht getan, vielmehr muss eine Massanfertigung eines flachgestrickten Strumpfs erfolgen. Warum ist das so wichtig? Der Verlauf der Elastanfaser und die konstante Maschenanzahl beim rundgestrickten Strumpf können zu Abschnürungen auf verschiedenen Höhen des Beins führen. Vorteile des flachgestrickten Strumpfs sind die massgenaue Anfertigung für die Patienten – unter Berücksichtigung der Beinanatomie – und der Faserverlauf. Durch die bessere Druckverteilung nimmt der Tragekomfort zu – allerdings auf Kosten der Optik. Hier ist ein Heranführen der Patientin an die Therapie wichtig, damit sie deren Vorteile erkennt. Nur so lässt sich die notwendige Compliance erreichen. Die Zusammenarbeit der beteiligten Lymphtherapeuten, Orthopädisten, aber auch Gefässmediziner ist zudem sehr wichtig. Zum Therapiekonzept gehört auch die Überprüfung der Essgewohnheiten, der Begleitmedikation und der Bewegung. Insbesondere körperliche Aktivitäten, die im Wasser erfolgen, entlasten die Gelenke. Der Wasserdruck wirkt dabei wie eine Lymphdrainage (7). Durch ein invasives Vorgehen mit Fettabsaugung, plastischer Chirurgie oder neue Methoden, wie die Kryolipolyse, lässt sich vermehrtes Fettgewebe abbauen (8). Bei der Kryolipolyse wird das Fettgewebe von aussen auf 4 bis 5 Grad abgekühlt. Dies führt zum Zelluntergang, und die abgestorbenen Zellen werden im weiteren Verlauf abgebaut. Die Kosten müssen die Patientinnen aber selbst tragen. Eine Metaanalyse von 2015 zeigt, dass mit einmaliger Anwendung der Kryolipolyse eine Volumenreduktion lokal um durchschnittlich 20
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Vereinigung Lipödem Schweiz
Vom Lipödem betroffene Frauen haben die schweizweite SelbsthilfeVereinigung Lipödem gegründet. Die Vorstandsmitglieder sind ehrenamtlich tätig und selbst vom Lipödem betroffen. Betroffene finden auf der Homepage der Vereinigung Wissenswertes über die Behandlungsmöglichkeiten sowie Listen mit den Adressen von Spezialisten und regionalen Selbsthilfegruppen.
https://www.lipoedem-schweiz.ch
Prozent bei sehr geringen Nebenwirkungen von 0,8 Prozent (Missempfindungen) erzielt werden kann. Leider liegen für diese Behandlung noch keine gesicherten Langzeitergebnisse vor. Die Nachbeobachtungszeit betrug im Schnitt nur 4 bis 6 Monate (9). Chirurgisch hat sich die Liposuktion in Tumeszenzanästhesie durchgesetzt (1). Sie führt meist langfristig zu einem deutlichen Rückgang der Beschwerden. Kompressionstherapie und manuelle Entstauung können dann oft pausiert werden. In der Schweiz werden manuelle Lymphdrainage, Kompressionsstrümpfe und Ernährungsberatung von den Krankenkassen bezahlt. Nicht getragen wird, ausser in Ausnahmesituationen, die vibrationsassoziierte Liposuktion in Tumeneszenzanästhesie. Am 12. Juni 2017 wurde durch die Vereinigung Lipödem Schweiz (s. Kasten) die Petition «Krankheit Lipödem in den Leistungskatalog» beim BAG eingereicht. Ein Bescheid steht noch aus. In Deutschland empfiehlt der Gemeinsame Bundesausschuss (das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen in Deutschland) derzeit keine Kostenübernahme für die Liposuktion. Um die noch offenen
Fragen zu klären und neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu
erlangen, nutzt der G-BA deshalb eine Erprobungsstudie.
Richtlinien dazu werden für 2018 erwartet (10).
Die Kombination der einzelnen konservativen und gegebe-
nenfalls der invasiven Therapieoptionen macht das Ziel – die
Verbesserung der Beschwerden und der Lebensqualität der
Patientinnen – erreichbar.
L
Dr. med. Michaela Heidemann Gefässpraxis am Löwenplatz 6004 Luzern E-Mail: gefaesspraxis-loewenplatz@hin.ch
Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Literatur: 1. Buck DW II, Herbst KL: Lipedema: a relatively common disease with ex-
tremely common misconception. Plast Reconstr Surg Glob Open 2016; 4(9): e1043. 2. Child AH et al.: Lipedema: an inherited condition. Am J Med Genet A 2010; 152A(4): 970–976. 3. S1-Leitlinien Lipödem, AWMF Registernummer 037- 012, Stand 10/2015. 4. Forner-Cordero I et al.: Lipoedema – an overview of it’s clinical manifestations, diagnosis and treatment of the disproportional fatty deposition syndrome – systematic review. Clin Obes 2012; 2: 86–95. 5. Herperz U: Ödeme und Lymphdrainage. Diagnose und Therapie. Lehrbuch der Ödematologie. 5. Aufl. Stuttgart: Schattauer 2014. 6. Földi M et al.: Lehrbuch der Lymphologie. Stuttgart, New York: Gustav Fischer 2005. 7. S2k-Leitlinie Diagnostik und Therapie der Lymphödeme, AWMF Registernummer Nr. 058-001, Stand 05/2017. 8. Ingargiola MJ et al.: Cryopipolysis for rat reduction and body contouring: safety and efficacy of current treatment paradigms. Plast Reconstr Surg 2015; 135(6): 1581–1590. 9. Derrick CD et al.: The safety and efficacy of cryolipolysis: a systematic review of available literature. Aesthet Surg J 2015; 5(7): 830–836. 10. Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA), Pressemitteilung, Berlin 20.07.2017.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 1/2018. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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