Transkript
STUDIE REFERIERT
Anaphylaxie nach Bienen- oder Wespenstich
Abklärung und Prophylaxe in der Praxis mangelhaft
Menschen mit Insektengiftallergie können nach einem Wespen- oder Bienenstich eine lebensbedrohliche Anaphylaxie entwickeln. Um weitere anaphylaktische Reaktionen zu vermeiden, sollte sich eine prophylaktische Langzeittherapie anschliessen. Gemäss einer neuen Studie klappt das in der Praxis jedoch noch nicht zufriedenstellend.
Allergo Journal International
Bis zu 3,5 Prozent der Bevölkerung entwickeln als Reaktion auf Stiche durch Hymenoptera (Hautflügler wie z.B. Bienen und Wespen) systemische anaphylaktische Reaktionen. Diese akuten Reaktionen manifestieren sich häufig als medizinische Notfälle, und die betroffenen Patienten sollten eine für eine anaphylaktische Reaktion angemessene medizinische Notfallbehandlung erhalten. Hat der Patient sich von dem akuten Ereignis erholt, sollte er weiterhin ärztlich betreut werden. Zur prophylaktischen Langzeittherapie zählen Patientenedukation bezüglich einer Expositionsprophylaxe, Notfallmedikamente zur Selbstbehandlung und spezifische Immuntherapie (SIT). Aktuelle Leitlinien enthalten unter anderem spezifische Empfehlungen für das Management der Akutsituation, für die diagnostische Abklärung, für die Verordnung und Anwendung von Notfallmedikamenten zur Selbstbehandlung sowie für die SIT. Damit liegen detaillierte Empfehlungen für die Patientenbetreuung vor, doch gab es bisher keine
MERKSÄTZE
Patienten, die auf einen Bienen- oder Wespenstich mit einer Anaphylaxie reagiert haben, sollten bereits während der Initialbehandlung nach dem Indexereignis über die Notwendigkeit der diagnostischen Abklärung und über Behandlungsoptionen zur Vermeidung weiterer Insektengiftanaphylaxien informiert werden.
Zudem sollten diese Patienten an einen Allergologen überwiesen werden.
Untersuchungen darüber, wie diese Leitlinienempfehlungen nach einem Indexereignis (erste anaphylaktische Reaktion) in die Praxis umgesetzt werden. Nun liegt erstmals eine Studie aus Deutschland dazu vor; für die Schweiz gibt es derzeit noch keine vergleichbaren Studien. In der deutschen Studie wurde untersucht, welche Nachbetreuung Patienten hinsichtlich Notfallmedikation, Untersuchungen durch einen Allergologen, diagnostischer Abklärung und SIT erhalten. Für diese retrospektive Untersuchung wurden die Krankenakten dreier regionaler Notfallzentren (Freiburg, Bad Krozingen und Göppingen) durchgesehen und insgesamt 548 Patienten mit einer anaphylaktischen Reaktion nach Insektenstich in der Anamnese identifiziert. Diese Patienten bekamen auf dem Postweg Fragebögen zugestellt, die Fragen zu vier Hauptthemen enthielten: L Art und Schweregrad der anaphylak-
tischen Reaktion (7 Fragen) L Behandlung in der Notfallsituation
(5 Fragen) L Krankheitsmanagement, Diagnostik
und Notfallmedikation (17 Fragen) L SIT (10 Fragen).
Zusätzlich wurden allgemeine demografische Daten abgefragt. Insgesamt sandten 148 Patienten (27%) den Fragebogen zurück, 126 Fragebögen konnten ausgewertet werden.
Schweregradeinteilung
Entsprechend der berichteten Symptomatik wurden die Patienten gemäss den von Ring und Messmer vorgeschlagenen Kriterien in vier Gruppen unterschiedlicher Schweregrade eingeteilt:
L Grad 1 (mildeste Ausprägung; 7 Patienten)
L Grad 2 (30 Patienten) L Grad 3 (81 Patienten) L Grad 4 (8 Patienten).
Über 70 Prozent der Patienten wussten zum Zeitpunkt der Notfallintervention nichts von ihrer Allergie, 80 Prozent wurden nach Stabilisierung der initialen Reaktion zur weiteren Überwachung in ein Krankenhaus eingewiesen.
Initiales Follow-up
55 Prozent der Patienten erinnerten sich daran, im Rahmen des Indexereignisses Empfehlungen für die Weiterbetreuung mit Informationen über die erforderliche Diagnostik und/oder Behandlungsoptionen erhalten zu haben. Fast 70 Prozent bekamen während der Initialbehandlung keinen Allergiepass ausgehändigt, und mehr als 40 Prozent berichteten, während ihrer Akutbehandlung kein Rezept für Notfallmedikamente erhalten zu haben. Lediglich 17 Prozent erhielten schriftliche und mündliche Informationen darüber, wie sie in Zukunft Insektenstiche vermeiden könnten, während 35 Prozent nicht über eine Allergenvermeidung aufgeklärt wurden.
Verschreibung von Notfallmedikamenten zur Selbstbehandlung
Aktuelle Leitlinien empfehlen die Verordnung von oralen Glukokortikoiden, oralen Antihistaminika und AdrenalinAutoinjektoren. 90 Prozent der Patienten berichteten, dass sie während der Nachbehandlung Notfallmedikamente verordnet bekamen, nur 60 Prozent erhielten dieses Re-
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zept jedoch während der Initialbehandlung. Lediglich 77 Prozent der Patienten mit Notfallmedikation bekamen einen Adrenalin-Autoinjektor verordnet, und 47 Prozent dieser Apparaturen waren zum Zeitpunkt der Befragung bereits abgelaufen. Nach Einlösung des Rezepts wandten 32 Prozent der Patienten ihre Notfallmedikation mindestens einmal an. 43 Prozent der Patienten trugen nach eigenen Angaben ihre Notfallmedikamente selten oder nie bei sich, wobei viele Patienten als Grund hierfür die Grösse des Autoinjektors nannten.
Überweisung zum Allergologen und durchgeführte Diagnostik
Nach der initialen Notfallbehandlung erhielten fast 40 Prozent der Patienten keine Überweisung zum Allergologen. Nur 46 Prozent berichteten, dass sie zur Nachbeobachtung einen Allergologen aufgesucht hätten. Fast ein Viertel der Patienten (28 von 126) erhielten nach dem Indexereignis keinerlei diagnostische Abklärung. 98 Patienten unterzogen sich einer Diagnostik, 81 davon berichteten, dass sich
bei ihnen das Vorliegen einer Hymenopterengiftallergie bestätigte.
Spezifische Immuntherapie
70 Prozent wurden über die SIT informiert, 50 Prozent begannen mit einer entsprechenden Therapie. 30 Prozent schlossen die SIT ab, bei weiteren 13 Prozent ist die SIT noch nicht abgeschlossen. Von den 62 Patienten, die keine SIT begannen, hatte fast die Hälfte weder eine diagnostische Abklärung noch Informationen über die Behandlungsoption SIT erhalten.
Patienten gleich bei der ersten Anaphylaxie umfassend informieren!
Eine wichtige Erkenntnis aus der südwestdeutschen Studie ist, dass Patienten sofort bei der ersten anaphylaktischen Reaktion eine weitere medizinische Betreuung empfohlen werden sollte. Denn Patienten, die noch in der Notaufnahme über diagnostische und therapeutische Optionen informiert wurden, erhielten häufiger eine Überweisung zum Allergologen (70% vs. 17%), öfter eine dia-
gnostische Abklärung (88% vs. 59%), und es wurde weitaus häufiger eine SIT eingeleitet (89% vs. 64%).
Fazit der Autoren
Notfallteams, Hausärzte und Patienten
seien über die Relevanz der Hymenopte-
rengiftallergie und das korrekte Follow-
up nicht ausreichend informiert, kritisie-
ren die Studienautoren. Nach dem
Indexereignis würden präventive Mass-
nahmen wie Aufklärung des Patienten
hinsichtlich Allergenkarenz, regelmäs-
sige Kontrolle der Notfallmedikation
und Überweisung an einen Allergologen
nicht adäquat umgesetzt und damit
Möglichkeiten der Sekundär- und Ter-
tiärprävention anaphylaktischer Reak-
tionen aufgrund einer Insektengift-
allergie versäumt.
L
Andrea Wülker
Quelle: Manmohan M et al.: Current state of follow-up care for patients with Hymenoptera venom anaphylaxis in southwest Germany. Allergo J Int 2018; 27(1): 4–14.
Interessenlage: Einer der Autoren der referierten Originalstudie hat Forschungsgelder und Honorare von verschiedenen Firmen erhalten.
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