Transkript
FORTBILDUNG
Morbus Crohn in den ersten fünf Jahren nach der Diagnose
Krankheitsverlauf von 488 Patienten aus Ost- und Westeuropa im Vergleich
In den letzten Jahren hat sich die Therapie des M. Crohn deutlich verändert, beispielsweise werden Immunmodulatoren und Biologika früher und häufiger eingesetzt. Aber ändert das den langfristigen Krankheitsverlauf?
Gut
Der Morbus Crohn ist eine chronisch entzündliche Darmerkrankung (CED) unbekannter Ätiologie, die oft bei jungen Patienten auftritt. Aufgrund des progredienten Verlaufs der Erkrankung ist der M. Crohn oft mit signifikanter Behinderung und Morbidität assoziiert. Die Patienten benötigen eine antiinflammatorische Behandlung und manchmal Operationen, um eine Remission zu induzieren und aufrechtzuerhalten. In den letzten 20 Jahren wurden neue Therapieansätze wie die frühe und aggressivere Intervention mit Immunmodulatoren und Biologika eingeführt; zudem behandelt man heute, bis eine endoskopische Heilung oder Normalisierung der Biomarker erreicht ist. Ziel dieser Behandlungsansätze ist es, die Progression der Erkrankung zu stoppen und Darmschäden sowie Behinderung zu vermeiden – dadurch bieten sie die Möglichkeit, den natürlichen Verlauf der CED zu verbessern, insbesondere was Hospitalisierungen und Operationen anbelangt.
Sind schon bessere Behandlungsergebnisse nachweisbar?
Doch ist nach wie vor unklar, ob die Anwendung dieser neuen Behandlungsstrategien zu einer Besserung des Lang-
MERKSÄTZE
Die Behandlung von Patienten mit M. Crohn variiert innerhalb von Europa. Osteuropäische Patienten erhalten seltener Biologika als westeuopäische.
Trotz dieser differierenden Behandlung unterschied sich der Krankheitsverlauf zwischen west- und osteuropäischen Patienten nicht.
Die Häufigkeit an Hospitalisationen und Operationen sowie die phänotypische Progressionsrate waren in der vorliegenden Studie ähnlich wie in Kohorten, die vor 20 Jahren untersucht wurden.
Der Einsatz von Immunmodulatoren reduziert bei M.-CrohnPatienten das Risiko für Operationen und Hospitalisationen.
zeitergebnisses bei M. Crohn geführt hat. Um die Auswirkungen der neuen Therapieansätze auf das Krankheitsergebnis zu bewerten, sind bevölkerungsbasierte prospektive Kohorten unselektierter Patienten notwendig, die das breite Spektrum der Erkrankung repräsentieren. Denn nur so erhält man ein klares Bild der Effektivität und der Praxis hinsichtlich Medikation und operativer Therapie im praxisrelevanten Setting. Seit der Ära der biologischen Therapie und des breiten Einsatzes von Immunmodulatoren wurden jedoch nur wenige M.-Crohn-Kohorten untersucht.
Unterscheidet sich die M.-Crohn-Therapie in Ost- und Westeuropa?
Die Epi-IBD-Studie ist eine prospektive bevölkerungsbasierte Kohortenstudie unselektierter CED-Patienten, die das Auftreten, den Krankheitsverlauf und die Prognose von CED in Europa untersucht. Ziel einer kürzlich veröffentlichten Studie war es, den Krankheitsverlauf und den Effekt der Therapieoptionen auf den Krankheitsverlauf des M. Crohn innerhalb der ersten fünf Jahre nach Diagnosestellung mithilfe einer Analyse der Epi-IBD-Kohorte zu analysieren. Ein weiteres Ziel der Autoren war es, einen möglichen West-Ost-Gradienten hinsichtlich der Behandlungsstrategien und des Krankheitsverlaufs innerhalb Europas in dieser Kohorte zu untersuchen.
Patienten
Die untersuchte Kohorte bestand aus 488 Patienten, bei denen im Alter von 15 Jahren oder später die Erstdiagnose eines M. Crohn gestellt wurde. Bei 404 (83%) Patienten wurde die Erkrankung in westeuropäischen, bei 84 (17%) Patienten in osteuropäischen Zentren diagnostiziert. In beiden Regionen lag die mediane Nachbeobachtungszeit bei 63 Monaten. Die soziodemografischen Merkmale der Patienten unterschieden sich in den beiden Regionen nicht signifikant. Während alle Patienten im ersten Jahr nach Diagnosestellung untersucht wurden, erhielten 217 (44%) Patienten in den folgenden vier Jahren keine weitere Untersuchung. Daten zur Krankheitsaktivität in der Nachbeobachtungszeit standen von 433 (89%) M.-Crohn-Patienten zur Analyse zur Verfügung. Der Anteil der Patienten in Remission stieg von 33 Prozent im ersten Jahr auf 77 Prozent im fünften Follow-up-Jahr.
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KOMMENTAR
Prof. Dr. med. Dr. phil. Gerhard Rogler, Direktor der Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, Universitätsspital Zürich
Effekte von Biologika differenzierter betrachten
Die Epi-IBD-Studie scheint zu zeigen, dass bei Morbus Crohn die Verwendung teurer Medikamente wie Biologika, die in Westeuropa früher und häufiger eingesetzt werden als in Osteuropa, am gesamten Fünfjahresverlauf, insbesondere an der Hospitalisationsrate, nichts ändert. Die Studie scheint nahezulegen, dass Biologika den Verlauf des M. Crohn nur unwesentlich verändern. Die Daten sind aber natürlich mit Vorsicht zu interpretieren. Es wurden insgesamt 488 Patienten untersucht, die sich auf Westeuropa und Osteuropa verteilen. Wir gehen davon aus, dass etwa 20 Prozent aller M.-Crohn-Patienten so schwer erkranken, dass sie von Biologika profitieren. Das sind in Westeuropa 20 oder maximal 30 Prozent von 400, also etwa 100 Patienten, in Osteuropa ist es ein ebenso grosser Anteil
von 80 Patienten, also etwa 20. Wir vergleichen also im Prinzip etwa 100 Patienten mit 20 Patienten. Bei diesen Zahlen ist es nicht leicht, einen signifikanten Effekt zu zeigen. Zudem wird vor allem auf die Zahl der Operationen abgehoben. Nun werden M.-Crohn-Patienten heute am meisten wegen Strikturen und Stenosen operiert. Leider wissen wir inzwischen, dass fast alle Medikamente, die wir heute bei M. Crohn zur Verfügung haben, nur gegen Entzündung und gegebenenfalls gegen Fisteln wirken, nicht jedoch gegen die Entwicklung von Fibrose und damit gegen das Entstehen von Strikturen, also die Haupt-OP-Indikation. Wenn man diesen Endpunkt wählt, ist es klar, dass ein Effekt der Biologika nur schwer oder gar nicht zu zeigen ist. Was man also aus den Daten ablesen kann: Auch wenn nur Steroide und Immunsuppressiva zu Verfügung stehen, lassen sich viele Patienten mit M. Crohn zufriedenstellend behandeln. Unsere Therapien gegen Fibrose sind bisher unzureichend. Was man nicht aus den Daten ablesen kann, sind die Verbesserung der Lebensqualität und die Vermeidung von anderen Komplikationen, die durch die Biologika erreicht werden. Man muss die Dinge also etwas differenzierter betrachten. In der Tat liegt der Anteil der Patienten, die von Biologika profitieren, nicht bei mehr als 30 Prozent, wie uns manche Studien glauben machen wollen. Das ist ebenfalls aus den Epi-IBD-Daten indirekt abzulesen. Viele Patienten können ohne Biologika suffizient therapiert werden.
Krankheitsverhalten
Bei der Diagnosestellung wiesen insgesamt 141 (29%) Patienten einen komplizierten M. Crohn auf. Nach fünf Jahren erhöhte sich diese Zahl auf 190 (39%). Insgesamt schritt der M. Crohn bei 49 (14%) Patienten von einer nicht strikturierenden, nicht penetrierenden Erkrankung innerhalb der fünfjährigen Nachbeobachtungszeit zu einer strikturierenden oder penetrierenden Form fort, wobei es keine geografischen Unterschiede gab. Die meisten Patienten hatten entweder Immunmodulatoren (Westeuropa: 19 [45%]; Osteuropa: 2 [29%]) oder Biologika (Westeuropa: 11 [26%]; Osteuropa: 1 [14%]) als höchsten Behandlungsschritt vor der Krankheitsprogression erhalten. Die mediane Zeit bis zur Progression von einer nicht strikturierenden, nicht penetrierenden Erkrankung lag bei 21 Monaten; jedoch war diese Zeit in Westeuropa mit 13 Monaten kürzer als in Osteuropa (40 Monate).
Systemische Kortikosteroide (ausser Budesonid) erhielten 46 (9%) Patienten über mehr als sechs konsekutive Monate während des Follow-ups (Westeuropa: 36 [9%]; Osteuropa: 10 [12%]). Bei den meisten Patienten lag eine nicht strikturierende, nicht penetrierende Form vor. Von diesen Patienten erhielten 12 (26%) Immunmodulatoren als die höchte Behandlungsstufe während des Follow-ups (Westeuropa: 9 [25%]; Osteuropa: 3 [30%]), 20 (43%) wurden mit Biologika behandelt (Westeuropa: 15 [41%]; Osteuropa: 5 [50%]), während 7 (15%) operiert wurden (Westeuropa: 7 [19%]; Osteuropa: 0 [0%]). Biologika wurden während der Nachbeobachtungszeit bei insgesamt 144 (30%) der Patienten eingesetzt. Allerdings wurden Biologika in Westeuropa (n = 132; 33%) signifikant häufiger verordnet als in Osteuropa (n = 12, 14%). Als initiales Biologikum erhielten die meisten Patienten Infliximab (Infliximab: n = 110, 76%; Adalimumab: n = 34; 24%).
Krankheitslokalisation
Eine Progression der Krankheitslokalisation wurde bei 58 (12%) Patienten beobachtet, wovon 49 (11%) in Westeuropa und 9 (11%) in Osteuropa lebten. Die mediane Zeit bis zu einer Änderung der Lokalisation lag bei 13 Monaten, wobei es keine Unterschiede zwischen Patienten aus Ost- und Westeuropa gab.
Medikamentöse Behandlung
Nur 14 (3%) Patienten erhielten keine Behandlung – weder Medikamente noch eine operative Therapie – während der Nachbeobachtungszeit. Was die medikamentöse Behandlung betrifft, gab es im Hinblick auf den Einsatz von 5-Aminosalizylaten, Immunmodulatoren und Biologika geografische Unterschiede.
Hospitalisierung
Es wurden 175 (35%) Patienten wegen M. Crohn stationär eingewiesen. 113 (23%) Patienten wurden im ersten Jahr nach Diagnosestellung hospitalisiert. Insgesamt erfolgten 66 (38%) Klinikeinweisungen im Zusammenhang mit einem operativen Eingriff, 109 (62%) aufgrund einer internistischen Therapie. In Westeuropa wurden 147 (36%) Patienten hospitalisiert, in Osteuropa 28 (33%). Die mediane Zeit bis zur ersten Hospitalisation lag bei sechs Monaten.
Chirurgische Behandlung
Während des fünfjährigen Follow-ups unterzogen sich 107 (22%) M.-Crohn-Patienten einer Resektion (davon 8 Hemikolektomien und 8 komplette Kolektomien). 62 Resektionen (13%) erfolgten im ersten Jahr nach Diagnosestellung. Die
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Resektionen wurden bei 89 westeuropäischen M.-Crohn-Patienten (22%) und bei 18 osteuropäischen M.-Crohn-Patienten (21%) durchgeführt. Die mediane Zeit bis zur ersten Operation lag bei sieben Monaten, wobei es keine Unterschiede zwischen West- und Osteuropa gab.
Krebs und Todesfälle
Während der Nachbeobachtungszeit wurde bei 8 (2%) Patienten eine bösartige Erkrankung diagnostiziert, und zwar nach einer medianen Zeit von 32 Monaten nach Diagnosestellung. In allen Fällen handelte es sich um extraintestinale Neoplasien (1 zervikales Carcinoma in situ, 1 Gallengangkarzinom, 1 Mammakarzinom, 2 Karzinome des Harntrakts, 1 Schilddrüsenkarzinom, 1 Lymphom und 1 Karzinom im weiblichen Genitaltrakt). Insgesamt starben 16 (3%) Patienten während des Followups, im Median 25 Monate nach der Diagnosestellung. Zwei Patienten starben an einer Sepsis nach einer M.-Crohn-Operation, während die übrigen Todesfälle nicht im Zusammenhang mit dem M. Crohn auftraten.
Unselektierte Patientenkohorte widerspiegelt Praxisalltag
Anhand dieser europäischen bevölkerungsbasierten Kohorte unselektierter CED-Patienten zeigten die Autoren aktuelle Behandlungsstrategien bei M. Crohn sowie den Krankheitsverlauf auf. Trotz einer früheren und aggressiveren Therapie mit Immunmodulatoren und Biologika unterschieden sich die Operationsraten und die Häufigkeit der Krankheitsprogression nicht signifikant von ähnlichen Kohorten, die vor 20 Jahren untersucht wurden. Zudem beobachteten die Autoren zwischen West- und Osteuropa zwar Unterschiede hinsichtlich der Therapiewahl, doch gab es hinsichtlich Krankheitsverlauf und Prognose keine Unterschiede. Eine weitere wichtige Erkenntnis der aktuellen Studie ist die Beobachtung, dass Immunmodulatoren das Risiko für Hospitalisationen und Operationen signifikant senkten.
Die Autoren betonen, dass ihre Studie «Real-world»-Informationen hinsichtlich der Therapiewahl in einer Patientenkohorte liefere, die für CED-Patienten repräsentativ sei.
Andere Ergebnisse unter strengen Studienbedingungen?
Aktuelle Studien konnten die günstigen Effekte einer «Treat-
to-target»-Strategie und einer frühzeitigen kombinierten Im-
munsuppression zeigen. Jedoch sind diese Therapieansätze
im klinischen Alltag noch nicht etabliert, und sie werden
durch regionale Restriktionen (z.B. hinsichtlich des Beginns
einer Biologikatherapie) erschwert. Die meisten Patienten in
der untersuchten Kohorte erhielten Biologika, nachdem an-
dere Substanzen versagt hatten; dies hatte möglicherweise
einen Einfluss auf deren Wirksamkeit und kann nicht mit
Daten aus protokollierten Studien mit strengen Follow-up-
Schemata verglichen werden.
Die Autoren fordern weitere Studien zur Risikostratifizie-
rung; zudem sollten zukünftige Studien untersuchen, ob
«Treat-to-target»-Strategien den Krankheitsverlauf signifi-
kant beeinflussen.
L
Andrea Wülker
Quelle: Burisch J et al.: Natural disease course of Crohn’s disease during the first 5 years after diagnosis in a European population-based inception cohort: an Epi-IBD study. Gut, published online 23 Jan 2018, doi:10.1136/gutjnl2017-315568.
Interessenlage: Ein Teil der Autoren der referierten Studie hat Honorare von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. Die Studie wurde vom Kirsten og Freddy Johansens Fond und vom Nordsjællands Hospital Forskningsråd unterstützt. Die Studiensponsoren waren an Studiendesign, Analyse, Dateninterpretation und Publikation nicht beteiligt.
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