Transkript
FORTBILDUNG
Therapie der Patella-Instabilität im Wandel
Aktuelles und Behandlung «State of the art»
Die Therapieansätze bei instabiler Patella haben sich dank des besseren Verständnisses dieses Gelenkabschnitts in den letzten Jahren stark weiterentwickelt. Die Ausarbeitung eines Therapiealgorithmus und neue operative Möglichkeiten haben das Behandlungsspektrum systematisiert. Mit dem neuen, von der AGA definierten «Patellar-Instability-Severity»-Score und dem empfohlenen Behandlungsalgorithmus ist eine langfristig gute Funktion des Patellofemoralgelenkes möglich.
Daniel Goricki
Die Patella ist integraler Bestandteil des Streckapparates des Knies. Als Hypomochlion, das heisst als Drehpunkt beziehungsweise Widerlager eines Hebels, vermag sie die Kraft des Streckapparates fast zu verdoppeln. Dies führt zu sehr hohen Druckwerten im Femoropatellargelenk insbesondere in flektierter Position. Die korrekte Funktion des Femoropatellargelenks ist deshalb sehr wichtig. Am Femoropatellargelenk unterscheiden wir grob zwei Kategorien möglicher Beschwerden: 1. die Instabilität der Patella (akut oder chronisch) 2. das femorpatellare Maltracking (unphysiologische Gleit-
bahn der Kniescheibe) mit der möglichen Entwicklung einer schmerzhaften Femoropatellararthrose
Nach Erstluxation möglichst gut stabilsieren
In der Regel führt die chronische Patellainstabilität zu einem Maltracking und im weiteren Verlauf zu einer Femoropatellararthrose. Die Erstluxation ist oft Folge eines Unfalls, in der Regel beim (Kontakt-)Sport im Rahmen eines Zweikampfes. Häufig liegen allerdings auch schon die Patellastabilität beeinträchtigende Faktoren vor. Durch die Erstluxation kommt es in der Regel zu einer Ruptur des «Innenbandes» der Kniescheibe (des sogenannten medialen patellofemoralen Ligaments [MPFL]), welches ohne korrekte konservative Behandlung elongiert und somit insuffizient ausheilt. Im weiteren Verlauf steigt die Wahrscheinlichkeit für weitere Luxationen der Patella. Das Ziel der konservativen Therapie ist eine möglichst stabile Heilung des Kniescheibeninnenbandes sowie eine muskuläre Stabilisierung der Kniescheibe. Weil die Patella praktisch ausschliesslich nach lateral luxiert, nimmt als aktiver Stabilisator
MERKSÄTZE
Die Erstluxation ist oft Folge eines (Sport-)Unfalls.
Nach jeder Patellaluxation sollte diagnostisch neben dem Ausschluss von Verletzungen die Schwere der Patellainstabilität beurteilt werden.
Ziel der konservativen Therapie ist eine möglichst stabile Heilung des Kniescheibeninnenbandes sowie eine muskuläre Stabilisierung der Kniescheibe.
der M. vastus medialis (und hierbei v.a. der oblique Anteil) eine besondere Rolle ein. Die initiale Therapie zielt auf eine möglichst optimale Entlastung des Kniescheibeninnenbandes, damit dieses so günstig wie möglich vernarben kann. In der ersten Phase der konservativen Therapie wird vor allem die Patella stabilisiert. Wichtig ist dabei die Kenntnis der Spannungsverhältnisse: Die geringste Spannung weist das Kniescheibeninnenband zwischen 15 und 45 Grad Biegung auf. In voller Streckung sowie bei einer Biegung über 60 Grad ist die Spannung erhöht. Folgende Bewegungseinschränkungen sind als Standard etabliert: s Woche 1 und 2: 0-20-40 s Woche 3 und 4: 0-10-60 s Woche 5 und 6: 0-0-90 Dafür eignet sich am besten eine Kniegelenksorthese, die die Patella zentrieren und Flexion und Extension limitieren kann. Ebenfalls sinnvoll ist eine Teilbelastung für zwei Wochen mit anschliessendem Belastungsaufbau. Dabei sollen in der initialen Heilungsphase die Zugkräfte des M. quadriceps femoris insbesondere auf das Kniescheibeninnenband reduziert werden. Nach zwei Wochen kann dann ein gradueller Belastungsaufbau erfolgen. Der Kräftigung des M. vastus medialis kommt eine besondere Bedeutung zu. Daneben ist ein Achsentrainig entscheidend. Hierbei sind folgende Muskelgruppen mit einem besonderen Akzent zu trainieren: Rumpfmuskulatur, Abduktoren der Hüfte sowie die Tibialis-posterior-Muskulatur.
Die Patellastabilität beeinflussende Faktoren
Rotation des Femurs und der Tibia Die Führung der Patella wird durch verschiedene geometrische Gegebenheiten des Bewegungsapparates definiert. Eine femorale Innenrotation (v.a. bei einer Coxa antetorta) sowie eine tibiale Aussenrotation bewirken eine Lateralisation der Patella und begünstigen somit die Luxationstendenz (Abbildungen 1 und 2). Je nach Ausmass muss eine Korrektur dieser Fehlstellung ins Behandlungskonzept integriert werden. Eine grobe Einschätzung der femoralen Innenrotation kann klinisch anhand der Innenrotation am Hüftgelenk erfolgen. Werte über 45 Grad sprechen für eine relevante Coxa antetorta (beim Heranwachsenden ist ein Antetorsionswinkel physiologisch) und sollten mittels Rotations-CT oder -MRI abgeklärt werden, wobei bei Einsatz der CT die Strahlenbelastung
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Abbildung 1: Lateralisation der Patella bei Adduktion der Hüfte, Innenrotation des Beines und Pronation des Fusses
Abbildung 5: Erhöhter Q-Winkel mit Lateralisation der Patella bei Kniegelenksvalgus (©2015 AGA-Komitee KniePatellofemoral)
Abbildung 2: Beispiel einer Coxa antetorta mit sichtbarem Einfluss der Zunahme der Antetorsion des Schenkelhalses auf die Lateralisation der Patella
Abbildung 6: A: normale Trochlea; B: relevante Trochleadysplasie (flache Trochlea); C: ausgeprägte Trochleadysplasie (konvexe Form), diese führt zu hochgradiger Instabilität
dung 5). Ein Varus wirkt dem entgegen. Ein ausgeprägter Kniegelenksvalgus muss ins Behandlungskonzept integriert werden. Ein Knick-Senk-Fuss verstärkt den Valgus und führt zu einer Innenrotation des Beins und einer Verstärkung der Lateralisation der Patella. Hier kann durch eine konservative Therapie mit einer Kräftigung der Tibialis-posterior-Muskelsehneneinheit und allenfalls mit medial abstützenden Einlagen oft ein positives Ergebnis erreicht werden. Diese Einlagen können, wenn sie medial ein wenig angehoben werden (ca. 0,5 cm) einen leichtgradigen varischen Effekt auf das Kniegelenk ausüben. Gelegentlich muss ein ausgeprägter Kniegelenksvalgus operativ korrigiert werden (Varisationsosteotomie).
Abbildung 3: Bestimmung der TTTG als Distanz zwischen dem höchsten Punkt der Tuberositas tibiae und dem tiefsten Punkt der Trochleagrube
Abbildung 4: Die femorale Innenrotation und die tibiale Aussenrotation bewirken eine Lateralisation der Patella
zu bedenken ist. Auch eine tibiale Aussenrotation sollte mittels CT oder MRI abgeklärt werden. Dabei bestimmt man den Abstand von der Tuberositas tibiae und der Trochleagrube (TTTG = tuberositas tibiae trochlear groove). Werte über 16 mm sind pathologisch, solche Befunde müssen im Behandlungskonzept berücksichtigt werden (Abbildung 3). Häufig liegt eine kombinierte Rotationsfehlstellung sowohl am Femur als auch an der Tibia vor (Abbildung 4).
Achsenverhältnisse Ein Kniegelenksvalgus geht mit einer Lateralisation der Patella einher, wodurch der Q-Winkel erhöht wird (Abbil-
Trochleamorphologie Einer der wichtigsten Faktoren für die Stabilität der Patella ist die Morphologie der Trochlea. Diese bildet die knöcherne Führung der Patella. Meistens liegt bei rezidivierenden Patellaluxationen eine Dysplasie der Trochlea unterschiedlichen Ausmasses zugrunde. Eine physiologisch ausgebildete Trochlea weist eine konkave Form (Abbildung 6a) auf und kann die darin gleitende Patella sehr gut stabilisieren. Je nach Ausmass der Dysplasie ist diese Führungsgrube flach (Abbildung 6b) oder sogar konvex (Abbildung 6c). Die Stabilität der Patella nimmt entsprechend ab. Das Ausmass der Dysplasie bestimmt weitgehend das therapeutische Vorgehen.
Höhe der Patella und patellofemoraler Index nach Biedert Eine hohe Patella (Patella alta) gilt als Risikofaktor für eine Patellaluxation, da sie sich «ausserhalb» der trochleären Führung befindet und erst bei höheren Flexionsgraden in die knöcherne Führung gleitet. Zur Beurteilung wird ein MRI des Kniegelenks in voller Streckung durchgeführt. Hier wird
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Abbildung 7: Caton-DeschampsIndex (Strecke b/Streck a) >1,2 ist pathologisch (hier: 1,7)
Abbildung 8: Patellofemoraler Coverage-Index: Ausmass der Überlappung der Gelenkflächen retropatellär und der Trochlea (Strecke b/Strecke a), pathologisch <25 Prozent Patella-Erstluxation Röntgen MRT ggf. Ganzbeinaufnahme ggf. Torsions-CT Patellar Instability Severity-(PIS-)Score? Flake-Fraktur? Flake-Fraktur? Ja Flake-Fraktur? Nein Tabelle: Patellar-Instability-Severity-Score Risikofaktor Alter > 16 Jahre ≤ 16 Jahre
Punkte
0 1
kontralaterale Instabilitaẗ nein ja
0 1
Trochleadysplasie nach Dejour nein leicht (Typ A) schwer (Typ B-D)
0 1 2
Patellahoḧ e nach Insall Salvati ≤ 1,2 > 1,2
0 1
TT-TG Abstand (mm) < 16 ≥ 16 0 1 Patella Tilt (Grad) ≤ 20 > 20
0 1
Gesamtpunktzahl
modifiziert nach Balcarek et al., KSSTA 2014 (©2015 AGA-Komitee Knie-Patellofemoral)
7
PIS-Score ≤ 3 Punkte
PIS-Score ≥ 4 Punkte
PIS-Score ≥ 4 Punkte
PIS-Score ≤ 3 Punkte
Flake-Refixation MPFL-Naht oder
Refixation
Flake-Refixation MPFL-Plastik
ggf. weitere Eingriffe zur Beseitigung von
Risikofaktoren
Primär operative Therapie erwägen (Individualentscheidung)
konservative Therapie
Abbildung 9: Therapiealgorithmus bei Patellaerstluxation (©AGA-Komitee Knie-Patellofemoral)
neben dem Caton-Deschamps-Index (siehe Abbildung 7) neu auch der sogenannte patellofemorale Index nach Biedert bestimmt (siehe Abbildung 8). Dieser zeigt, wie viel des gelenkigen Anteils der Patella bereits (in Streckung) in die Trochlea eingetaucht ist. Ein Caton-Deschamps-Index über 1,2 sowie ein patellofemoraler Index unter 25 Prozent sprechen für eine Instabilität.
Fazit für die Praxis
s Für die Stabilität der Patella sind insbesondere die Form respektive die Konkavität der Trochlea, die Höhe der Patella, die Rotationsverhältnisse an Femur und Tibia sowie der Zustand der Weichteilstabilisatoren entscheidend.
s Jede Patellaluxation sollte bildgebend (Röntgen des Kniegelenks und MRI) abgeklärt werden, weil sich bei osteochondralen Verletzungen sowie hohem Reluxationsrisiko («Patellar Instability Severity»-Score) eine Operationsindikation ergibt.
s Bei Unsicherheit empfiehlt sich die Inanspruchnahme einer mit der Problematik vertrauten Fachperson. Der «PatellarInstability-Severity»-Score und der Therapiealgorithmus sind eine nützliche Hilfe zur korrekten Therapieeinleitung.
s Beim Entschluss zur konservativen Therapie ist ein korrektes Nachbehandlungsschema für den Erfolg unabdingbar. s
«Patellar-Instability-Severity»-Score hilft bei der Beurteilung
Nach jeder Patellaluxation sollte diagnostisch neben dem Ausschluss osteocartilaginärer Verletzungen die Schwere der Patellainstabilität beurteilt werden. Hierbei hat die Arbeitsgruppe der AGA (Gesellschaft für Arthroskopie und Gelenkchirurgie) einen wissenschaftlich evaluierten Score (PIS-[patellar instability severity]-Score, siehe Tabelle) etabliert, welcher eine Einschätzung hinsichtlich der Gefahr einer möglichen Rezidivluxation erlaubt. Daraus abgeleitet ergibt sich auch der Behandlungsalgorithmus (Abbildung 9).
Dr. med. Daniel Goricki Facharzt für Orthopädie und Traumatologie des Bewegungsapparates FMH, Sportmedizin SGSM Gotthelfstrasse 105, 4054 Basel E-Mail: info@athlon-orthopedics.ch Internet: www.athlon-orthopedics.ch
Abbildungen (sofern nicht anders angegeben): www.athlon-orthopedics.ch. Die Abbildungen der AGA stammen aus Heft I «Diagnostik des Patellofemoralgelenkes», AGA-Komitee-Knie-Patellofemoral.
Interessenlage: Der Autor deklariert, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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