Transkript
FORTBILDUNG
Akuter Bauchschmerz: Was ist für den Internisten, wann braucht es den Chirurgen?
Wichtige Differenzialdiagnosen im Überblick
Viele Krankheitsbilder äussern sich mit abdominellen Schmerzen. Jedoch ist es oft schwierig, klar festzulegen, ob der Internist oder der Chirurg zuständig ist. Der Teamgedanke und die Interdisziplinarität spielen eine entscheidende Rolle.
Beat Muggli
Es ist 22.30 Uhr. Grundversorgerspital oder hausärztliche Praxis. An der Pforte/Tür steht eine 56-jährige Patientin in gebückter Haltung und klagt über diffuse Bauchschmerzen, welche seit etwa einer Stunde bestehen. Zudem Nausea ohne Erbrechen. Die Patientin ist kardial vorbelastet und leidet an einer chronisch obstruktiven Pneumopathie. Wer kennt diese Situation nicht? Viele Krankheitsbilder äussern sich mit abdominellen Schmerzen. Folglich sind unklare Bauchschmerzen eine der häufigsten Zuweisungsdiagnosen auf unseren Notfallstationen. Der chirurgisch-diagnostische Pfad folgt hierbei folgender Hierarchie: L Ist das Krankheitsbild lebensbedrohlich? L Ist das Krankheitsbild akut zu operieren? L Ist das Krankheitsbild elektiv durch eine Operation zu ver-
bessern? L Welches Krankheitsbild liegt sonst vor beziehungsweise wie
kann man dem Patienten sonst weiterhelfen?
Akutes Abdomen oder sehr starke Bauchschmerzen?
Viele Patienten mit Bauchschmerzen werden als «akutes Abdomen» zugewiesen, wobei hiermit meist allgemein sehr
MERKSÄTZE
Unklare Bauchschmerzen sind eine der häufigsten Zuweisungsdiagnosen auf unseren Notfallstationen.
Das rasche Erkennen eines «akuten Abdomens» ist sehr wichtig, da der Faktor Zeit in dieser Situation häufig entscheidend ist.
Das «akute Abdomen» ist keine eigentliche Diagnose, sondern beschreibt einen Zustand, einen Symptomenkomplex.
Bei der Suche nach Ursachen muss an abdominale und extraabdominale Ursachen sowie an Stoffwechselstörungen gedacht werden.
Eine besondere Stellung nimmt der Patient nach kürzlich durchgeführter abdominaler Operation ein.
starke Bauchschmerzen gemeint sind. Aus chirurgischer Sicht bezeichnet der Begriff «akutes Abdomen» korrekterweise das Vorhandensein von akuten Bauchschmerzen, die durch ein Krankheitsbild verursacht werden, welches einer unmittelbaren chirurgischen Intervention (meist einer Operation) bedarf. Hierbei ist der akute Bauchschmerz in seiner maximalen Ausprägung durch eine starke Reizung des Peritoneums und eine reflektorische Verkrampfung der Bauchmuskulatur gekennzeichnet («Abwehrspannung», «bretthartes Abdomen», «Peritonismus», «Défense»). Während diese Abwehrspannung jedoch stark von der individuellen Muskelmasse des Patienten abhängt (alte kachektische Patienten schaffen kein bretthartes Abdomen mehr), ist der starke Bauchschmerz typischerweise durch einen starken Dauerschmerz mit Nicht-mehr-Tolerieren auch leichtester Berührungen charakterisiert. Sehr schwierig ist die Diagnostik des peritonealen Reizes bei morbid-adipösen Patienten. Eine Abwehrspannung kann sowohl das gesamte Abdomen als auch nur einen Quadranten (z.B. rechter Unterbauch bei Appendicitis acuta) betreffen.
Wichtige Differenzialdiagnosen
Glücklicherweise führen nur wenige chirurgische Krankheitsbilder unvermittelt und schnell zum Tod. Trotzdem dient natürlich der erste Patientenkontakt immer einer Einschätzung des Allgemeinszustands sowie der Überprüfung der Vitalparameter, der Kreislauf- und Atemsituation sowie der Ansprechbarkeit des Patienten. Zwei Krankheitsbilder sollten sicher ausgeschlossen werden: kardiale Schmerzen, insbesondere diaphragmale Myokardischämien; diese können als heftige epigastrische Schmerzen imponieren. Auch eine basale Pneumonie oder Prozesse in/an den kaudalen Lungenabschnitten oder im Bereich der Pleura können ihre Symptomatik ins Abdomen ausstrahlen. Weiterhin können akute Blutungen – sowohl im Retroperitoneum (Aneurysmaruptur) als auch in die Bauchhöhle (durch Verletzungen der Bauchorgane, postoperativ oder durch Ruptur eines viszeralen Gefässes) – abdominelle Schmerzen verursachen. Meist lassen sich beide Krankheitsbilder rasch von der Liste möglicher Differenzialdiagnosen streichen, sie müssen aber immer mitbedacht werden.
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FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Akutes Abdomen: Die 10 häufigsten Ursachen
Erkrankung
OMGE-Studie (2) Finnische Studie (3)
(n = 10 320)
(n = 639)
Uncharakteristische Bauchschmerzen Akute Appendizitis Akute Cholezystitis Ileus Gynäkologische Erkrankungen Akute Pankreatitis Nierenkolik Ulcus pepticum (perforiert) Karzinom Divertikulitis
34,0
28,1 9,7 4,1 0 2,9 2,9 2,5 1,5 1,5
33,0
23,3 8,8 5,2 4,7 3,9 2,3 2,8 2,0 1,1
Angaben in Prozent
Es ist sicherlich sehr schwer, uncharakteristische Bauchschmerzen von anderen zu akuter Schmerzsymptomatik im Abdomen führenden Erkrankungen zu trennen. Von grosser Bedeutung ist jedoch die sichere Diagnostik einer akuten Appendizitis und akuten Cholezystitis.
Besteht chirurgischer Handlungsbedarf innerhalb der nächsten Stunde?
Im Rahmen einer Akutuntersuchung werden im Anschluss folgende Krankheitsbilder ausgeschlossen, die eine chirurgische Intervention (Endoskopie oder Operation) innerhalb der nächsten Stunden erfordern: 1. die schon erwähnte Blutung (sowohl in den Gastrointesti-
naltrakt – entweder als Bluterbrechen [Hämatemesis] oder als anale Blutabgänge [Hämatochezie oder Meläna] – als auch in das Retroperitoneum und die Bauchhöhle) 2. eine Durchblutungsstörung des Gastrointestinaltrakts (Mesenterialischämie) 3. eine Obstruktion des Gastrointestinaltrakts, welche sich nicht spontan wieder lösen wird (mechanischer Ileus) 4. eine Perforation eines Hohlorgans (Magen, Duodenum, Dünndarm, Dickdarm) 5. eine akute Entzündung der Gallenblase oder des Blinddarms (um eine Perforation oder Ausweitung der Entzündung zu verhindern) 6. das Vorhandensein eines grossen intraabdominellen Abszesses stellt ebenfalls eine dringliche Behandlungsindikation dar, wobei vielfach die interventionelle Radiologie den operativen Eingriff ersetzen oder ergänzen kann. Darüber hinaus gibt es andere Krankheitsbilder, darunter sämtliche Tumoren der Bauchorgane und des Retroperitoneums, die unter Umständen operativ behandelt werden müssen.
Abklärung erfordert grosse klinische Erfahrung
Wichtige Differenzialdiagnosen des akuten Abdomens, denen kein operativ zu behandelndes Krankheitsbild zugrunde liegt, sind Nierenkolik, akute Pankreatitis, akute (nicht perforierte) Sigmadivertikulitis, nicht abszedierende oder fistulierende chronisch entzündliche Darmerkrankungen und – in Wirklichkeit am häufigsten – funktionelle Schmerzen des Magen-Darm-Traktes. Die Abklärung eines akuten Abdomens mit oft lebensbedrohlichem Zustandsbild erfordert ein hohes Mass an klinischer Erfahrung. Der Faktor «Zeit» ist in dieser Situation von zentraler Bedeutung, da sich die Situation rasch verschlimmern kann und somit der unverzüglichen Abklärung bedarf. Oft bleibt wenig Zeit für diagnostische Massnahmen, und selbst diese können manchmal nur nach sofort einsetzender Therapie des Kreislaufschocks durchgeführt werden. Eine schnelle chirurgische Therapie ist häufig notwendig.
Symptomkomplex «akutes Abdomen»
Das «akute Abdomen» per se ist keine Diagnose, sondern beschreibt einen Zustand, einen Symptomenkomplex. Bei der Suche nach Ursachen muss an abdominale und extraabdominale Ursachen sowie an Stoffwechselstörungen gedacht werden. Sowohl in der Studie der World Gastroenterology Organization (OMGE; Organisation Mondiale de GastroEntérologie) (1) als auch in einer finnischen Studie (2, 3) zeigte sich, dass uncharakteristische Bauchschmerzen, akute Appendizitis und akute Cholezystitis zwei Drittel der Ursachen ausmachen (Tabelle 1). Es ist sicherlich sehr schwer, uncharakteristische Bauchschmerzen von anderen zu akuter Schmerzsymptomatik im Abdomen führenden Erkrankungen zu trennen. Von grosser Bedeutung ist jedoch die sichere Diagnostik einer akuten Appendizitis und akuten Cholezystitis.
Unterscheidung zwischen jüngeren und älteren Patienten
Wichtig ist auch die Berücksichtigung des Patientenalters (Tabelle 2). Die OMGE-Studie hat das 50. Lebensjahr als Schwellenwert angesetzt, um jüngere von älteren Patienten zu trennen. Auch wenn diese Altersgrenze willkürlich ist, zeigt sie doch, dass im höheren Lebensalter organische Erkrankungen deutlich zunehmen. Bei akuten Bauchschmerzen führt eine falsche Diagnose altersabhängig zu unterschiedlichen Folgen. Initiale diagnostische Irrtümer in der Altersgruppe unter 50 Jahren führen selten zum Tod des Patienten. Ab dem 50. Lebensjahr kann ein Irrtum fatale Folgen haben: Die Letalität des akuten Abdomens beträgt bei Patienten um die 60 Jahre 2 Prozent, 5 Prozent bei Patienten um die 70 Jahre und 10 Prozent oberhalb des 80. Lebensjahres. Leider zeigt die einzige zur Verfügung stehende Studie zur Genauigkeit der Diagnose akuter Bauchschmerzen mit den Mitteln von Anamnese und körperlicher Untersuchung der Altersgruppe > 50 Jahre, dass die erste Verdachtsdiagnose nicht einmal bei jedem zweiten Patienten bestätigt werden konnte (4).
Frühzeitig den Chirurgen hinzuziehen
Patienten mit einem akuten Abdomen werden häufig zuerst dem Internisten und nicht dem Chirurgen vorgestellt. Da sich das Krankheitsbild oft in kurzer Zeit dramatisch verändern
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Tabelle 2:
Ausgewählte Ursachen akuter Bauchschmerzen, die sich als akutes Abdomen manifestieren können (1)
Erkrankung
Patienten < 50 Jahre Patienten > 50 Jahre
(n = 6317)
(n = 2406)
Uncharakteristische Bauchschmerzen Akute Appendizitis Akute Cholezystitis Ileus Akute Pankreatitis Divertikulitis Karzinom Hernie Vaskulärer Prozess
40
32 6 3 2 < 0,1 < 0,1 < 0,1 < 0,1
16
15 21 12 7 6 4 3 2
Angaben in Prozent
kann, ist es für den Internisten wichtig, seinen chirurgischen Partner umgehend heranzuziehen, damit dieser nicht nur «einen Schnappschuss», sondern «den ganzen Film» kennt und die Entscheidung über das weitere Vorgehen mittragen beziehungsweise die Therapie im Bedarfsfall übernehmen kann. Die Interdisziplinarität spielt hier eine zentrale Rolle in der Behandlung der Patienten.
Bei Verdacht auf postoperative Komplikationen umgehend handeln
Eine besondere Stellung nimmt sicherlich der Patient nach kürzlich durchgeführter abdominaler Operation ein. Beim akuten Adomen nach viszeralchirurgischen Eingriffen gibt der intraoperative Situs die besten Hinweise auf mögliche postoperative Komplikationen. Ziel aller Massnahmen ist es, die Komplikation frühzeitig zu erkennen, bevor ein sekundäres Organversagen auf die bereits eingetretene Katastrophe hinweist. Das bedeutet, dass schon beim ersten Verdacht eine zielgerichtete Diagnostik eingeleitet werden muss. In der Regel entstehen Probleme nicht aus der Komplikation selbst, sondern aus dem Umgang damit, das heisst aus der zu spät erfolgten Diagnostik und der inadäquaten Therapie. Das Vor-
Mögliche Ursachen eines akuten Abdomens
Die weitaus häufigste Ursache eines akuten Abdomens ist die akute Appendizitis. Ferner können eine akute Cholezystitis bei Cholezystolithiasis, Choledocholithiasis, eine Sigmadivertikulitis, gastrointestinale Blutungen, Ileus, Pankreatitis oder Perforationen (Magenperforation bei prä- oder postpylorischem Ulkus, Sigmadivertikulitis perf.) diese Symptomatik auslösen. Seltenere Ursachen sind Adnexitis, Urolithiasis oder auch eine extrauterine Gravidität. Auch Unfälle mit stumpfen Verletzungen im Bauchraum können als akutes Abdomen erscheinen.
liegen einer Komplikation wird bei jedem Abweichen vom erwarteten postoperativen Verlauf wahrscheinlich. Voraussetzung für eine zielgerichtete Diagnostik ist die Kenntnis darüber, welche Komplikationen häufig und welche selten sind (Inzidenz der Komplikation) und wann mit welcher Komplikation zu rechnen ist (Prävalenz der Komplikation).
Perkutane Abszessdrainage erweitert das therapeutische Spektrum
Hinsichtlich der postoperativen septischen Komplikationen
hat sich in den letzten Jahren das therapeutische Spektrum
durch die Fortschritte der interventionellen Radiologie er-
weitert. Bei intraabdominalen Abszessen ist das interventio-
nelle Vorgehen mit perkutaner Abszessdrainage (PAD) heute
die Therapie der Wahl. Dafür sprechen eine Erfolgsrate von
über 80 Prozent (definiert als suffiziente Abszessdrainage
ohne nachfolgende operative Reintervention), wenig verfah-
rensinhärente Komplikationen (< 5%), vor allem aber die ge-
ringere Invasivität im Vergleich zur Relaparotomie (5). Die
Indikation zur PAD muss in enger Kooperation zwischen
Chirurgen und interventionellen Radiologen gestellt werden.
Als ideale Indikationen gelten abgekapselte Retentionen, die
parakolisch, perihepatisch und subphrenisch rechts auftreten.
Eine operative Therapie ist weiterhin primär bei der diffusen
Peritonitis, bei Abszessen, unterhalten von einer ausgedehn-
ten Insuffizienz/Fistel, und bei der frühen Anastomoseninsuf-
fizienz erforderlich. Nach wie vor ist hier die chirurgische
Herdsanierung mit Beseitigung der eigentlichen Peritonitis-
ursache prognosebestimmend. Nur wenn die primäre Infek-
tionsquelle (z.B. Perforation, Anastomoseninsuffizienz) aus-
geschaltet ist, können alle weiteren Therapiemassnahmen
überhaupt zum Tragen kommen. Gelingt die Herdsanierung
nicht, sind eine permanente Reinfektion des Bauchraumes,
die Aktivierung von biochemischen Reaktionsabläufen nach
dem Kaskadenprinzip und als Endstrecke Multiorganver-
sagen und septischer Schock nahezu unvermeidbar.
L
Dr. med. Beat Muggli Klinikleiter und Chefarzt Chirurgie Stadtspital Tiefenau 3004 Bern E-Mail: beat.muggli@spitaltiefenau.ch Internet: www.chirurgie-tiefenau.ch
Interessenkonflikte: keine
Literaturverzeichnis: 1. De Dombal FT: Diagnosis of acute abdominal pain. Edinburgh, London,
Melbourne, New York: Churchill Livingstone 1991. 2. De Dombal FT: The OMGE acute abdominal pain survey. Progress
Report, 1986. Scand J Gastroenteol 1988; 23(Suppl 144): 36–42. 3. Miettinen P et al.: Acute abdominal pain in adults. Ann Chir Gynaecol
1996; 85: 5–9. 4. Teller S et al.: Acute abdominal pain in patients over 50 years of age.
Scand J Gastroenterol 1988; 23(Suppl 144): 47–50. 5. Bartels H et al.: Interventionelle Therapie bei intraabdominellen Abs-
zessen. Langenbecks Arch Chir Suppl II 1997; 956–959.
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