Transkript
FORTBILDUNG
Inkontinenz und Impotenz nach Prostatektomie
Wie gross ist die Gefahr?
Nach einer radikalen Prostatektomie wegen Prostatakrebs können Störungen von Kontinenz und Potenz auftreten. Allerdings in der Regel nicht für immer. Auch nach einem Jahr, unter Umständen sogar noch später, können sich diese Funktionen wieder vollständig erholen.
Philipp Mandel1, Derya Tilki1 und Markus Graefen1
Kasuistik
In Ihrer Praxis stellt sich ein Patient zwölf Monate nach RP vor. Er berichtet über eine weiter bestehende Inkontinenz, vor allem unter Belastung mit einem Vorlagengebrauch von zwei Vorlagen in 24 Stunden. Der Leidensdruck ist moderat, dennoch möchte der Patient wissen, wie die Prognose für eine weitere Besserung im Verlauf ist.
Der Hausarzt betreut häufig Patienten, die eine radikale Prostatektomie (RP) bei Prostatakarzinom hinter sich haben. Für sie sind – neben den krebsrelevanten Faktoren nach der Operation – auch die funktionellen Ergebnisse entscheidend, nämlich Kontinenz und Potenz (1). Bis diese beiden Funktionen nach einer RP wiedererlangt werden, vergeht allerdings geraume Zeit. Mit der Unsicherheit vieler Patienten sehen sich Urologen und Hausärzte deshalb gleichermassen konfrontiert.
MERKSÄTZE
Nach radikaler Prostatektomie sind Kontinenz und Potenz häufig, wenn auch nicht dauerhaft, beeinträchtigt.
Fortschritte in der intraoperativen Technik haben zu einer aktiven Verbesserung der Prognose der funktionellen Ergebnisse beigetragen.
Beim überwiegenden Teil der Patienten haben sich bereits 3 und vor allem 12 Monate nach Operation Kontinenz und Potenz wieder eingestellt, aber auch zu späteren Zeitpunkten sind durchaus noch Verbesserungen möglich.
Als Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Erholung der funktionellen Ergebnisse im Verlauf erhöhen, gelten vor allem eine mildere Inkontinenz oder Impotenz nach 12 Monaten.
Einflussfaktoren
In der Literatur sind zahlreiche Faktoren beschrieben, welche die Wiedererlangung von Kontinenz und Potenz nach RP begünstigen. Dazu gehören etwa ein jüngeres Patientenalter (2), ein geringerer Body-Mass-Index (BMI) (3, 4), ein kleineres Prostatavolumen (5) sowie eine fehlende vorausgegangene (6) oder darauffolgende Bestrahlung (sowohl adjuvante als auch «salvage») (7). Diese Angaben haben jedoch nur informativen Charakter. Für eine aktive Verbesserung der Prognose der funktionellen Ergebnisse sind hingegen operative Aspekte ausschlaggebend. Zu den intraoperativen Faktoren zählt hier vor allem der sogenannte intrafasziale Nerverhalt. Der Erhalt der Gefäss-Nerven-Bündel ist mit verbesserten postoperativen Kontinenz- und Potenzraten assoziiert (8) und sollte daher stets angestrebt werden, solange die onkologische Sicherheit dadurch nicht beeinträchtigt wird (9). Zur Ausweitung des Nerverhalts können intraoperative Schnellschnitte beitragen, die jedoch nicht jede Klinik vornehmen kann (in der Martini-Klinik wird dieses Verfahren «neurovascular structure-adjacent frozen-section examination» [NeuroSAFE] genannt) (10). Bei der Präparation der Harnröhre ist zudem auf die Erhaltung eines möglichst langen externen Sphinkters der Urethra zu achten. Schon eine Woche nach der Katheterentfernung lassen sich hier verbesserte Kontinenzraten beobachten (11). Darüber hinaus gibt es vereinzelt Hinweise, dass die roboterassistierte RP im Vergleich zur offenen Operation zu einer leicht verbesserten Wiedererlangung der Kontinenz (3) und der Potenz (8) (12) nach RP führen kann. Neben diesen Fortschritten in der intraoperativen Technik sind ausserdem die besseren funktionellen Ergebnisse bei Patienten zu nennen, die in einem «High-volume-Zentrum operiert wurden (13).
Wiedererlangung von Kontinenz und Potenz
Die Angaben zur Wiedererlangung der Kontinenz und der Potenz schwanken in der Literatur je nach Definition und Beobachtungszeitraum. Ältere Studien postulierten zudem, dass zwölf Monate nach RP keine relevante weitere Verbesserung zu erwarten sei (14, 15).
1 Martini-Klinik, Prostatakrebszentrum, Hamburg
2 ARS MEDICI 6 | 2018
FORTBILDUNG
Tabelle 1:
Funktionelle Ergebnisse nach radikaler Prostatektomie (Martini-Klinik)
3 Monate nach Operation
Kontinenz (0–1 Sicherheitsvorlage/24 h)
76,1%
1–2 Vorlagen/24 h
18,2%
3–5 Vorlagen/24 h
5,0%
> 5 Vorlagen/24 h
0,7%
Ausreichende Erektionsfähigkeit 46,3% für Geschlechtsverkehr
12 Monate nach Operation 91,9%
6,4% 2,1% 0,5% 63,7%
nach einem Jahr die Wahrscheinlichkeit zur Erlangung der Kontinenz nach zwei Jahren bei 30 Prozent und nach drei Jahren sogar bei 49 Prozent lag; bei Impotenz zwölf Monate nach RP waren es 22 Prozent nach 24 Monaten und 32 Prozent nach 36 Monaten (17). Diese Ergebnisse konnte unsere Klinik anhand unserer Datenbank mit mehr als 24 000 Patienten nach RP eindeutig bestätigen: Die Erlangung der Kontinenz lag bei 39 Prozent nach 24 Monaten und bei 50 Prozent nach 36 Monaten. Auch von den Patienten, die zwölf Monate nach der Operation impotent waren, hatten 31 Prozent und 37 Prozent nach 24 beziehungsweise 36 Monaten doch noch eine für den Geschlechtsverkehr ausreichende Erektion (18). Über ähnliche Ergebnisse zur Wiedererlangung der Kontinenz nach 24 und 36 Monaten berichtet das National University Hospital in Seoul (Tabelle 2) (19).
Tabelle 2:
Wahrscheinlichkeit einer Wiedererlangung der Kontinenz oder Potenz im weiteren Verlauf bei Patienten, die nach 12 Monaten noch keine Kontinenz oder Potenz erreicht haben
Memorial Sloan Kettring Centre Martini-Klinik Prostatakrebszentrum Seoul National University Hospital
Kontinenz 24 Monate nach Operation
30% 39% 29%
36 Monate nach Operation
49% 50% 48%
Potenz 24 Monate nach Operation
22% 31% –
36 Monate nach Operation
32% 37% –
In unserer Klinik zeigte sich durch die genannten operativen Techniken eine Wiedererlangung der Kontinenz (definiert als die Verwendung von keiner oder einer Sicherheitsvorlage) bei 76,1 Prozent der Patienten nach drei Monaten und bei 91,9 Prozent nach einem Jahr (Tabelle 1). Nach drei Monaten benötigen 18,2 Prozent ein bis zwei Vorlagen in 24 Stunden, 5,0 Prozent drei bis fünf und nur 0,7 Prozent mehr als fünf Vorlagen pro Tag. Nach zwölf Monaten liegen die Zahlen für ein bis zwei, drei bis fünf und mehr als fünf Vorlagen in 24 Stunden bei 6,4 Prozent, 2,1 Prozent und 0,5 Prozent. Somit besteht eine relevante Inkontinenz, die sich auch auf die Lebensqualität auswirkt, sowohl nach drei als auch nach zwölf Monaten nur bei einem sehr geringen Anteil der Patienten (ca. 5–6% nach 3 und 2–3% nach 12 Monaten). Die Wahrscheinlichkeit für eine Erektion, die ausreichend für den Geschlechtsverkehr ist, lag drei Monate beziehungsweise zwölf Monate nach der Operation bei 46,3 Prozent respektive 63,7 Prozent für Patienten mit einem beidseitigen Nerverhalt (16). Verglichen mit anderen Kliniken sind dies insgesamt sehr gute Ergebnisse (3, 8). Was passiert aber mit Patienten, die nach zwölf Monaten noch keine Kontinenz oder Potenz erreicht haben? Ist trotzdem auch im weiteren Verlauf die Erlangung der Kontinenz oder der Potenz möglich? Neue Studien haben Patienten, die nach zwölf Monaten noch inkontinent oder impotent waren, mit einem langfristigen Follow-up weiter beobachtet. Eine Arbeitsgruppe aus dem Memorial Sloan Kettering Cancer Center in New York konnte beziffern, dass bei Inkontinenz
Als Faktoren, mit denen sich die Wahrscheinlichkeit einer
weiteren Erholung der funktionellen Ergebnisse im Verlauf
erhöhen lässt, wurde in den Studien vor allem die mildere In-
kontinenz oder die Impotenz nach zwölf Monaten festgelegt.
Patienten, die nur wenige Vorlagen am Tag brauchen und
noch eine gewisse Gliedsteife erreichen (auch wenn diese zur-
zeit nicht für den Geschlechtsverkehr ausreicht), kann man
demnach auch als Hausarzt Mut machen: Durch intensivier-
tes Beckenbodentraining und die Gabe von PDE-(Phospho-
diesterase-)5-Hemmern oder ähnlichen Medikamenten lässt
sich der funktionelle Zustand verbessern.
L
Korrespondenzadresse: PD Dr. Dr. Philipp Mandel Klinik für Urologie Universitätsklinikum Frankfurt D-60590 Frankfurt
Interessenkonflikte: keine
Literatur unter www.arsmedici.ch
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 19/2017. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
4 ARS MEDICI 6 | 2018
FORTBILDUNG
Literatur: 1. Ficarra V et al.: Systematic review of methods for reporting combined
outcomes after radical prostatectomy and proposal of a novel system: The Survival, Continence, and Potency (SCP) Classification. Eur Urol 2012; 61: 541–548. 2. Mandel P et al.: Tumor characteristics and oncologic outcome after radical prostatectomy in men 75 years old or older. J Urol 2016; 196: 89–94. 3. Ficarra V et al.: Systematic review and meta-analysis of studies reporting urinary continence recovery after robot-assisted radical prostatectomy. Eur Urol 2012; 62: 407–417. 4. Mandel P et al.: The effect of BMI on clinicopathologic and functional outcomes after open radical prostatectomy. Urol Oncol 2014; 32: 297–302. 5. Mandel P et al.: Impact of prostate volume on oncologic, perioperative, and functional outcomes after radical prostatectomy. Prostate 2015; 75: 1436–1446. 6. Mandel P et al.: Salvage radical prostatectomy for recurrent prostate cancer: verification of European Association of Urology guideline criteria. BJU Int 2016; 117: 55–61. 7. Suardi N et al.: Impact of adjuvant radiation therapy on urinary continence recovery after radical prostatectomy. Eur Urol 2014; 65: 546–551. 8. Ficarra V et al.: Systematic review and meta-analysis of studies reporting potency rates after robot-assisted radical prostatectomy. Eur Urol 2012; 62: 418–430. 9. Palisaar R et al.: Influence of nerve-sparing (NS) procedure during radical prostatectomy (RP) on margin status and biochemical failure. Eur Urol 2005; 47: 176–184. 10. Schlomm T et al.: Neurovascular structure-adjacent frozen-section examination (NeuroSAFE) increases nerve-sparing frequency and reduces positive surgical margins in open and robot-assisted laparoscopic radical prostatectomy: experience after 11069 consecutive patients. Eur Urol 2012; 62: 333–340. 11. Schlomm T et al.: Full functional-length urethral sphincter preservation during radical prostatectomy. Eur Urol 2011; 60: 320–329. 12. Kim S et al.: Factors determining functional outcomes after radical prostatectomy: robot-assisted versus retropubic. Eur Urol 2011; 60: 413–419. 13. Trinh QD et al.: A systematic review of the volume-outcome relationship for radical prostatectomy. Eur Urol 2013; 64: 786–798. 14. Prabhu V et al.: Long-term continence outcomes in men undergoing radical prostatectomy for clinically localized prostate cancer. Eur Urol 2014; 65: 52–57. 15. Sivarajan G et al.: Ten-year outcomes of sexual function after radical prostatectomy: results of a prospective longitudinal study. Eur Urol 2014; 65: 58–65. 16. Mandel P et al.: The effect of age on functional outcomes after radical prostatectomy. Urol Oncol 2015; 33: 203.e11-8. 17. Lee JK et al.: Unexpected long-term improvements in urinary and erectile function in a large cohort of men with self-reported outcomes following radical prostatectomy. Eur Urol 2015; 68: 899–905. 18. Mandel P et al.: High chance of late recovery of urinary and erectile function beyond 12 months after radical prostatectomy. Eur Urol 2017; 71: 848–850. 19. Jeong SJ et al.: Urinary continence after radical prostatectomy: predictive factors of recovery after 1 year of surgery. Int J Urol 2012; 19: 1091–1098.
ARS MEDICI 6 | 2018