Transkript
FORTBILDUNG
NSAR, Opioide und mehr
Analgesie bei Tumorschmerzen
Krebspatienten leiden häufig unter Tumorschmerzen. Diese können ganz unterschiedliche Auslöser haben und sind zum Teil auch durch die onkologische Behandlung selbst bedingt. Neben der Ursache ist für eine individualisierte Therapie auch die Schmerzart zu berücksichtigen. Nach wie vor gilt das WHO-Stufenschema, wobei Stufe 2 auch durchaus übersprungen werden kann.
Marcus J. P. Geist
Während zu Erkrankungsbeginn schon 20 bis 50 Prozent der Tumorpatienten über Schmerzen klagen, sind es in fortgeschrittenen Stadien bis zu 90 Prozent (2). Therapierelevant für die Behandlung von Tumorschmerzen sind deren Ursachen. Hier muss der Arzt tumor- und therapiebedingte sowie tumorassoziierte und tumorunabhängige Auslöser unterscheiden (Tabelle 1). Neben der symptombezogenen körperlichen Untersuchung samt Erhebung des neurologischen Status gilt die ausführliche Anamnese als Voraussetzung für eine adäquate Schmerztherapie. Dabei ist die Erfassung der Schmerzqualität differenzialdiagnostisch sehr bedeutsam. Es gilt, nozizeptive von neuropathischen Schmerzen zu unterscheiden. Der nozizeptive Schmerz ist gut lokalisierbar und wird von den Patienten in der Regel als scharf, stechend und teilweise als pulsierend oder belastungsabhängig beschrieben. Man grenzt somatische Schmerzen in der Haut, in den Weichteilen und in den Knochen von viszeralen Schmerzen im Darm oder in anderen Hohlorganen ab. Viszerale Schmerzen durch Tumorbefall können aufgrund ihrer Symptomatik (dumpf, diffus, schlecht lokalisierbar, teilweise krampfartig) schwer zu diagnostizieren sein.
MERKSÄTZE
Bei den Schmerzursachen muss der Arzt tumor- und therapiebedingte sowie tumorassoziierte und tumorunabhängige Auslöser unterscheiden.
Hinsichtlich der Schmerzqualität gilt es, nozizeptive von neuropathischen Schmerzen zu differenzieren.
Grundlage der medikamentösen Schmerztherapie bei onkologischen Patienten ist das Stufenschema der WHO.
Ergänzend zur Basistherapie mit Retardopioiden stehen zur Behandlung von Tumorspitzenschmerzen schnell wirksame Opioide zur Verfügung.
Typische und häufig auftretende unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Opioiden sind Obstipationsbeschwerden, Übelkeit und Erbrechen.
Eine effektive Schmerztherapie folgt einem multiprofessionellen Ansatz.
Kasuistik
Ein 67-jähriger Patient mit Rektumkarzinom wurde bislang mit Tilidin/Naloxon (in D, nicht aber in CH erhältliche Fixkombination) sowie Metamizol im Bedarfsfall behandelt. Seine Schmerzen nehmen seit einigen Tagen kontinuierlich zu. Neuerdings klagt er über intermittierende Übelkeit mit Erbrechen und Verstopfung. Die onkologische Abklärung zeigt einen Krankheitsprogress mit Peritonealkarzinose. Wie könnte die Schmerztherapie des Patienten aufgrund der neuen Situation optimiert werden?
Neuropathische Schmerzen haben ihre Ursache in geschädigtem Nervengewebe (z.B. Tumoreinbruch in Nervenstrukturen, Chemotherapeutika, Diabetes mellitus) und sind durch brennende, elektrisierende, plötzlich einschiessende Schmerzen gekennzeichnet. Nozizeptive und neuropathische Schmerzen treten bei 65 Prozent der Tumorpatienten gemeinsam als sogenannter gemischter Schmerz (mixed pain) auf. Die Schmerzintensität sollte regelmässig anhand der numerischen Ratingskala (NRS) sowohl für den Ruhezustand als auch unter Belastung abgefragt werden (0: kein Schmerz; 10: stärkste vorstellbare oder erlebte Schmerzen). Für eine drastische Exazerbation der Schmerzen können bislang unbekannte Metastasen oder ein Tumorrezidiv verantwortlich sein. Hier ist der behandelnde Onkologe unbedingt zu informieren. Bei der Anamnese chronischer Tumorschmerzen sollten neben körperlichen auch psychische und soziale Faktoren berücksichtigt werden.
WHO-Stufenschema
Grundlage der medikamentösen Schmerztherapie bei onkologischen Patienten ist das seit 1986 bekannte Stufenschema der WHO (Abbildung 1), womit sich 80 Prozent der Tumorschmerzen zufriedenstellend behandeln lassen. Bei mässigen Schmerzen (NRS: 1–3) werden Nicht-Opioidanalgetika eingesetzt (Stufe 1), bei stärkeren (NRS: 4–6) zusätzlich schwach wirksame Opioide verordnet (Stufe 2) und bei stärksten (NRS: 7–10) stark wirksame Opioide mit NichtOpioidanalgetika kombiniert (Stufe 3). Häufig verwendete Substanzen der drei Stufen und die entsprechenden Dosierungen sind in Tabelle 2 dargestellt.
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Ursachen für Tumorschmerzen
tumorbedingt
Kompression, Infiltration, Destruktion von Geweben und Nerven durch Tumorwachstum
therapiebedingt
Nachwirkungen von Operationen, Chemo- oder Immuntherapien, Bestrahlungen
tumorassoziiert
Indirekte Folgen der Erkrankung wie paraneoplastische (z.B. Hyperkalzämie), Zosterneuralgien oder Pilzinfektionen aufgrund einer verminderten Immunkompetenz, Hautdefekte aufgrund von Bettlägerigkeit
tumorunabhängig Kopfschmerzen, Störungen des Bewegungsapparats, Obstipation, Harnstau, andere chronifizierte Schmerzerkrankungen
Abbildung 1: WHO-Stufenschema
Abbildung 2: Leitlinien der Opioidtherapie
WHO-Stufe 1 Metamizol und Ibuprofen sind die empfehlenswerten Präparate der WHO-Stufe 1. Da Ibuprofen häufig für gastrointestinale Nebenwirkungen verantwortlich ist, sollte man begleitend Protonenpumpeninhibitoren geben und eine Dauertherapie möglichst vermeiden. Entsprechend den Kontraindikationen von COX-(Cyclooxygenase-)2-Inhibitoren wurden auch für Diclofenac Warnhinweise bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren ausgesprochen (1). Paracetamol sollte man wegen seiner geringen analgetischen Potenz bei Tumorschmerzen nicht mehr verwenden.
WHO-Stufe 2 Die schwach wirksamen Opioide Tramadol und Tilidin in Verbindung mit Naloxon (in D als Fixkombi erhältlich, in der Schweiz nicht auf dem Markt) verlieren aufgrund ihres breiten Spektrums an unerwünschten Arzneimittelwirkungen (v. a. Übelkeit) an Bedeutung. Daher kann die WHOStufe 2 zugunsten eines niedrig dosierten, stark wirksamen Opioids der WHO-Stufe 3 nach heutiger Expertenmeinung problemlos übersprungen werden. Dies gilt beispielsweise für 5 mg Oxycodon/Naloxon, das bei besserer Verträglichkeit eine analgetisch vergleichbar potente Wirkung zeigt wie 50 mg Tramadol beziehungsweise 50 mg Tilidin/Naloxon.
WHO-Stufe 3 Die Auswahl des passenden Opioids wird von der individuellen Verträglichkeit und möglichen Organdysfunktionen des Patienten bestimmt. Auch die Applikationsform und die Erfahrung des behandelnden Arztes mit der Substanz sind hierbei relevant. Zur oralen Verabreichung sind Morphin, Oxycodon und Hydromorphon verfügbar. Darüber hinaus gibt es den in der EU seit 2010 und in der Schweiz seit Ende Februar 2011 zugelassenen µ-Agonisten und Noradrenalinwiederaufnahmehemmer Tapentadol. Als transdermale Systeme werden die Wirkstoffe Buprenorphin und Fentanyl eingesetzt. Methadon und Levomethadon können in bestimmten Fällen für Tumorpatienten hilfreich sein, eignen sich wegen ihrer interindividuell sehr variablen Eigenschaften (u.a. Kumulation) jedoch nicht routinemässig. Die in vitro nachgewiesenen tumorbeeinflussenden Fähigkeiten von Methadon werden derzeit diskutiert (3). Retardierte Opioide mit langer Wirkdauer sollte man als Basistherapie nach einem festen Einnahmeschema verwenden (Abbildung 2). Zum Erhalt der Selbstständigkeit des Patienten sind nicht invasive Applikationsformen (oral oder transdermal) zu empfehlen. Für die individuelle Dosis werden Opioide anhand von Wirkung und unerwünschter Wirkung auftitriert. Beim opioidnaiven Patienten beginnt man mit einer niedrigen beziehungsweise der niedrigsten Dosierung. Mit Ausnahme von Buprenorphin (Ceiling-Effekt) gibt es für die retardierten Opioide der WHO-Stufe 3 beim Erwachsenen keine Maximaldosierungen. Die Dosis des Opioids wird mit der NRS festgelegt, wobei man initial eine NRS von 2 anstrebt. Bei neu eingestellten Patienten sollte der Erfolg der Initialtherapie immer kurzfristig kontrolliert werden. Feineinstellungen finden im weiteren Verlauf statt. In Einzelfällen können Therapiekontrollen auch telefonisch oder per E-Mail erfolgen. Neben der Medikation entscheidet auch ein vertrauensvolles Arzt-Patienten-Verhältnis über den Therapieerfolg.
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen
Obstipationsbeschwerden sind neben Übelkeit und Erbrechen typische und sehr häufig auftretende unerwünschte Arzneimittelwirkungen von Opioiden. Abgesehen von der Verstopfung verschwinden die opioidbedingten Nebenwirkungen meist nach einigen Tagen bis Wochen. Eine dauerhafte begleitende Verordnung von Laxanzien (z.B. Natriumpicosulfat oder Macrogol) sowie die vorübergehende Anwendung von Antiemetika in der Einstellungs- oder Umstellungsphase sollen standardmässig erfolgen.
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Durchbruchschmerzen
Zur Abdeckung von plötzlichen Schmerzattacken (Durchbruchschmerzen) müssen für Patienten mit Tumorschmerzen kurz wirksame Bedarfsmedikamente verfügbar sein. In Ergänzung zur Basistherapie mit Retardopioiden gibt es schnell wirksame Opioide zur Behandlung von Tumorspitzenschmerzen. Vorhersehbare Spitzenschmerzen (z.B. durch Mobilisierung oder Nahrungsaufnahme) kann man mit unretardierten Präparaten behandeln, indem sie entsprechend der Dauer bis zum Wirkeintritt frühzeitig eingenommen werden. Zur Therapie unvorhersehbarer Spitzenschmerzen (z.B. unwillkürliches Husten oder Niesen) eignen sich schnell wirksame Fentanylpräparate, die unter bestimmten Voraussetzungen verordnet werden können (4). Müssen innerhalb von 24 Stunden vermehrt schnell wirksame Präparate eingenommen werden, sollte der Arzt die Basistherapie angemessen erhöhen. Eine Verkürzung der Einnahmeintervalle der Basismedikation ist nicht empfehlenswert.
Neuropathische Schmerzen
Neuropathien gelten allgemein als schwer zu behandeln und sind durch Opioide allein nicht immer ausreichend therapierbar. Die Intensität von brennenden neuropathischen Schmerzen lässt sich durch Antidepressiva in einer deutlich niedrigeren Dosierung als zur Behandlung von Depressionen verbessern. Zur Wahl stehen hier Amitriptylin (Initialdosis: 10–25 mg, nur zur Nacht) oder Duloxetin (Initialdosis: 1-mal 30 mg) unter Beachtung unerwünschter Arzneimittelwirkungen und Kontraindikationen. Bei einschiessenden, elektrisierenden neuropathischen Schmerzen sind die Antikonvulsiva Pregabalin (Initialdosis: 2-mal 25 mg) oder Gabapentin (Initialdosis: 3-mal 100 mg) indiziert. Eine Dosissteigerung kann abhängig von unerwünschten Arzneimittelwirkungen alle zwei Tage bis zu Höchstdosen von 2-mal 300 mg Pregabalin beziehungsweise 3-mal 800 mg Gabapentin erfolgen. Weitere Koanalgetika wie Kortikosteroide oder Bisphosphonate werden ergänzend zur oben genannten Schmerztherapie bei Tumorpatienten mit Knochenschmerzen verwendet.
Cannabis
Seit März 2017 können medizinische Cannabispräparate für schwerstkranke Patienten in Deutschland einfacher verschrieben werden. Eindeutige Indikationen zur Verordnungsfähigkeit nennt der Gesetzestext aber nicht. Vor der Behandlung sollte die Kostenübernahme der Kasse vorliegen (6). In der Schweiz gehört Cannabis grundsätzlich zu den verbotenen Betäubungsmitteln. Das Bundesamt für Gesundheit kann jedoch Ausnahmebewilligungen für die Forschung, die Arzneimittelentwicklung und für eine beschränkte medizinische Anwendung erteilen. Nur bei wenigen Patienten zeigen sich jedoch durchgreifende Erfolge. Bei Tumorpatienten mit neuropathischen Schmerzen können Cannabinoide hilfreich sein und in der palliativen Situation appetitsteigernde und stimmungsaufhellende Wirkungen zeigen. Ein breiter Einsatz von Cannabis ist hier nicht zuletzt aufgrund der interindividuell stark variierenden Eigenschaften äusserst kritisch zu sehen.
Interdisziplinär behandeln
Eine effektive Schmerztherapie folgt einem multiprofessionellen Ansatz. Ergänzend zu den pharmakologischen Therapien profitieren die Patienten von einer interdisziplinären Zusammenarbeit. Physiotherapeutische und psychosoziale Massnahmen
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FORTBILDUNG
FORTBILDUNG
Tabelle 2:
Häufig verwendete Wirkstoffe des WHO-Stufenschemas
Stufe 1: Nicht-Opioid-Analgetika
Metamizol Ibuprofen
Initialdosis
Zieldosis/24 h
Dosisintervall (h)
500–1000 mg 400–800 mg
bis 5000 mg bis 2400 mg
4–6 4–8
Wirkstärke zu oralem Morphin
– –
Stufe 2: Schwach wirksame Opioide
Tramadol retard Tilidin retard
50–100 mg 50–100 mg
bis 600 mg bis 600 mg
8–12 8–12
0,1 0,1
Stufe 3: Stark wirksame Opioide
Morphin retard Oxycodon retard Hydromorphon retard Tapentadol retard Buprenorphin TTS Fentanyl TTS
10–30 mg 5–10 mg 2–4 mg 50–100 mg 5–35 µg/h 12,5–25 µg/h
nach Wirkung und unerwünschten Wirkungen
12 12* 12–24 12 96–168 72
1 2 5–7,5 0,3 70 70–100
(modifiziert nach [5])
*In der Schweiz ist ein retardiertes Oxycodonpräparat mit einer Wirkdauer von 24 Stunden verfügbar (Unox®, www.swissmedicinfo.ch).
sind besonders geeignet, um Tumorschmerzen zu reduzieren.
In Einzelfällen können auch strahlentherapeutische Optio-
nen beachtliche Effekte für die betroffenen Patienten be-
wirken.
L
Dr. med. Marcus J. P. Geist Überregionales Zentrum für Schmerztherapie und Palliativmedizin Klinik für Anästhesiologie Universitätsklinikum Heidelberg D-69120 Heidelberg
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Literatur in der Online-Version des Beitrags unter www.rosenfluh.ch
Ein Fehler in Tabelle 2 wurde in der Online-Version am 15. Juni 2018 korrigiert.
Literatur: 1. Coxib and traditional NSAID Trialists‘ (CNT) Collaboration: Vascular and
upper gastrointestinal effects of non-steroidal anti-inflammatory drugs: meta-analyses of individual participant data from randomised trials. Lancet 2013; 382: 769–379. 2. Goudas LC et al.: The epidemiology of cancer pain. Cancer Invest 2005; 23: 182–190. 3. Hofbauer H et al.: Einsatz von Methadon zur Unterstützung der onkologischen Therapie? Eine Stellungnahme des Arbeitskreises Tumorschmerz der Deutschen Schmerzgesellschaft. Schmerz 2017; 31: 2–4. 4. Kessler J, Bardenheuer HJ: Tumordurchbruchschmerz – Indikation für schnell wirksame Opioide. Anaesthesist 2011; 60: 674–682. 5. Laufenberg-Feldmann R et al.: Tumorschmerz in der Palliativmedizin. Anaesthesist 2012; 61: 457–470. 6. Müller-Vahl K, Grotenhermen F: Medizinisches Cannabis: Die wichtigsten Änderungen. Dtsch Arztebl 2017; 114: A352–A356.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 20/2017. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Eine Anpassung an Schweizer Verhältnisse erfolgte durch die Redaktion von ARS MEDICI.
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