Transkript
FORTBILDUNG
Der aggressive Patient in der Hausarztpraxis
Sicherheit ist Voraussetzung für professionelle Arbeit
Ein Grossteil von Berufstätigen in der Psychiatrie und auf Notfallstationen sind im Verlauf ihrer Berufstätigkeit von Gewaltvorfällen betroffen. Da in der Hausarztpraxis häufig psychiatrisch Kranke behandelt werden, ist Sicherheit auch hier Voraussetzung für deren Behandlung und Betreuung. Welche Vorkehrungen können Sie treffen? Im Folgenden werden praxisnahe Empfehlungen für den hausärztlichen Alltag gegeben.
Manuel Rupp
Bedrohliche Vorkommnisse und die verständliche Angst davor bedeuten eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensqualität bei der Arbeit. Angst ist ein normaler, geradezu lebenserhaltender Affekt. Angst motiviert uns, wirksame Schutzvorkehrungen zu treffen. Wenn wir nichts unternehmen, blockiert die Angst unser Denken und verleitet zu unangemessener Verhaltensweise und Behandlungsfehlern. Doch welche Vorkehrungen lassen sich gegen bedrohliche Situationen treffen? Die Mitarbeitenden in einer Praxis können viel zur Prävention beitragen.
Risikosituationen für aggressives Verhalten von Patienten
Ein erhöhtes Risiko für aggressive Vorkommnisse entsteht, wenn das Personal gestresst ist und L zum Beispiel Patienten und Patientinnen, die lange werden
warten müssen, nicht darauf vorbereitet. L zu Patientinnen und Patienten ungeduldig oder gar missmu-
tig Kontakt aufnimmt (forsche Ansprache, respektlose Körperhaltung, keine kurze persönliche Vorstellung, keinerlei Blickkontakt, Multitasking während der Kontaktaufnahme mit dem Patienten, indiskretes Erfragen persönlicher Patientendaten, Einbezug in Laboruntersuchungen ohne weitere Begründung).
MERKSÄTZE
Selbstschutz hat Vorrang vor professionellen Aufgabenstellungen.
Spannungsverminderung kann zur Reduktion der Belastung beitragen, dabei ist pragmatisch vorzugehen.
Zur Gewährleistung der Sicherheit müssen alle notwendigen Mittel eingesetzt werden, bei Bedarf soll die Polizei zugezogen werden.
Eine nachhaltige Gewaltprävention bedarf eines respektvollen, verbindlichen Umfelds.
Das Verhalten des Arztes unter Stress kann provozierend wirken, wenn er L sich zu rasch einem noch unbekannten, eher reserviert
wirkenden Menschen nähert und diesen ohne einfühlende Bezugnahme übergangslos präzise ausfragt oder gleich körperlich untersucht L Auseinandersetzungen mit einem Patienten vor Publikum austrägt L Patienten hastig schwer verständliche (Fachsprache!) Informationen mitteilt, sodass Missverständnisse entstehen. Heikel sind zudem folgende Situationen: L das Überbringen schlechter Nachrichten L das Nichteintreten auf eingeforderte Gefälligkeitsleistungen (z.B. Abgabe von Medikamenten mit Suchtpotenzial, Gefälligkeitsdispensationen).
Risikopersonen stehen in der Regel unter Stress
Wenn Patientinnen oder Patienten aggressiv auftreten, stehen diese meist auch unter Stress. Besonders achtsam zu sein empfiehlt sich bei L Personen, die drohen oder durch ihr Verhalten Angst auslösen L Personen mit einer Vorgeschichte von ausgeübter oder erlit-
tener Gewalttätigkeit (Traumatisierte) L Berauschten (Alkohol, Drogen) mit verminderter Impuls-
kontrolle L Menschen mit einer akuten paranoiden Schizophrenie L reizbaren Patienten wie zum Beispiel hirnverletzten oder
dissozialen oder emotional instabilen Patienten L Personen, die sich ungerecht behandelt, in die Ecke getrie-
ben oder gedemütigt fühlen L gestressten Angehörigen (z.B. von dementen Patienten)
mit ambivalenten Erwartungen an die Behandelnden (nach der Art: «Helfen Sie! Aber seien Sie nicht erfolgreicher mit ihrer Hilfe als wir, da wir ja das Beste gegeben haben!») L Menschen mit Verständigungsschwierigkeiten beziehungsweise geringer Selbstkompetenz L Personen, die im Gespräch nicht mehr erreichbar sind (z.B. bei Wahnkranken, besonders wenn sie Betreuende in ihr Wahnsystem einbeziehen).
488
ARS MEDICI 11 | 2018
FORTBILDUNG
Kombinationen mehrerer Faktoren erhöhen natürlich das Risiko, besonders wenn es sich um junge Männer handelt. Zwei Beispiele, bei denen mit aggressivem Verhalten gerechnet werden muss: Ein 24-jähriger Opiatabhängiger auf Entzug muss ohne entsprechende Information lange warten, das Personal äussert sich auf seinen Protest schnippisch zurechtweisend, der Arzt ist verständlicherweise nicht bereit, auf Druck des Patienten ein Betäubungsmittel zu verordnen, und reagiert verbal rabiat. Oder ein adoleszenter, traumatisierter Patient aus Sierra Leone, der sich durch erlebten Rassismus gedemütigt fühlt und zugleich den Arzt weder sprachlich noch kulturell versteht, was den Arzt ungeduldig werden lässt, was der Patient wiederum als Entwürdigung erlebt.
Vorbeugung: Kultur von Wohlwollen, Respekt und Verbindlichkeit
«C’est le ton qui fait la musique.» Die Atmosphäre beim Empfang ist von zentraler Bedeutung. Die Stimmung unter den Praxisangestellten, die Freundlichkeit bei der Begrüssung, die Aufmerksamkeit, die das Personal dem Patienten entgegenbringt, die Diskretion bei der Entgegennahme der Patientendaten und die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der ersten Informationen durch das Personal beeinflussen die Gestimmtheit des Patienten wesentlich. In der Wartezeit geschieht ebenfalls Wichtiges. Die Patienten sind wegen ihrer gesundheitlichen Störung in Sorge und wissen, dass der Arzt meist wenig Zeit hat. Sie fühlen sich in existenzieller Weise abhängig vom Doktor, und zugleich sind sie bereits verwirrt durch Vermutungen und gute Ratschläge aus ihrem Bekanntenkreis und dem Internet; ihre Erwartungen sind hoch und ihre Befürchtungen gross. Wenn Sie den Patienten begrüssen, geraten Sie mitten in ein Gespräch, dessen Verlauf Sie noch nicht kennen, und Sie können höchstens erahnen, was Sie jetzt erwartet. Sie brauchen einen Moment, um herauszufinden, welche Rolle Ihnen zugedacht wird und inwieweit die Anliegen der ratsuchenden Person Ihren Hilfemöglichkeiten entspricht. Es bewährt sich deshalb auch hier eine wohlwollend-neugierige, respektvoll-zugewandte und abgegrenzt-verbindliche Haltung und zum Auftakt ein kleiner Bezug zur letzten Konsultation. Beginnen Sie das Gespräch am besten mit offenen Fragen zum aktuellen Befinden, zum bisherigen Verlauf und jetzigen Anliegen. Das aktive Zuhören wird Ihnen vertraut sein (ausreden lassen, mit eigenen Worten wiederholen, was der Patient sagt, das Emotionale im Sinne einer vorsichtigen Vermutung spiegeln, wichtige Inhalte – Probleme, Störungshypothesen des Patienten und dessen Anliegen – zusammenfassen), bevor Sie zu ergänzenden präzisen Fragen übergehen (nur eine Frage aufs Mal) und Ihre Schlussfolgerungen (im Sprachstil des Patienten) darlegen. Bei der Besprechung Ihrer Behandlungsempfehlungen sollten Sie versuchen, mit dem Hilfesuchenden eine Behandlungsvereinbarung mit transparent definierten Verantwortlichkeiten zu entwickeln.
Realistische Erwartungen, konkrete Zielsetzungen
Die Erwartungen des Patienten an Sie und die Behandlung genau zu erkunden, hilft, realistische Erwartungen zu wecken und zugleich vom wackeligen Podest der medizinischen Allmacht herunterzusteigen. Um sich nicht in einen Kampf um optimale Compliance mit dem Patienten einzulassen,
empfiehlt es sich, daran zu denken, dass unsere Patienten das Recht haben, sich für eine Lebensweise zu entscheiden, die wir aus medizinischen Überlegungen als ungesund betrachten. Dann ist es wichtig, die Grenzen medizinischer Hilfemöglichkeiten sachlich zu definieren, ohne in einen belehrenden Ton zu verfallen. Als Professionelle sind wir nur für lösbare Aufgaben zuständig. Falls Sie wegen Notfällen oder unerwarteter Verzögerungen unter Druck sind, ist es sinnvoll, dies kurz und undramatisch zu erwähnen und daraus bedauernd abzuleiten, dass Sie heute die Zeit eingrenzen müssen. Sonst werden die Zeichen Ihres Stresses leicht als Geringschätzung oder gar Ablehnung missverstanden, was zu einer Eskalation beitragen kann. Bedenken Sie: Wenn Sie in Zeitnot sind, sind bei einer Meinungsverschiedenheit mit dem Patienten keine beschleunigten Lösungen möglich. Eine erläuternde Eingrenzung der Zielsetzung für die aktuelle Konsultation ist dann notwendig.
Deeskalation bei aggressiven, jedoch kommunikationsfähigen Patienten
Wir reagieren nicht auf das, was der andere meint, sondern auf das, was wir meinen, was der andere meint. Diese Aussage gilt nicht nur für unser Gegenüber, sondern auch für uns selbst. Daraus können Missverständnisse entstehen. Auch ein erfahrener und bestens ausgebildeter Psychotherapeut kann nie genau wissen, was in einer andern Person vorgeht. Besonders wenn wir innerlich mitzuschwingen beginnen. Bei Patienten, die im ersten Moment nervös sind (häufig aus Angst), gereizt wirken (häufig wegen Stress) oder gar aggressiv auftreten (häufig wegen Misstrauen), braucht es einen ruhigen Dialog, ohne den Patienten gleich zu beurteilen.
CALM-Modell hilft bei der Kommunikation
Hilfreich ist es – nach einer Überlegungspause – mit Empathie (den geäusserten Ärger oder die Angst des Patienten vorsichtig aufgreifend) und mit Erläuterungen nach dem CALM-Modell (Contact – Appoint – Look ahead – Make a decision) zu reagieren (3). Dieses Konzept geht davon aus, dass bei grenzüberschreitend aggressivem Verhalten nebst der Grenzüberschreitung auch ein nachvollziehbarer Anteil dieser emotionalen Reaktion wahrgenommen werden kann. Häufig geht es um eine Emotion, die auf etwas hinweist, das anzusprechen dem Patienten schwerfällt. Die Kunst besteht dann darin, diesen Teil vorsichtig aufzugreifen und, wenn er verstehbar wird, zu würdigen und auf ruhige Weise eine Grenze zu setzen, ohne selbst aggressiv zu werden: L C – Im Kontakt bleiben durch Entschleunigung und Em-
pathie: In erster Linie ist es wichtig, dass Sie die Bemerkungen nicht persönlich nehmen, sondern davon ausgehen, dass es eine innere Not gibt, die den Patienten ausfallend werden lässt. Deshalb ist es hilfreich, nach einer kurzen Verschnaufpause einen vorstellbaren Anlass für Ärger beim Patienten anzusprechen: «Ich bedaure, dass Sie warten mussten. Wollen wir uns nicht zuerst mal setzen, bitte.» L A – Heftige Emotion aufgreifen und zu verstehen versuchen: «Sie ärgern sich/ sind enttäuscht/ wütend.» In der Regel gibt es nun eine kurze noch heftigere Reaktion, die Sie vorbeiziehen lassen, indem Sie den Patienten ausreden lassen. Jetzt greifen Sie die geäusserten Sorgen/Ängste/Bedenken des Patienten auf: «Ich höre, wie Sie sich Sorgen machen wegen ...»
ARS MEDICI 11 | 2018
489
FORTBILDUNG
Kasten:
Sicherheitsmassnahmen im Umgang mit aggressiven Patienten
Bei aggressiven Patienten, vor allem psychotischen oder berauschten Menschen, steht die Sicherheit der Helfenden im Vordergrund. Daher ist es sinnvoll, L nie allein einen Einsatz zu leisten, wenn es frühere Gewaltvorfälle
gab oder Drohungen ausgestossen wurden beziehungsweise ein bedrohliches Auftreten beobachtet wird. Angst – die eigene und die anderer Beteiligter – ist unbedingt ernst zu nehmen.
L den Patienten erst im Beisein einer verlässlichen zweiten Person anzusprechen und andere Mitarbeiter und notfalls die Polizei beizuziehen. Bei entsprechenden Hausbesuchen wird zuerst die Polizei abgewartet. Vor dem Einsatz wird das Vorgehen abgesprochen. Die Polizei ist zuständig für die Sicherheit, die ärztliche Person für die Einschätzung der krankheitsbedingten Gefahr. Eine polizeiliche Übermacht wirkt in der Regel sofort deeskalierend.
L einen körperlichen Abstand von mindestens zwei Metern mit gewährleisteter Fluchtmöglichkeit einzuhalten.
L sich abgewinkelt im Raum zu positionieren (keine frontale Gegenüberstellung, kein fixierender Augenkontakt, klare und unbedingt ruhige Ansprache).
L den Patienten nicht zu berühren (ausser bei notwendigen Notfallmassnahmen im Beisein von mindestens fünf instruierten Helfern, die sofort einschreiten können) und sich nicht zwischen streitende Personen zu werfen, um sie zu trennen.
L sich in kurzen, klar formulierten Botschaften in Bezug auf das unmittelbar Relevante im Hier und Jetzt zu äussern.
L keine Diskussionen einzugehen; nicht zu versuchen, Vereinbarungen zu treffen; anamnestische Informationen über verlässliche Drittpersonen zu erheben.
L eindeutige Entscheidungen zu treffen hinsichtlich Fremd- oder Selbstgefährdung. Im Zweifelsfall hat Sicherheit Vorrang.
L Klinikeinweisungen erst in Anwesenheit einer eindeutigen physischen Übermacht einzuleiten; die Person nie mit dem eigenem Fahrzeug zu transportieren; Medikamente nur dann zu verabreichen, wenn es zur Herstellung der Transportfähigkeit notwendig ist (wenn immer möglich peroral); bei unbekannten Patienten in erster Linie kurz wirksame Benzodiazepine, bei erregten Patienten unklarer Genese Haloperidol in kleiner Anfangsdosierung.
Achten Sie auf die Reaktion des Patienten, und korrigieren Sie sich, bis er sich verstanden fühlt. Vielleicht beruhigt sich der Patient bereits. Falls nicht, braucht es eine Klärung der aktuellen Situation. L L – Den Fokus wieder nach vorn richten: «Für mich stellt sich die Frage, wie wir jetzt weitermachen können. Dazu ist es für mich notwendig, dass wir uns beide grundsätzlich vertrauen können. Ich merke jedoch, wie Sie sich nach wie vor ärgern.» L M – Vereinbarung anbieten und dem Patienten die Freiheit der Entscheidung überlassen: Sie geben dem Patienten die Gelegenheit, sich zu entscheiden, und steigen damit aus einer Kampfsituation aus: «Ich biete Ihnen an, dass ich Sie weiter behandle, falls Sie mir ver-
trauen.» Wenn die Spannung anhält: «Sie können es sich auch überlegen und mir wieder Bericht geben.» Oder: «Sie können auch einen andern Arzt aufsuchen; dazu kann ich Ihnen Empfehlungen geben, wenn Sie das wünschen.» Eine fortgesetzte, nicht kooperative Verhaltensweise wird als Ausdruck eines fehlenden Vertrauensverhältnisses definiert, und die Behandlung wird abgeschlossen.
Schutzmassnahmen bei nicht kommunikationsfähigen Patienten
Nicht kommunikationsfähige Personen erleben wir im Gespräch als nicht erreichbar. Sie missdeuten unsere Äusserungen in nicht korrigierbarer Weise und sind nicht in der Lage, unsere Botschaften aufzunehmen und im Rahmen eines gemeinsamen Klärungsprozesses umzusetzen. Es ist vor allem das Ausmass einer psychischen Störung, das die Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt. Wir erkennen eine solche Beeinträchtigung eventuell schon im Rahmen der Kontaktaufnahme oder erst, wenn es nicht möglich ist, mit diesen Personen eine Vereinbarung zu treffen. Dies betrifft vor allem psychotische, jedoch auch berauschte Menschen. Hier kann der Versuch einer verbalen Deeskalation sogar zum Gegenteil führen. Die Sicherheit der Helfenden hat hier erste Priorität (siehe Kasten). Ein professionelles Vorgehen ist nur unter dieser Bedingung zumutbar. Berauscht-aggressive Personen brauchen eine klare Ansprache mit der Weisung, die Praxis zu verlassen und sich wieder zu melden, wenn sie nüchtern sind. Akut Schizophreniekranke sind manchmal noch erreichbar über vertraute Bezugspersonen.
Klare Regeln definieren und einhalten
Besonders anspruchsvoll ist die Betreuung von Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung, bei denen Einschüchterung übliches Mittel zum Erreichen eigener Ziele geworden ist. Diese Personen können aus Sicherheitsgründen nur in einer Praxis mit mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern betreut werden, in der eine Kultur von Respekt und Verbindlichkeit existiert. Dies bedeutet sofortige Reaktion bei Beginn einer Eskalation. Schon kleine Regelverletzungen erfordern die Intervention der hierarchisch höchsten Person vor Ort, die auf Einhaltung der Spielregeln pocht, ansonsten muss die Behandlung in dieser Praxis sofort abgeschlossen werden. Falls deliktische Regelverstösse geschehen, ist eine Anzeige mit Hausverbot angezeigt. Konsequente Wegweisungen oder sonstige amtliche Massnahmen sprechen sich in der einschlägigen Szene sofort herum, die Häufigkeit solcher Zwischenfälle nimmt ab, und die Konsequenz der Massnahmen erhöht das Vertrauen in die Sicherheit des Praxisterritoriums bei den andern Patienten, die dafür dankbar sind, ganz zu schweigen von der Erleichterung beim Praxispersonal.
Fazit: Die Interventionsprinzipien bei Drohungen und Gewalt
Das erste Prinzip: Selbstfürsorge Das Ziel ist Selbstsicherheit durch Achtsamkeit (sich ebenso respektieren wie die Klienten). Deshalb braucht es methodische Selbstfürsorge. Jede Drohung wörtlich nehmen! Sofort Hilfe holen. Distanz halten. Selbstschutz hat Vorrang vor professionellen Aufgabestellungen.
490
ARS MEDICI 11 | 2018
FORTBILDUNG
Das zweite Prinzip: Krisenintervention Das Ziel ist Spannungsverminderung durch Belastungsreduktion. Deshalb ist eine methodische Krisenintervention notwendig, die bei sofort reduzierbarer Belastung einsetzt (z.B. Arbeitsunfähigkeitsattest, Veranlassung von räumlicher Distanz bei Konfliktpartnern); im Weiteren Strukturierung, Transparenz und Vereinfachung zur Reizreduktion, Vertagung eines Gesprächs über heisse Themen; pragmatisches Anpacken des aktuell wichtigsten Problems, das hier und jetzt verändert werden kann; Pflege der Ressourcen; Einnahme der Reservemedikation.
besprochen werden, auch mit dem Täter und separat mit dem Opfer, um anhand einer gemeinsamen Analyse des Vorfalls verbindliche Vereinbarungen zu treffen. Verbindlich bedeutet, dass angekündigte Konsequenzen bei einem erneuten Vorfall umgesetzt werden.
Durch eine entsprechende ärztliche Haltung, die vom Praxis-
personal mitgetragen wird, wird das Risiko von gefährlichen
Zwischenfällen deutlich reduziert – als notwendige Rahmen-
bedingung für konstruktives ärztliches Wirken mit Freude an
der Arbeit.
L
Das dritte Prinzip: Machteinsatz Das Ziel ist Situationskontrolle durch Gewährleistung der Handlungsfähigkeit, um Menschen und Werte zu schützen. Deshalb braucht es einen methodischen Einsatz von legitimen Machtmitteln, die in wirksamer Stärke und verhältnismässig eingesetzt werden (je nach Eskalationsstufe: Konfrontation mit Spielregeln und konsequentes Handeln bis zum Hinzuziehen der Polizei).
Das vierte Prinzip: Beziehungspflege Das Ziel ist Nachhaltigkeit der Gewaltprävention durch die Installation einer Kultur des sozialen Umgangs mit Respekt und Verbindlichkeit. Deshalb ist eine methodische Beziehungsgestaltung anzustreben (siehe oben CALM-Modell). Besonders beachten: Gewaltvorfälle sollten im Team nach-
Dr. med. Manuel Rupp Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie Supervisor, Kursleiter 4054 Basel E-Mail: manuel.rupp@hin.ch
Interessenkonflikte: keine
Ausführliche Erläuterungen und Literaturhinweise: 1. Rupp M: Notfall Seele. Ambulante Notfall- und Krisenintervention in
der Psychiatrie und Psychotherapie. Thieme Verlag. Stuttgart. 4. Auflage 2017. 2. Rupp M: Psychiatrische Krisenintervention. Psychiatrie-Verlag. Köln. 2. Auflage 2014. 3. Schweickhardt A, Fritzsche K: Kursbuch ärztliche Kommunikation. Grundlagen und Fallbeispiele aus Klinik und Praxis. Deutscher Ärzteverlag. Köln. 2. Auflage 2009.
492
ARS MEDICI 11 | 2018