Transkript
BERICHT
Management chronischer Schmerzen
Durch Gespräche und Psychotherapie die Schmerzspirale durchbrechen
Die meisten chronischen Schmerzen sind neuropathisch verursacht und lassen sich nicht vollständig heilen. Anlässlich der Fortbildung «Psychiatrie und Somatik im Dialog» zeigte Dr. med. Salih Muminagic, Facharzt für physikalische Medizin und Rehabilitation in Zürich, auf, dass neben einer geeigneten medikamentösen Behandlung und Physiotherapie psychotherapeutische Interventionen ganz wesentlich zum Therapieerfolg beitragen.
Etwa jeder fünfte Patient in der hausärztlichen Praxis leidet unter chronischen Schmerzen, meist in mehreren Körperregionen gleichzeitig. Am häufigsten sind Rücken- und Gelenkschmerzen. Chronische Rückenschmerzen generieren in der Schweiz jährlich zwischen 8 und 9 Milliarden Franken an Gesundheitskosten. Nach ICD-10 wird anhaltender Schmerz nach sechs Monaten als chronisch bezeichnet. Dabei korrelieren die subjektive, schmerzbedingte Beeinträchtigung und die objektive Organschädigung häufig nicht. Vielfach ist eine vollständige Heilung von chronischen Schmerzen nicht möglich. Angst, Depressionen und somatoforme Störungen sind die Folgen. Klinisch werden nozizeptive (durch einen Gewebeschaden ausgelöste), neuropathische (durch eine Nervenläsion verursachte) und funktionelle (ohne erkennbares organisches Korrelat verschuldete) Schmerzen sowie deren Mischformen (mixed pain) unterschieden. Während nozizeptive Schmerzen meist durch akute Ereignisse wie Entzündungen, Frakturen oder postoperativ ausgelöst werden, sind neuropathische Schmerzen grösstenteils chronischer Art, wie beispielsweise die postherpetische Neuralgie, diabetische Polyneuropathien, posttraumatische Nervenläsionen, Poststroke-Schmerz oder Multiple Sklerose. Typisch für chroni-
KURZ & BÜNDIG
Chronische Schmerzen haben meist einen neuropathischen Ursprung.
Medikamente, welche beim Patienten keine analgetische Wirkung zeigen, sollen abgesetzt und in der Krankengeschichte vermerkt werden.
Den grössten Anteil am Therapieerfolg machen das Patientenumfeld (40%) und die Beziehung zwischen Arzt und Patient (30%) aus.
Die Verbesserung der Selbstwirksamkeit und das Fördern von selbstmotivierenden Äusserungen sind ein wichtiger Bestandteil der Begleitung chronischer Schmerzpatienten.
sche Schmerzen ist neben lang anhaltendem Bestehen, dass kaum eine Veränderung zur Besserung eintritt und sich beim Patienten ein sogenanntes «Schmerzgedächtnis» entwickelt. Dies führt dazu, dass sich die Akzeptanz von chronischen Schmerzen sehr schwierig gestaltet und mit einem Verlust von Lebensqualität sowie sozialer Isolation bis hin zur Persönlichkeitsveränderung einhergeht.
Schmerzspezialisten hinzuziehen
Die Behandlung und Betreuung chronischer Schmerzpatienten stellt nicht nur für den Hausarzt eine grosse Herausforderung dar. Muminagic empfahl, bei Patienten mit neuropathischen Schmerzen, welche nach zwölf Wochen keine ausreichende Schmerzlinderung zeigen und deren Lebensqualität dauerhaft eingeschränkt ist, einen in der Schmerztherapie erfahrenen Spezialisten hinzuzuziehen. Im Vordergrund bei der Behandlung chronischer Schmerzpatienten stehen die Aufklärung über die Bedeutung psychosozialer Faktoren, das Erlernen aktiver Bewältigungsstrategien und die Verbesserung der Lebensqualität, wobei nicht nur die Körperfunktionen optimiert werden, sondern auch die psychische Stimmung durch private, berufliche und soziale Partizipation aufgehellt wird. Unter Einbezug der Patientenziele wird ein individueller Behandlungsplan erstellt und eine Schmerzlinderung um 30 bis 50 Prozent angestrebt, wie dies in den Leitlinien zur Diagnose und Therapie chronisch neuropathischer Schmerzen der deutschen Gesellschaft für Neurologie empfohlen wird. Wichtig für das Erreichen der gesteckten Ziele ist eine strukturierte Patientenführung mit regelmässigen Konsultationen und erneuter Evaluation der Befindlichkeit, um Exazerbationen des Schmerzzustands zu vermeiden.
Medikamentöse Therapie
Die vergleichsweise unproblematische Therapie nozizeptiver Schmerzen erfolgt nach dem WHO-Stufenschema mit einfachen Analgetika, nicht steroidalen Antirheumatika (NSAR) und schwachen beziehungsweise starken Opioiden. Neuropathische Schmerzen hingegen sprechen besser auf Antikonvulsiva (Gabapentin, Pregabalin), Antiepileptika
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(Carbamazepin) oder Antidepressiva (trizyklische Antidepressiva [TCA], selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer [SSNRI]) an. Auch lang wirksame Opioide sowie lokale Lidocain- oder Capsaicinpflaster sind eine Option. Im Falle funktioneller Schmerzen hingegen sollte nicht mit Opioiden behandelt, sondern eher die Therapie mit einem Antidepressivum in Betracht gezogen werden. Zu Beginn einer medikamentösen Behandlung chronisch-neuropathischer Schmerzen ist die Erhebung der ausführlichen Medikamentenanamnese ganz wichtig. Denn oft haben Patienten bereits einschlägige Erfahrungen mit einer bestimmten Wirkstoffgruppe gemacht. Muminagic plädierte in seinem Referat deshalb mit Nachdruck dafür, dass Analgetika, welche keine Wirkung zeigen, wieder abgesetzt und in der Krankengeschichte beziehungsweise im Austrittsbericht vermerkt werden sollten, um unnötige Wiederholungen von Therapieversuchen zu vermeiden. Zu beachten ist auch, dass Psychopharmaka ohne analgetisches Potenzial bei einer Schmerztherapie nicht indiziert sind. Kombinationspräparate mit Koffein, Benzodiazepine oder Muskelrelaxanzien sind ebenfalls nicht geeignet und bergen die Gefahr von Missbrauch und Abhängigkeit. Für die Therapie von chronischen Schmerzen sollten ferner Substanzen mit renalen und kardiovaskulären Langzeitwirkungen wie NSAR oder Coxibe vermieden werden.
Nicht medikamentöse Therapie
Im Gegensatz zu akuten Schmerzen, welche den Zweck erfüllen, den Menschen vor einer Gefahr (Verletzung, Entzündung etc.) zu warnen, haben chronische Schmerzen ihren «Sinn» gewissermassen verloren, indem die ursprüngliche Erkrankung geheilt oder bestmöglichst therapiert wird, die Schmerzen jedoch trotzdem persistieren. Gemäss dem Mainzer Modell der Schmerzchronifizierung (MPSS) werden drei Stadien chronischer Schmerzen unterschieden: L Im Stadium 1 können Schmerzbewältigungsmöglichkeiten
vom Patienten voll eingesetzt werden. L Im Stadium 2 sind zwar die Bewältigungsstrategien noch
vorhanden, werden aber fehleingesetzt («beginnende Invalidenrolle»). L Im Stadium 3 sind Bewältigungsstrategien nicht mehr nachweisbar (learned helplessness).
Das transtheoretische Modell (TTM) von Prochaska und DiClemente, welches die verschiedenen Stufen der Verhaltensänderung (Absichtslosigkeit, Absichtsbildung, Vorbereitung, Handlung, Aufrechterhaltung) beschreibt, findet auch in der Schmerztherapie Anwendung. Die nicht medikamentöse Therapie chronischer Schmerzen umfasst deshalb neben Physiotherapie und dem Erlernen von Entspannungstechniken vor allem Psychotherapie (Verhaltens- oder Traumatherapie) oder Entlastungsgespräche. Wie Lambert und Barley bereits 2001 festgestellt haben, beträgt der Anteil der gewählten Therapiemethode am Therapieerfolg nur 15 Prozent, derjenige der therapeutischen Beziehung zwischen Arzt und Patient jedoch 30 Prozent (1). Den grössten Anteil an einer erfolgreichen Behandlung, nämlich 40 Prozent, haben allerdings Faktoren und Erfahrungen, die ausserhalb der Therapie liegen, wie Familie, Freunde, Arbeitgeber, Haustiere und so weiter. Weitere 15 Prozent des Therapieerfolgs
gründen auf den Erwartungen des Patienten bezüglich der
Behandlung. Hier spielt der Plazebo-, aber auch ein mögli-
cher Nozeboeffekt eine entscheidende Rolle. Im Gespräch
mit dem Patienten geht es deshalb immer darum, dessen
Selbstwirksamkeit zu fördern. Der Begriff der Selbstwirk-
samkeit (self-efficacy) bezeichnet die Überzeugung einer Per-
son, auch schwierige Situationen und Herausforderungen
aus eigener Kraft erfolgreich bewältigen zu können. Selbst
wenn die Einsicht in die Notwendigkeit einer Veränderung
vorhanden ist, werden beim Patienten ohne das Vertrauen in
die eigenen Möglichkeiten keine veränderungsorientierten
Handlungen folgen. Wie aber erreicht man bei einem lange
Zeit schmerzgeplagten Patienten ein Umdenken und schliess-
lich eine Veränderung? An dieser Stelle brachte Muminagic
den Ausdruck «change talk» ein. Damit ist eine motivierende
Gesprächsführung gemeint, bei welcher das Erkennen und
Fördern von selbstmotivierenden und selbstverpflichtenden
Äusserungen des Patienten im Vordergrund steht. Denn
Aussagen, welche die Motivation und Selbstverpflichtung zu
Veränderungen umfassen, kündigen nachfolgendes Verhal-
ten in Richtung einer Veränderung an. Häufig sind jedoch
mehrere Anläufe, Rückfälle, Redundanzen und Geduld
nötig, um diesen nicht auf Anhieb erkennbaren Verände-
rungspotenzialen Raum zu geben. Wichtig ist, zusammen mit
dem Patienten eine Zielsetzung zu vereinbaren, die realistisch
ist (30–50% Schmerzverbesserung, keine vollständige Hei-
lung) und in messbaren Etappen erfolgen kann. Wenn es dem
Patienten gelingt, die Schmerzspirale zu durchbrechen,
Selbstwirksamkeit zu erlernen und eine Verbesserung seiner
Lebensqualität zu erreichen, dann führt der Weg von einer in-
validisierenden Chronifizierung der Schmerzen zurück zu
einem selbstbestimmten Leben.
L
Marianne I. Knecht
Quelle: Fortbildung Psychiatrie und Somatik im Dialog 2017, Referat «Chronische, medizinische Konditionen und psychologisches Management im klinischen Alltag (neuropathische Schmerzen)», Dr. med. Salih Muminagic, Chefarzt und Facharzt für physikalische Medizin und Rehabilitation, Rehaklinik Hasliberg, 21. September 2017 in Zürich.
Referenzen: 1. Lambert MJ, Barley DE: Research summary on the therapeutic relation-
ship and psychotherapy outcome. Psychotherapy: Theory, Research, Practice, Training 2011; 38(4): 357–361.
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