Transkript
POLITFORUM
Xundheit in Bärn
POSTULAT vom 15.6.2017
Freie Marktwirtschaft im Gesundheitswesen: Abschaffung des Einzelleistungstarifs
Matthias Samuel Jauslin Nationalrat FDP Kanton Aargau
Der Bundesrat wird eingeladen, dem Parlament die finanziellen, operativen und marktwirtschaftlichen Auswirkungen aufzuzeigen, wenn der Einzelleistungstarif Tarmed abgeschafft wird und die Vertragspartner in der Tarifgestaltung völlig frei sind.
Begründung In einem aufwendigen Verfahren werden unter den Vertragspartnern (Leistungserbringer und Krankenversicherer) die Preise für medizinische Leistungen verhandelt und verbindlich festgeschrieben. Dabei streiten Krankenkassen, Ärzte, Spitäler und Politik darüber, wie viel eine medizinische Leistung wert ist. Vielfach hinkt der Tarif dem technologischen Fortschritt nach, und einzelne Vergütungen bilden die marktwirtschaftlichen Kosten nicht ab. Immer wieder herrscht Stillstand in der sachgerechten Tarifgestaltung. Dieses Verfahren ist nicht nachhaltig und kann keinen Beitrag zur Reduktion der Gesundheitskosten leisten. Nun ist es an der Zeit, sich ernsthaft Gedanken über die Zukunft des Tarmed zu machen und das
Gesundheitswesen an die tatsächliche Marktwirtschaft heranzuführen. Es muss möglich sein, dass die Leistungserbringer die betriebseigenen Ansätze gemäss effektivem Aufwand verrechnen können, gleichzeitig aber auch die Patientinnen und Patienten oder Krankenversicherer einen individuellen Kostenvoranschlag verlangen können. Eine politische Festlegung des Tarmed verunmöglicht diese betriebseigene Kalkulation und Kostenrechnung. Gleichzeitig sollten die Tarifpartner auch die Möglichkeit erhalten, andere Abrechnungsformen zu vereinbaren und umzusetzen. Es ist deshalb angezeigt, die rechtlichen Rahmenbedingungen betreffend die Rolle der Vertragspartner kritisch zu überprüfen und wo nötig das KVG anzupassen.
STELLUNGNAHME DES BUNDESRATES VOM 6.9.2017
In der Obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) sind die Tarifpartner bereits heute weitgehend frei in der Tarifgestaltung. Das Bundesgesetz vom 18. März 1994 über die Krankenversicherung gibt zwar gewisse Rahmenbedingungen für die Tarifierung vor. Innerhalb dieser geniessen die Tarifpartner einen grossen Handlungsspielraum, den sie aber nur beschränkt nutzen. So schreibt das KVG etwa für die Vergütung von ambulanten Behandlungen keine bestimmte Tarifart vor. Insbesondere steht es ihnen frei, einen Tarif zu vereinbaren, der nicht auf einer Einzelleistungstarifstruktur wie dem Tarmed beruht. Dies kann zum Beispiel ein Pauschal- oder Zeittarif sein. Die Tarifpartner müssen dabei berücksichtigen, dass eine qualitativ hochstehende und zweckmässigeVersorgung zu möglichst günstigen Kosten erreicht wird. Der Bundesrat spricht sich gemäss seiner Strategie Gesundheit 2020 für eine Stärkung von Pauschalabgeltungen gegenüber Einzelleistungstarifen aus, weil sie grundsätzlich eine effiziente Leistungserbringung fördern und sich auch in der Umsetzung als praktikabel erweisen. Der Gesundheitsmarkt beziehungsweise das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage im Bereich der Krankenversicherung sind durch Ver-
zerrungen geprägt: Die über Selbstbehalt und Franchise hinausgehenden Kosten der Leistungen, die im Gesundheitsmarkt zulasten der OKP erbracht werden, trägt nicht der eigentliche Kostenverursacher, der Patient bzw. die Patientin, sondern die Versicherung. Die Leistungserbringer verfügen über mehr Informationen als die Patientinnen und Patienten und können die Nachfrage beeinflussen. Diese Konstellation bringt es mit sich, dass sich die Preise nicht im freien Wettbewerb und in Abhängigkeit von Angebot und Nachfrage im Markt bilden. Entsprechend bestehen im Gesundheitssystem keine Verhältnisse, in denen der freie Markt eine Preisbildung garantiert, die einen effizienten Einsatz der Mittel gewährleistet. Für die Entschädigung der zulasten der Versicherung tätigen Leistungserbringer werden daher zwischen den Leistungserbringern und Versicherern Tarife vereinbart. Die Tarife für Analysen sowie die Höchstvergütungsbeiträge für Mittel und Gegenstände werden vom Eidgenössischen Departement des Innern, die Preise für Arzneimittel vom Bundesamt für Gesundheit festgesetzt. Die OKP hat die Kosten der erbrachten Leistungen rückzuerstatten, sofern diese den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Es ist daher not-
wendig, dass klar ist, welche Kosten eine Sozialversicherung wie die OKP zu tragen hat und was die Versicherten vergütet erhalten. Nur ein solcher Rahmen bietet die notwendige Sicherheit für die Versicherten sowohl als Patientinnen und Patienten wie auch als Prämienzahler und Prämienzahlerinnen. Eine einseitig definierte Abrechnung durch die Leistungserbringer ohne weitere Rahmenbedingungen und bei nicht vorhandenen Marktmechanismen könnte dazu führen, dass jeder Leistungserbringer seine Kosten inklusive einer selbst veranschlagten Gewinnmarge ohne Weiteres überwälzen würde. Da aber letztlich völlig offen ist, was für ein Abrechnungssystem mit welchen Ansätzen als Alternative zum Tarmed zu erwarten wäre, können die im Postulat verlangten Auswirkungen nicht konkret abgeschätzt werden. Aus den dargelegten Gründen erachtet der Bundesrat es weder als sinnvoll noch als notwendig, die gewünschten Abklärungen zu treffen, und lehnt das Postulat ab.
Der Bundesrat beantragt die Ablehnung des Postulates.
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POLITFORUM
INTERPELLATION vom 15.6.2017
Gibt es bald einen klareren Rahmen für Personen mit psychischen Störungen?
Rebecca Ana Ruiz
Nationalrätin SP Kanton Waadt
In der Psychiatrie bezeichnet man als intermediäre Strukturen namentlich Tages- oder Nachtkliniken, «mobile Equipen», Polykliniken, die gemeinschaftliche psychiatrische Betreuung zu Hause und die poststationäre Behandlung. All diese Strukturen situieren sich zwischen dem ambulanten und dem stationären Bereich. Der Bundesrat anerkennt ihre Bedeutung für die Patientinnen und Patienten, denn mit ihnen lässt sich bei gewissen Personen ein stationärer Aufenthalt vermeiden oder eine ganzheitliche und koordinierte Nachbetreuung nach der stationären Behandlung sicherstellen. Der Bundesrat erinnert in seinem Bericht in Erfüllung des Postulates Stähelin 10.3255, «Zukunft der Psychiatrie», daran, dass für die Vergütung der
Leistungen im intermediären Bereich die TarmedTarifstruktur zur Anwendung kommt. Gemäss den im Bericht dargestellten Beobachtungen der Kantone und Leistungserbringer sind die geltenden Tarife nicht kostendeckend, da Tarmed für den ambulanten Bereich konzipiert und nicht auf die Art der Leistungen im intermediären Bereich ausgerichtet ist. Der Bundesrat geht im Bericht im Übrigen davon aus, dass die Leistungserbringer und die Kantone dafür zuständig sind zu prüfen, wie die intermediären Angebote in der Psychiatrie langfristig finanziert werden können. Die fehlende Koordination auf Bundesebene führt dazu, dass die Kantone eigene Modelle entwickeln, deren Finanzierung von den jährlich neu beschlossenen kantonalen Budgets abhängig ist. Diese unsichere Situation ist nicht förderlich für die Entwicklung von intermediären Strukturen – und dies, obwohl deren Nutzen von den Patientinnen und Patienten anerkannt ist. Genau diese sind es denn auch, die unter den Hürden für die Angebotsentwicklung leiden, denn sie werden nicht in der ganzen Schweiz gleich behandelt.
1. Ist der Bund der Ansicht, dass die Wiedereinführung im Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) und in der Verordnung über die Kostenermittlung und die Leistungserfassung durch Spitäler, Geburtshäuser und Pflegeheime in der Krankenversicherung (VKL) der für intermediäre Strukturen vorgesehenen Behandlungsform, einschliesslich Tages- und Nachtkliniken, die Situation sowohl für die Patientinnen und Patienten als auch für die Kantone, die Versicherer und die betroffenen Leistungserbringer klären könnte?
2. Falls nicht, wie gedenkt der Bund die Finanzierung der intermediären Strukturen möglichst bald und gesamtschweizerisch koordiniert sicherzustellen?
STELLUNGNAHME DES BUNDESRATES VOM 15.9.2017
1./2. Der hohe Stellenwert der intermediären Versorgungsangebote in der Psychiatrie ist unbestritten. Dies hat der Bundesrat im Bericht in Erfüllung des Postulates Stähelin 10.3255, «Zukunft der Psychiatrie in der Schweiz», festgehalten, den er im März 2016 verabschiedet hat (Quelle: BAG > Service > Publikationen > Bundesratsberichte 2016). Das Parlament verabschiedete im Jahr 2007 eine Teilrevision des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung (KVG; SR 832.10) betreffend Spitalfinanzierung (AS 2008 2049), welche auf das Konzept der teilstationären Behandlung verzichtete. Der Bundesrat hatte in der Botschaft zu dieser Vorlage festgehalten, dass sich das Konzept des teilstationären Bereichs, welches auch im Leistungsspektrum der Psychiatrie vorkommen konnte, in der Praxis nicht bewährt hat. Begründet wurde dies unter anderem damit, dass die Spitäler ihre Leistung überwiegend als ambulante Leistungen abrechnen und es kaum Pauschalen für teilstationäre Behandlungen gibt. Aktuell steht eine Wiedereinführung des teilstationären Bereichs nicht zur Diskussion. Seit dem Wegfall der «teilstationären» Behandlungsart gelten für intermediäre Angebote wie Tageskliniken im Sinne von Artikel 5 der Verord-
nung über die Kostenermittlung und die Leistungserfassung durch Spitäler, Geburtshäuser und Pflegeheime in der Krankenversicherung (VKL; SR 832.104) die für den ambulanten Bereich geltenden Tarife. Im ambulanten Bereich haben die Tarifpartner (Leistungserbringer und Versicherer) im Rahmen der KVG-Tarifautonomie einen grossen Handlungsspielraum. Insbesondere steht es ihnen frei, einen Tarif zu vereinbaren, der nicht auf einer Einzelleistungstarifstruktur wie dem Tarmed beruht, wie einen Pauschal- oder Zeittarif (Art. 43 Abs. 2 KVG). Sie müssen dabei berücksichtigen, dass eine qualitativ hochstehende und zweckmässige Versorgung zu möglichst günstigen Kosten erreicht wird (Art. 43 Abs. 6 KVG). In seiner Strategie Gesundheit 2020 unterstützt der Bundesrat eine Stärkung der Pauschaltarife gegenüber Einzelleistungs- und Zeittarifen, denn sie fördern grundsätzlich eine effiziente Erbringung von Pflegeleistungen und erweisen sich auch in der Umsetzung als praktikabel. Für intermediäre psychiatrische Versorgungsangebote bestehen daher verschiedene Möglichkeiten wie z. B. ambulante Pauschalen für Tageskliniken, um die Vergütung ihrer Leistungen mit den Versicherern zu regeln und die von ihnen an-
geführte Problematik zu lösen, dass einige Leistungen in den heute geltenden Tarifen für Tageskliniken und Ambulatorien nicht oder nicht ausreichend abgebildet sind. Soweit es sich dabei nicht um Pflichtleistungen der Krankenversicherung handelt, sind in ihrem Verantwortungsbereich die Kantone gefordert, gemeinsam mit den Leistungserbringern eine Lösung für die Restfinanzierung zu suchen. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist aufgrund der in Artikel 3 der Bundesverfassung festgehaltenen Kompetenzausscheidung eine öffentliche Aufgabe der Kantone. Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren hat sich deshalb zum Ziel gesetzt, mit den Kantonen und den Krankenversicherern eine stabilisierende Regelung der Finanzierung von psychiatrischen Tageskliniken zu finden. Derzeit (Juli 2017) werden erste Abklärungen getroffen. Der Bund ist aufgrund der Zuständigkeiten an diesen Gesprächen nicht unmittelbar beteiligt. Im Rahmen dieser Gespräche soll auf die Lastenverteilung zwischen Kantonen und Obligatorischer Krankenpflegeversicherung nach KVG ein besonderes Augenmerk gelegt werden.
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