Transkript
FORTBILDUNG
Vorsicht, Lebensgefahr!
Tabletten im Blister – Risiko für demente Patienten
Tabletten im Blister dürfen nicht ans Patientenbett. Bei Patienten im Delir oder bei Demenz wurde beobachtet, dass die Tabletten in den scharfkantigen Blisterverpackungen verschluckt werden, was zu Perforationen von Ösophagus oder Darm mit Mediastinitis oder Peritonitis führen kann.
Axel Prokop und Marc Chmielnicki
Verschluckte Fremdkörper sind häufig, führen aber selten zu Problemen und werden per vias naturales ausgeschieden. In weniger als 1 Prozent aller Fälle treten Komplikationen wie Blutungen oder Perforationen auf (6). Eine sehr seltene, aber gefährliche Komplikation ist das Verschlucken von Tabletten, die noch im Blister (Einzelverpackung) sind. Zur Kontrolle werden Tabletten vor der Verabreichung im Krankenhaus zur Sicherung des Vieraugen-Kontrollsystems zur Wiedererkennung in den Einzelverpackungen gestellt und erst kurz vor der Verabreichung aus den Verpackungen gedrückt. Manche Tabletten sind feuchtigkeitsempfindlich und dürfen keinen längeren Luftkontakt haben. Wir haben bei zwei kognitiv eingeschränkten Patienten schwere Komplikationen gesehen beim versehentlichen Verschlucken von Tabletten, die sich noch im Blister befanden. Beide Fälle wurden ins klinikeigene Fehlermeldesystem CIRS eingestellt und diskutiert. Es erfolgte kurzfristig die Erstellung einer Dienstanweisung für alle Krankenhäuser des Klinikverbunds, die die Bereitstellung von oralen Medikamenten im Blister untersagt. Alle Medikamente müssen seither im Schwesternzimmer vor der Gabe an den Patienten ausgeblistert werden. Weitere Fälle wurden nach dieser neuen Dienstanweisung nicht mehr beobachtet.
Gefahr bei kognitiver Einschränkung
In zunehmendem Mass werden ältere und kognitiv eingeschränkte Patienten stationär behandelt. Allein in der Klinik für Unfallchirurgie unseres Hauses waren im Jahr 2016 von den etwa 2400 stationär behandelten Patienten 45 Prozent über 70 Jahre alt mit weiter steigender Tendenz. Viele dieser Patienten litten unter Demenz oder einem Delir (13). Gerade hier besteht eine grosse Gefahr, dass die Patienten unbewusst gestellte Tabletten auch mit Verpackung verschlucken können. Die Blister sind in der Regel aus Kunststoff, haben sehr scharfe Kanten und sind mit einer röntgendichten Aluminiumfolie abgedichtet. Meistens verschlucken die Patienten die Blister unbemerkt und werden erst klinisch auffällig, wenn es zur Perforation oder Blutung kommt. Eine CT-Diagnostik zeigt manchmal den Fremdkörper, sonst selten eine Blutung oder häufig freie Flüssigkeit oder freie Luft im Abdomen. Es kommt, je nach Lokalisation, zur Perforation mit Mediastinitis oder Peritonitis mit hohem Letalitätsrisiko der zumeist erheblich vorerkrankten und alten Patienten. Verklemmt sich der Fremdkörper in der Speiseröhre oder im Duodenum, sollte versucht werden, ihn endoskopisch zu entfernen. Bei freier Luft, Mediastinitis oder Peritonitis sollte operiert werden.
MERKSÄTZE
Insbesondere bei kognitiv eingeschränkten Patienten kann es durch Verschlucken von Tabletten, die sich noch in der Einzelverpackung (Blister) befinden, zu lebensgefährlichen Blutungen und Perforationen kommen.
Verklemmt sich der Fremdkörper in der Speiseröhre oder im Duodenum, sollte versucht werden, ihn endoskopisch zu entfernen. Bei freier Luft, Mediastinitis oder Peritonitis sollte operiert werden.
Zur Vermeidung von zum Teil letalen Komplikationen durch verschluckte Blister sollte es dem Personal untersagt werden, Tabletten im Blister ans Patientenbett zu stellen.
Vermutlich hohe Dunkelziffer
Nach einer Übersicht der Literatur in Pubmed von 1985 bis 2015 konnten nur 17 publizierte Einzelfälle gefunden werden (1–12, 14, 15). Beim Vergleich mit den Fällen innerhalb unseres Klinikverbunds muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden. Bei den 17 publizierten Fällen waren öfter Frauen betroffen (9-mal). Das Durchschnittsalter betrug 73 Jahre (50–90 Jahre). In 2 Fällen war die Speiseröhre betroffen, und es kam zur Mediastinitis. Trotz operativer Versorgung starben beide Patienten an septischem Multiorganversagen (2, 7). In je einem Fall lag die Perforation im Magen und im Duodenum. Beide Patienten wurden laparotomiert. 1 starb, und 1 überlebte (10, 15). In den verbleibenden 12 Fällen war das Ileum betroffen. Alle Patienten wurden laparotomiert, 3 davon starben trotz Intervention an Multiorganversagen (1–5, 7, 9, 10, 11, 14, 15).
330
ARS MEDICI 8 | 2018
FORTBILDUNG
Fallbeschreibung 1
Anamnese: Ein 61-jähriger Patient zog sich eine mediale Schenkelhalsfraktur zu. Erst zwei Tage später wurde er in die Klinik verbracht, wo ihm am nächsten Tag ohne intraoperative Probleme eine Hüfttotalendoprothese implantiert wurde. Postoperativ kam der Patient in ein leichtes Delir. Wegen Schmerzen erfolgte unter anderem eine Medikation mit Oxycodon 5 mg. Befund: Am 4. postoperativenTag verschluckte der noch durchgängige Patient unbemerkt seine Tabletten inklusive einer Oxycodontablette mitsamt dem Blister. Anfänglich klagte er über leichte Halsschmerzen und Heiserkeit. Im Verlauf der nächsten 48 Stunden entwickelte sich ein septisches Krankheitsbild, welches die Verlegung auf die Intensivstation nach sich zog. Eine CT-Untersuchung vom gleichen Tag zeigte massive Lufteinschlüsse im Hals bis ins obere Mediastinum (Abbildung 1). Unter der Verdachtsdiagnose Ösophagusperforation unklarer Genese wurde der Patient noch am gleichen Tag unter laufender Antibiose in eine Universitätsklinik verlegt. Hier kam es zu einer progredienten Sepsis mit Intubation und Katecholaminpflicht. Eine Gastroskopie zeigte als Ursache der Ösophagusperforation am oberen Anteil eine Perforation mit dem zumTeil noch in der Speiseröhre steckendenTablettenblister, der entfernt wurde. Im weiteren Verlauf wurden eine Zervikotomie beidseits mit Spaltung der Halsfaszien und Abszessdrainage sowie eine
Abbildung 1: Fall 1, CT Hals nativ mit Luft in den Halsweichteilen und dem metalldichten Blister (Pfeile) (© Prokop)
plastische Tracheostomie durchgeführt. Bei septisch entgleister Gerinnung kam es zum Vollbild eines septischen Schocks. Drei Wochen später verstarb der Patient an den Folgen der Sepsis.
Fallbeschreibung 2
Anamnese: Eine 68-jährige Frau mit chronischem Alkoholabusus wurde mit nicht dislozierter Trochanterfraktur am Oberschenkel mit starken Schmerzen aufgenommen. In derVorgeschichte waren mehrfache stationäre Entzugstherapien bezüglich Alkohol gescheitert. Es erfolgte eine konservative Therapie mit Analgesie und Mobilisation. Als Schmerzmittel wurde im Bedarfsfall ergänzend zur Basistherapie auch Oxycodon 5 mg verordnet. Verlauf: Am 4. Tag im Krankenhaus entwickelte die Patientin ein akutes Abdomen mit zunehmender Eintrübung. Nach der Verlegung auf die Intensivstation erfolgte eine weiterführende CT-Diagnostik mit Kontrastmittelgabe. Es zeigten sich ein Ileus mit Aszites und eine Ileumperforation mit lokalem Abszess und Lufteinschluss im Unterbauch. Zusätzlich war ein schattengebender Fremdkörper, zum Teil innerhalb und zum Teil ausserhalb des Ileums, zu erkennen (Abbildung 2). Es erfolgte bei beginnender Sepsis eine Laparotomie, bei der im Ileum der perforierte Tablettenblister einer Oxycodontablette geborgen wurde. Es bestand eine eitrige Peritonitis. Es wurden eine Dünndarmteilresektion, eine Spülung und eine Etappenlavage durchgeführt. Nach einer langen Intensivbehandlung von 4 Wochen konnte die Patientin auf eine Normalstation, weitere 3 Wochen später in die Reha und anschliessend nach Hause entlassen werden. In den nächsten 3 Jahren war die Patientin wegen eines fortbestehenden
Abbildung 2: Fall 2, CT Abdomen koronar mit Kontrastmittel und schattengebendem Fremdkörper im Ileum (langer Pfeil), lokalisierter Peritonitis und Luft intraabdominell (kurze Pfeile) (© Prokop)
Alkoholkonsums mit Stürzen regelmässig in ambulanter und stationärer Behandlung. Von abdomineller Seite her bestanden keine Beschwerden mehr.
Fazit
Zur Vermeidung von Komplikationen mit zum Teil letalem Aus-
gang durch verschluckte Blister haben wir eine Dienstanweisung
umgesetzt, die es dem Personal verbietet, Tabletten im Blister an
das Patientenbett zu stellen.
L
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Axel Prokop Unfallchirurgie Kliniken Sindelfingen, Klinikverbund Südwest D-71065 Sindelfingen
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 1/2018. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
ARS MEDICI 8 | 2018
331