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Prävention
Zweifel am «Adipositas-Paradoxon»
Obwohl Adipositas ein Risikofaktor für verschiedene Krankheiten ist, zeigte sich in einer vor fünf Jahren publizierten Studie, dass ein BMI zwischen 30 und 35 das Leben nicht verkürzt und man mit einem BMI in dem als Übergewicht klassifizierten Intervall zwischen 25 und 30 sogar länger lebt als Normal- und Untergewichtige (1). Diesem als «Adipositas-Paradoxon» bezeichnetem Phänomen widersprechen nun die USamerikanische Kardiologin Sadiya S. Khan und ihre Co-Autoren (2). Ohne im Detail auf die eingangs erwähnte Studie einzugehen argumentieren sie, dass die Beobachtung, übergewichtige Personen würden länger überleben als normalgewichtige einer verfälschtenWahrnehmung geschuldet sei. Vielmehr sei es so, dass übergewichtige und adipöse Personen bereits früher im Leben kardiovaskulär erkrankten. Betrachte man nun alle Personen zum gleichen Zeitpunkt, hätten die bereits erkrankten wegen ihrer Erkrankung bereits abgenommen. Sie sind dann normalgewichtig, sterben aber wegen der fortgeschrittenen Erkrankung früher als die zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch nicht so lange erkrankten und darum (noch) übergewichtigen Herzpatienten. Es sei darum wichtig, Kohorten zu betrachten, in welche die Probanden bereits vor dem Eintritt kardiovaskulärer Erkrankungen aufgenommen wurden. Ausgewertet wurden in der neuen Studie die im «Cardiovascular Disease Lifetime Risk Pooling Project» gesammelten Daten von Teilnehmern verschiedener prospektiver Kohortenstudien in den USA von 1964 bis 2015. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die jeweilige Kohorte waren diese Personen zwischen 20 Jahre und 79 Jahre alt, ohne kardiovaskuläre Erkrankung, mit mindestens einer objektiv durchgeführten Messung von Körpergrösse und -gewicht und einem Follow-up-Zeitraum von mindestens zehn Jahren. Der BMI-Verlauf wurde in der Studie nicht berücksichtigt, ebensowenig Feinheiten wie Fettverteilung oder das Verhältnis von Muskel- zu Fettmasse. Alle Korrelationen beziehen sich somit auf die einmalige BMI-Messung bei Eintritt in die Kohorte. Die BMI-Klassen waren folgendermassen definiert: BMI < 18,5 = Untergewicht; BMI 18,5 bis 24,9 = Normalgewicht; BMI 25 bis 29,9 = Übergewicht; BMI 30 bis 39,9 = Adipositas; BMI ≥ 40 = morbide Adipositas. Ausgewertet wurde zudem in drei Altersgruppen: jung (20–39 Jahre), mittleres Alter (40–59 Jahre) und alt (60–79 Jahre). Auf den ersten Blick scheinen die Risiken durch Übergewicht gewaltig anzusteigen. So haben übergewichtige Männer mittleren Alters (40– 59 Jahre, BMI 25-29,9) im Vergleich mit normalgewichtigen Gleichaltrigen ein um 21 Prozent erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz, kardiovaskulärer Tod). Bei den Adipösen ist das Risiko um 67 Prozent erhöht, bei den morbid Adipösen gar um mehr als 200 Prozent. Bei den Frauen sieht es ähnlich aus. Aber leben Schlanke – beziehungsweise zumindest irgendwann einmal, nämlich zu Zeitpunkt der Aufnahme in die Kohorte, schlank Gewesene – nun tatsächlich länger als die Dicken? Das kommt darauf an, was man unter «dick» versteht. In keiner Altersklasse findet sich ein wirklich relevanter Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den Normal- und den Übergewichtigen. Für ein langes Leben scheint ein BMI zwischen 18,5 und 29,9 also eher keine Rolle zu spielen. Beispielsweise darf sich eine Frau mittleren Alters mit Normalgewicht gemäss Khans Statistik auf mindestens weitere 33,2 Lebensjahre freuen, mit Übergewicht sind es 31,8 Jahre. Kein Unterschied fand sich zwischen normal- und übergewichtigen Frauen über 60 Jahre, die mit 22,4 beziehungsweise 22,7 zusätzlichen Jahren rechnen dürfen. Eine verminderte Lebenserwartung zeigte sich hingegen bei den Untergewichtigen, Adipösen und morbid Adipösen in allen Altersgruppen imVergleich mit Normalgewichtigen. Eine Ausnahme war die Gruppe der alten Männer (60–79 Jahre): Hier hatten adipöse Männer eine gleich lange Lebenserwartung wie die normalgewichtigen und übergewichtige lebten sogar ein Jahr länger. Alles in allem wird die altbekannte Erkenntnis, dass leichtes Übergewicht die Lebenserwar- tung nicht verkürzt oder sie sogar etwas verlän- gert, also auch in dieser Studie bestätigt. Khan und ihre Co-Autoren fordern trotzdem vehe- ment, prinzipiell einen BMI zwischen 18,5 und 24,9 anzustreben. Ihr Argument: Übergewicht erhöht das Risiko kardiovaskulär zu erkranken und somit länger damit leben zu müssen. Dies bedeute eine schlechtere Lebensqualität, funk- tionelle Einschränkungen, mehr Fehlstunden am Arbeitsplatz und nicht zuletzt höhere Kos- ten für das Gesundheitswesen. Betroffen sind davon Personen mittleren und höheren Alters, und es geht im Durchschnitt um Zeiträume in einer Grössenordnung von ein bis zwei Jahren. Ob man dies nun als relevant genug einstuft, um allen den oben genannten Ziel-BMI zu ver- ordnen, ist eine andere Frage. RBO L 1. Flegal KM et al.: Association of all-cause mortality with overweight and obesity using standard body mass index categories: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2013; 309(1): 71–82. 2. Khan SS et al.: Association of body mass index with lifetime risk of cardiovascular disease and compression of morbidity. JAMA Cardiol 2018; published online Feb 28, 2018. 166 ARS MEDICI 5 | 2018 Neurologie Salz ist kein Risikofaktor für MS Vor einiger Zeit keimte der Verdacht, dass zu viel Salz in der Ernährung ein Risikofaktor für Multiple Sklerose (MS) sein könnte. Tierversuche mit speziellen Mäusen, bei denen man MS experimentell herbeiführen kann, hatten gezeigt, dass eine salzreiche Fütterung zu einem erhöhten Aufkommen bestimmter T-Lymphozyten mit autoimmuner Potenz führte und die MS-ähnlichen Symptome unter salzreicher Ernährung gravierender waren. In einer vor drei Jahren publizierten Studie mit MS-Patienten schien hoher Salzkonsum mit einer vermehrten Anzahl von MS-Schüben zu korrelieren (1). In anderen Studien mit MS-Patienten fanden sich dafür keine Anhaltspunkte. Dies gilt auch für die jüngsten Studie dieser Art, einer nachträglichen Auswertung der BENEFIT-Studie (2). In dieser ging es primär um die Frage, ob man Patienten bereits nach dem ersten MS-verdächtigen Symptom mit Interferon behandeln sollte oder nicht. Da von den Probanden regelmässig Urinproben gesammelt und der weitere Verlauf, das heisst das Auftreten von MS-Schüben, über fünf Jahre hinweg detailliert verfolgt wurde, bot sich nun die Gelegenheit, die Urinproben auf ihren Salzgehalt zu untersuchen und zu schauen, ob es eine statistisch relevante Assoziation zwischen salzreicher Ernährung und MS-Schüben bei Menschen gibt. Die Antwort lautet Nein. RBO L 1. Farez MF et al.: Sodium intake is associated with increased disease activity in multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2015; 86(1): 26-31. 2. Fitzgerald KC et al.: Sodium intake and multiple sclerosis activity and progression in BENEFIT. Ann Neurol 2017; 82(1): 20–29. Kinderwunsch Asthmabehandlung beeinflusst Empfängnis Frauen, deren Asthma nur mit kurzwirksamen Asthmamedikamenten eingestellt ist, brauchen länger, um schwanger zu werden als andere Frauen. Frauen mit Asthma, die langwirksame Substanzen zur Asthmaprävention nehmen, empfangen hingegen gleich schnell wie andere Frauen, heisst es in einer Untersuchung, die kürzlich im European Respiratory Journal publiziert wurde. Die Forscher werteten Daten der internationalen SCOPE-Studie (Screening for Pregnancy Endpoints) aus. Sie umfasste mehr als 5000 Frauen in der Frühschwangerschaft, die ihr erstes Kind erwarteten. Mehr als 10 Prozent dieser Frauen gaben an, unter Asthma zu leiden, und gesamthaft dauerte es länger, bis sie schwanger wurden als Frauen ohne Asthma. Bei einem genaueren Blick auf die Medikation ergab sich jedoch, dass das nicht für alle gleichermassen zutraf. Bei Frauen, die langwirksame Substanzen zur Behandlung ihres Asthmas einnahmen, unterschied sich die Zeit bis zur Konzeption nicht von der bei Frauen ohne Asthma. Frauen, die lediglich kurzwirksame Betaagonisten verwendeten, mussten bis zur Empfängnis durchschnittlich 20 Prozent länger warten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es länger als ein Jahr dauerte, schwanger zu werden (von den Forschern als Infertilität definiert) wurde mit 30 Prozent beziffert. Mü L Grzeskowiak LE et al.: Asthma treatment impacts time to pregnancy: evidence from the international SCOPE study. European Respiratory Journal 2018; 51: 1702035. Pneumologie Lieber im Park spazieren gehen Man hätte es sich schon denken können, aber nun gibt es auch eine Studie, die es belegt: Spazierengehen im Park ist gesünder als an einer viel befahrenen Strasse. Ein Londoner Ärzteteam liess 119 Personen im Abstand von ein bis zwei Monaten spazieren gehen - einmal im verkehrsfreien Teil des Hyde-Parks und einmal am westlichen Ende der von Taxis und Bussen, meist mit Dieselmotoren, viel befahrenen Oxford Street. Es handelte es sich um 40 COPD-Patienten (GOLDStadium 2), 39 Patienten mit ischämischer Herzerkrankung und 40 gesunde Probanden, alle im Alter über 60 Jahre. Wie zu erwarten war die Belastung an Russ, Stickstoffoxid und Feinstaub in der Oxford Street höher als im Hyde Park. Der Spaziergang in Hyde Park war für alle Probanden wohltuend: Unab- hängig von ihrer Erkrankung verbesserten sich Herz- und Lungenparameter, und diese Verbes- serung hielt einige Zeit an. Nach dem Aufenthalt in der Oxford Street war das nicht der Fall, und die Lungenkranken klagten zudem über mehr Husten, Auswurf und Atemnot. RBO L Sinharay R et al.: Respiratory and cardiovascular responses to walking down a trafficpolluted road compared with walking in a traffic-free area in participants aged 60 years and older with chronic lung or heart disease and age-matched healthy controls: a randomised, crossover study. Lancet 2018; 391: 339–349. Rückspiegel Vor 10 Jahren Nicht besser als Plazebo Häufig eingesetzte Antidepressiva sind oft nicht besser als Plazebo, allenfalls bei schwer depressiven Patienten könnten sie hilfreich sein. Zu diesem Schluss kommt eine Ende Februar im Online-Journal PLoS publizierte Metaanalyse, in welche auch unveröffentlichte Studien aus den FDA-Zulassungsdossiers einbezogen sind. Demnach sind diese Medikamente erst ab einem Wert von 26 auf der «Hamilton Rating Scale of Depression» besser als Plazebo, klinisch relevant sei der Unterschied erst ab einem Wert von 28. Vor 50 Jahren Radioaktivität in der Schweiz Die eidgenössische Kommission zur Überwachung der Radioaktivität legt ihren Bericht für 1966 vor. In jenem Jahr gab es drei chinesische und fünf französische Atombombentests. Trotzdem war die Radioaktivität in Luft und Regen auf dem tiefsten Stand seit 1955, seit Beginn der Überwachung. Im Allgemeinen sank auch die Kontamination der Lebensmittel, aber nicht überall. So zeigte sich in Milchproben vom Stillberg bei Davos ein starker Anstieg des radioaktiven Cäsiums. Zusammenfassend wird die Kontaminationslage aber als sehr günstig und für den Menschen als gefahrlos eingeschätzt. Vor 100 Jahren Praktische Winke Bei paroxysmaler Tachykardie soll der Patient stehend tief einatmen, sich sodann «möglichst brüsk flach aufs Bett oder einen Divan» werfen und erst dann langsam ausatmen. Damit könne man den Anfall kupieren, schreibt ein Wiener Arzt in ARS MEDICI. Ein anderer empfiehlt infizierte Wunden zweibis dreimal täglich zwei Stunden lang zu heizen und zwar mit einer Glühbirne, die «direkt über dem ersten Verband in einem dunklen Tuch festgebunden» wird. Die Temperatur solle dabei so hoch sein wie sie der Patient verträgt. RBO L ARS MEDICI 5 | 2018