Transkript
Rückblick 2017/Ausblick 2018
Experten geben Einblick in ihre Fachrichtungen (Teil 2)
Was bringt 2018 für die Hausarztmedizin?
Schon in der letzten Ausgabe haben wir Experten und Kollegen aus der Praxis zu Wort kommen lassen, um zu hören, welche Entwicklungen ihnen mit Blick auf die hausärztliche Praxis besonders wichtig erscheinen. Wir haben dazu Meinungen aus verschiedenen Fachdisziplinen zusammengetragen. Dabei wird immer wieder deutlich, dass der Hausarzt als zentrale Schaltstelle wesentlicher Faktor einer guten Betreuung ist.
Onkologie
Dr. med. Thomas von Briel Onkozentrum Hirslanden Zürich
Meine Patienten, die einen engagierten Hausarzt haben, sind ohne Zweifel besser betreut
Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres in Ihrem Fachgebiet waren für Sie besonders spannend?
Mit dieser Frage könnte man wohl das ganze Heft füllen. Im Grunde genommen geht es aber oft um die gleiche Geschichte: Die Onkologie wird deutlich weniger empirisch. Sie ist nicht mehr ein Ausprobieren von toxischen Medikamenten, welche nur einer Minderheit der Patienten helfen. Vor 30 Jahren war das der einzig gangbare Weg. Heute ist es das Wissen der Grundlagenforschung, zum Beispiel der Molekularbiologie, aus welchem bessere Behandlungen resultieren. Hier einige wenige Beispiele: Die Menge der Mutationen in den Tumorzellen (Mutationslast) führt zu «abartigeren Krebszellen», welche mehr «Neoantigene» haben, die vom Immunsystem erkannt werden können, sofern man ihm dabei auf die Sprünge hilft. Genau das machen die Checkpoint-Inhibitoren, die derzeit als sogenannte Immuntherapie in aller Munde sind. Diese Mutationslast lässt sich messen. Zeichnet sich eine Tumorkrankheit durch eine hohe Mutationslast aus, so ist die Chance, mit dieser Form der Immuntherapie erfolgreich zu sein, deutlich höher. Das konnte in einigen Studien gezeigt werden. Am ESMO 2017 wurden erstmals die Daten der Studie Pacific Trial präsentiert, bei der man Patienten mit einem nicht operablen, nicht kleinzelligen Bronchuskarzinom ohne Fernmetastasen mit einer Chemoradiotherapie behandelte. Man geht davon aus, dass eine Minderheit dieser Patienten durch
die Chemoradiotherapie geheilt werden kann. Nun hat man nach Abschluss dieser Therapie die Patienten 2:1 in eine 12 Monate dauernde Behandlung mit einer Immuntherapie (Durvalumab, ein PD-L1-Blocker, Infusion alle 2 Wochen) versus Plazebo randomisiert. Die ersten Daten sind extrem vielversprechend. Ausgewertet wurde bisher die progressionsfreie Überlebensdauer. Der Unterschied ist so gross, dass man kein Prophet sein muss, um vorauszusehen, dass die behandelten Patienten wohl auch einen Überlebensvorteil haben werden. Es gibt zahlreiche Krebskrankheiten, welche wegen einer ganz bestimmten Mutation von Zellen entstanden sind. Diese führt zur Aktivierung von intrazellulären Signalwegen, welche diese Zellen zu Krebszellen machen. Seit einiger Zeit verfügen wir über Medikamente, die solche Mutationen gezielt blockieren – Stichwort «targeted therapy». Unter der Behandlung kommt es aber oft zu neuen Mutationen, was ein möglicher Resistenzmechanismus ist. Deswegen entwickelte man Medikamente, welche intensiver gegen eine bestehende Mutation oder gegen ein grösseres Spektrum solcher Mutationen wirken. Auch die Verbesserung der Pharmakokinetik war erfolgreich. Es gibt Präparate, die deutlich besser vor Hirnmetastasen schützen oder bei Auftreten von Hirnmetastasen wieder wirken, weil sie viel besser liquorgängig sind.
Welche Erkenntnisse könnten die Diagnose und/oder Therapie in der Hausarztpraxis künftig verändern?
Damit der Hausarzt Krebspatienten mitbetreuen kann, braucht er ein grundlegendes Verständnis für die Entwicklungen in der Onkologie. Die Diagnostik der Tumoren wird immer präzisier. Wir sprechen nicht mehr von einem «Lungenkrebs» oder einem «High-grade-Non-Hodgkin-Lymphom». Wir wollen es heute viel genauer wissen. Die neuen Tumoreinteilungen sind nicht einfach «L’art pour l’art», sondern sehr wichtige prognostische und prädiktive Faktoren. «Prädiktiv» bezieht sich auf die Behandlung. Wir wollen vorhersagen, ob diese nützlich sein wird. So gruppieren wir die Krankheiten mehr und mehr gemäss ihrer Prognose respektive Aggressivität (mithilfe der prognostischen Faktoren), aber auch gemäss einer besonderen Therapierbarkeit (mithilfe der prädiktiven Faktoren). Es gibt auch Faktoren, die sowohl prognostisch wie prädiktiv sind. Beispielsweise das
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HER2 beim Mammakarzinom. Die Prognose ist grundsätzlich schlechter. Medikamente gegen HER2 wirken aber oft sehr gut. Damit wird die schlechte Prognose wieder korrigiert, und eine solche Patientin hat heute eine viel erfreulichere Perspektive. Gleichartige Beispiele gibt es heutzutage praktisch bei jeder Tumorentität, und jährlich kommen neue hinzu. Es dünkt mich wichtig, dass die Hausärzte diese Fortschritte kennen. Idealerweise besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen dem Onkologen und dem Hausarzt.
Wurden 2017 in Ihrem Fachgebiet neue Medikamente zugelassen, die die Therapie erheblich verbessern könnten?
Fast in jedem Bulletin des BAG mit Änderungen in der Spezialitätenliste fand man 2017 einige neue Onkologika, beispielsweise die CDK-4/6-Blocker für das hormonsensible Mammakarzinom. Die CDK (cyclin-dependent kinase) interferiert mit dem Östrogenrezeptor-Signalweg. Kombiniert man diese Medikamente mit einer herkömmlichen Hormontherapie, blockiert man das Zellwachstum noch besser, und die Hormonbehandlung wirkt deutlich länger. Des Öfteren wurde auch die Indikation von bereits zugelassenen Medikamenten erweitert. Die BRAF- und MEK-Inhibitoren werden seit einiger Zeit kombiniert beim BRAFmutierten Melanom eingesetzt. Ein sehr kleiner Anteil der nicht kleinzelligen Bronchuskarzinome, etwa 1 von 100, zeichnet sich ebenfalls durch eine BRAF-Mutation aus. Trotz der Seltenheit dieser Bronchuskarzinome ist es mit internationaler Anstrengung gelungen, eine sehr hohe Wirksamkeit der gleichen Strategie zu belegen. Das hat zur Zulassung der BRAFund MEK-Inhibitoren beim BRAF-mutierten Bronchuskarzinom geführt. Es sieht danach aus, dass wir in Zukunft mehr auf die Biologie der Zellen schauen als auf deren Herkunft. Die FDA hat bereits einen ziemlich grossen Schritt in diese Richtung gemacht, indem sie beispielsweise Immuntherapien für alle Tumorleiden mit einer hohen Mutationslast, wie es oben beschrieben ist, zulässt. Unabhängig davon, um welchen Primärtumor es sich dabei gehandelt hat.
Auf welche Studienresultate sind Sie für 2018 besonders gespannt?
In allen Bereichen der Onkologie sind sehr viele neue Medikamente in Phase-II-Studien auf ihre Wirksamkeit getestet worden. Momentan laufen zahlreiche Phase-III-Studien, mit denen man beweisen will, dass diese neuen Medikamente im Vergleich mit den bisherigen Therapien besser abschneiden. Es gibt wohl kaum ein onkologisches Gebiet, in dem wir 2018 keine neuen Erkenntnisse aus solchen Phase-III-Studien gewinnen werden.
Und was «fürchten» Sie am meisten?
Die Kluft zwischen Erkenntnis und Zulassung von Medikamenten wird leider immer grösser. Das hat mit der Menge und sicher auch mit den exorbitant hohen Kosten neuer Medikamente zu tun. Die Behörden, welche die Zulassung und
damit natürlich auch die Finanzierung dieser neuen Therapien regeln müssen, haben eine sehr schwere Aufgabe. Umgekehrt ist es für uns Ärzte, die in direktem Kontakt mit den Krebspatienten stehen, oft ausserordentlich schwierig, wenn wir wissen, dass es für sie eine sehr gute Therapie gäbe, die aber bei uns noch nicht erhältlich ist. Auch die Bürokratie rund um die Medikamente wird belastender. So gibt es die unangenehme Phase, in welcher das Medikament die Zulassung hat, aber noch nicht in die Spezialitätenliste aufgenommen wurde. Dies führt oft zu vielen Korrespondenzen mit den Versicherungen. Aber auch wenn es das Medikament in die Spezialitätenliste geschafft hat, muss beim Vertrauensarzt eine Kostengutsprache eingeholt werden. Diese aufgeblähte Bürokratie nimmt uns Zeit weg, während der wir uns besser um die Patienten kümmern würden. Ich gehe davon aus, dass es den Krankenkassen ähnlich geht. Auch sie werden durch die überbordende Bürokratie belastet. Die hohen Kosten werden zudem als ein Argument benutzt, die Medizin zu zentralisieren. Dies geschieht stets unter dem Deckmantel der Qualitätsverbesserung. Ich bin hingegen ein Verfechter der wohnortnahen Betreuung. Hinter einer Zentralisierung dürfte auch eine Rationierung versteckt sein, weil die Patienten nicht mehr innert nützlicher Frist eine Behandlung erhalten. Das macht mir schon Sorgen, die natürlich weit über das Jahr 2018 hinausgehen.
Was ist Ihre wichtigste Botschaft für die Kolleginnen und Kollegen in der Hausarztpraxis 2018?
Ich bewundere alle Hausärzte, die sich in vielen Bereichen
auskennen müssen. Als Onkologe beschäftige ich mich mit
Krebskrankheiten. Es beeindruckt mich, wenn ich sehe, wie
die Entwicklung in anderen medizinischen Fachbereichen
voranschreitet. Wie behandelt man heute einen Diabetes mel-
litus, eine Herzinsuffizienz, eine entzündlich-rheumatische
Krankheit oder die multiple Sklerose und den Morbus
Parkinson?
Als Hausarzt ist man enorm gefordert, da man alle diese Pa-
tienten auch sieht. Meine Patienten, die einen engagierten
Hausarzt haben, sind ohne Zweifel besser betreut. Für mich
ist es eine grosse Hilfe, wenn es am Wohnort des Patienten
einen Kollegen gibt, der sich für die onkologischen Therapien
interessiert, und wir den Patienten gemeinsam behandeln
können. Der Hausarzt muss vom Onkologen gut über die
Gründe und Art und Weise der Behandlungen seiner Patien-
ten informiert sein, damit er als eine sehr wichtige Stütze mit-
helfen kann.
Die Betreuung von Krebspatienten sollte nicht an ein Zen-
trum delegiert werden. Dabei gingen sehr viele Aspekte einer
guten Behandlung der Patienten und ihrer Familien verloren.
Die wichtigste Botschaft, die ich daraus ableiten möchte: Wir
sollten trotz ab und zu etwas widrigen äusseren Umständen
die Freude an unserem Beruf nicht verlieren und gemeinsam
unseren Patienten in einer sehr schwierigen Zeit ihres Lebens
so gut wie möglich beistehen.
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Orthopädie
Dr. med. Luzi Dubs Facharzt für Orthopädische Chirurgie Winterthur
Studienmängel können Aussagen massiv verfälschen
Welche neuen Erkenntnisse des letzten Jahres in Ihrem Fachgebiet fanden Sie besonders spannend?
In den letzten Jahren ist es diversen Autoren (1–4) gelungen, in hochkarätigen, nicht orthopädischen Zeitschriften randomisierte Studien über die Indikation zur arthroskopischen Chirurgie bei degenerativen Meniskus- und Knorpelschädigungen unterzubringen. In der Folge wurden sie immer wieder zitiert und in Metaanalysen und systematischen Reviews zusammengefasst (5), um letztlich die Botschaft aus-
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Nutzen der arthroskopischen Chirurgie
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