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Titel
Neurokognitive Probleme bei HIV-Patienten vermeiden
Untertitel
Interview mit PD Dr. med. Matthias Cavassini und Prof. Dr. med. Renaud Du Pasquier, Lausanne
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Neurokognitive Störungen bei HIV-Patienten und deren Auswirkungen auf die Therapie sind Gegenstand aktueller Publikationen. Der Lausanner Professor Renaud Du Pasquier (Neurologe und klinischer Forscher) und PD Dr. med. Matthias Cavassini (Innere Medizin und Infektiologe), beide vom CHUV, haben bereits 2011 eine spezielle Neuro-HIV-Plattform implementiert und berichten im Interview über die Erfahrungen ihrer Zusammenarbeit.
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INTERVIEW
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INTERVIEW

Neurokognitive Probleme bei HIV-Patienten vermeiden
Interview mit PD Dr. med. Matthias Cavassini und Prof. Dr. med. Renaud Du Pasquier, Lausanne

Neurokognitive Störungen bei HIV-Patienten und deren Auswirkungen auf die Therapie sind Gegenstand aktueller Publikationen. Der Lausanner Professor Renaud Du Pasquier (Neurologe und klinischer Forscher) und PD Dr. med. Matthias Cavassini (Innere Medizin und Infektiologe), beide vom CHUV, haben bereits 2011 eine spezielle Neuro-HIV-Plattform implementiert und berichten im Interview über die Erfahrungen ihrer Zusammenarbeit.

ARS MEDICI: Wie ist Ihre Zusammenarbeit entstanden? Prof. Dr. Renaud Du Pasquier: Es begann 2004, als ich aus den USA zurückkam, wo ich HIV-Patienten mit einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie behandelt hatte. Wir haben realisiert, dass wir als Infektiologe und Neurologe gemeinsame Interessenfelder haben. Die guten

PD Dr. Matthias Cavassini: Die Stärke dieser Plattform liegt darin, dass an einem Tag an einem Ort – in der Tagesklinik des CHUV – die Perspektiven verschiedener Fachrichtungen zusammenfliessen. Am Ende des Tages präsentieren die Experten ihre Befunde und entwickeln gemeinsam einen Synthesebericht für den behandelnden Arzt.

«Im Prinzip sind ein früher HIV-Test und eine rechtzeitige Aufnahme der ART – solange die Anzahl der CD4-Zellen noch hoch ist – das beste Mittel, um HIV-assoziierte kognitive Störungen zu vermeiden.»
Ergebnisse unserer Zusammenarbeit haben uns ermutigt, diese fortzuführen und zu intensivieren, um eine individuelle Betreuung unserer Patienten zu ermöglichen.
Wie funktioniert Ihre Neuro-HIV-Plattform am CHUV in Lausanne? Du Pasquier: Wir haben die Neuro-HIV-Plattform 2011 eingeführt. Jeden Monat untersuchen Experten aus verschiedenen Bereichen während eines ganzen Tages die Daten von jeweils drei Patienten. Daraus resultiert ein ziemlich vollständiges Bild des jeweiligen Patienten. Die Untersuchungen umfassen ein zerebrales MRT durch einen Neuroradiologen, eine Blutanalyse, eine zweistündige neuropsychologische Untersuchung, eine neurologische Abklärung mit einer Lumbalpunktion (oder neurophysiologische Untersuchungen), eine psychiatrische und eine infektiologische Konsultation.
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Was sind Ihre wichtigsten Erfahrungen? Du Pasquier: Die Klagen über kognitive Probleme bleiben oft unscharf, manchmal fliessen psychische Probleme ein. Es ist schwierig, somatische von psychischen Problemen abzugrenzen, deshalb braucht es die neuropsychologische Abklärung. Darüber hinaus kann nicht vorausgesagt werden, wie die Tritherapien im Hirn wirken und ob eine nicht nachweisbare Virenlast auch im Bereich der Zerebrospinalflüssigkeit erreicht wird. Dies rechtfertigt es, eine Lumbalpunktion vorzunehmen. Cavassini: Nach einer normalen neuropsychologischen Beurteilung fühlen sich die Patienten oft erleichtert. Es ist eine Art Bestätigung, die sie benötigen, um ihre Ängste zu besänftigen. Regelmässig kommt es vor, dass die Probleme nach den Tests abnehmen, obwohl wir noch nichts unternommen haben ausser den Untersuchungen und dem aufklärenden Gespräch. Und wenn unsere Untersuchungen eine neurokognitive Störung aufzeigen, müssen wir die Ursachen der Probleme suchen: Ist es das Virus? Ist es eine Depression? Eine Toxizität bei der antiretroviralen Therapie? Eine andere zerebrale Krankheit? Du Pasquier: Um die kognitiven Probleme einordnen zu können, ist die Meinung des Umfelds von entscheidender Bedeutung, da es den Patienten und seine Veränderungen täglich beobachtet. Cavassini: Die zentrale Frage ist, ob unsere Behandlung gut genug wirkt, um das Virus im Hirn zu bekämpfen, und ob es im Hirn Reservoirs resistenter oder nicht behandelter Viren gibt. Wenn keine Viren in der Zerebrospinalflüssigkeit vorhanden sind, wird die antiretrovirale Therapie (ART) nicht angepasst. Im Prinzip sind ein früher HIV-Test und eine rechtzeitige Aufnahme der ART – solange die Anzahl der CD4-Zellen noch hoch ist – das beste Mittel, um HIV-assoziierte kognitive Störungen zu vermeiden.

26 ARS MEDICI 1+2 | 2018

INTERVIEW

PD Dr. med. Matthias Cavassini Abteilung Infektionskrankheiten CHUV, Lausanne

Prof. Dr. med. Renaud Du Pasquier Abteilung Neurologie CHUV, Lausanne

ihnen HIV-assoziierte neurokognitive Defizite (HAND) aufweisen. Die identifizierten Störungen werden häufig als nicht schwerwiegend eingestuft. Der Rest der Probleme ist vor allem mit psychiatrischen Komorbiditäten assoziiert (siehe auch QR-Code) (1). Du Pasquier: Auch wenn die schweren Demenzen zurückgegangen sind, zeigt die Studie klar den Zusammenhang zwischen kleineren kognitiven Störungen und einer Abnahme der Adhärenz. Von den drei untersuchten Gruppen zeigte die Gruppe der Patienten mit neurokognitiven Problemen im Zusammenhang mit der HIV-Infektion eine verminderte Adhärenz, während die Patientengruppen ohne Probleme oder mit kognitiven Störungen im Zusammenhang mit einer Depression eine optimale Adhärenz aufwiesen (2).

Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Ergebnisse der aktuellen Studien? Cavassini: Die klinische Arbeit der Neuro-HIV-Plattform hat viele noch offene Fragen aufgezeigt. Deshalb führen wir seit 2013 eine breite Studie zur neuropsychologischen Langzeitbeobachtung durch, die NAMACO-Studie (Neurocognitive Assessment in the Metabolic and Aging COhort), mit HIVbetroffenen Patienten über 45 Jahren. Die ersten Analysen von 983 Patienten wurden auf der CROI 2017 vorgestellt. Sie zeigen, dass 97 Prozent der Patienten eine nicht nachweisbare Viruslast haben und dass unter ihnen 40 Prozent unter kognitiven Beeinträchtigungen leiden, aber nur 27 Prozent von

Was sind die Strategien zur Verbesserung der Adhärenz? Cavassini: Für Patienten mit HAND ist es anstrengend, die regelmässige Medikamenteneinnahme nicht zu vergessen. Ich unterstütze Strategien, die dem Patienten ermöglichen, sich im Alltag zu erinnern, ob er die Pillen genommen hat: zum Beispiel ein Wochenkalender oder eine elektronische Pillendose, die jeden Abend die Dosis für den folgenden Morgen bereitstellt. Das Zurückgreifen auf elektronische Pillendosen erlaubt ein besseres Verständnis, in welchen Situationen die Adhärenz nicht klappt. Dabei arbeiten wir oft mit der Adhärenzberatung der Universitären Gemeinschaftsapotheke im CHUV zusammen.

INTERVIEW

Ausgewählte Publikationen und Poster
1. Cavassini M, Metral M, Locatelli I: Prevalence of neurocognitive disorders in a well-treated and aging Swiss HIV cohort. Conference on Retroviruses and Opportunistic Infections; February 13–16, 2017; Seattle, Washington. Poster # 362.
2. Kamal S et al.: The presence of human immuno-deficiency virusassociated neurocognitive disorders is associated with a lower adherence to combined antiretroviral treatment. Open Forum Infect Dis 2017; 4: ofx070.
3. Vallotton K et al.: Evaluation of an outpatient multidisciplinary neuro-HIV clinic by the patients and referring doctors. Rev Med Suisse 2017; 13: 782–786.
4. Simioni S et al.: Cognitive dysfunction in HIV patients despite longstanding suppression of viremia. AIDS 2010; 24: 1243–1250.
Welche Behandlungsstrategien setzen Sie bei neurokognitiven Problemen ein? Du Pasquier: Wir sind in den Mitteln beschränkt, da es noch keine neuroprotektiven Medikamente gibt. Die Familie und das Umfeld können helfen, aber das sind indirekte Massnahmen. Es braucht einen konstanten und substanziellen Effort in der Forschung, um wirksame neuroprotektive Behandlungen zu entwickeln. Es ist klar, dass dies eine schwierige Aufgabe ist, aber wir brauchen solche Neuroprotektoren bei zahlreichen neurologischen Krankheiten dringend.

Dies führt zur Frage, ob die Probleme durch das Virus oder durch die Medikamente verursacht werden. Cavassini: Im Lichte der epidemiologischen Daten – vor und seit der Ära der Tritherapien – betrachtet, gibt es keinen Zweifel, dass das Virus viel schädlicher für das Gehirn ist als eine mögliche Toxizität der Medikamente.

Was sind die grössten verbleibenden Herausforderungen? Cavassini: Man müsste bestimmen, ob das HI-Virus – trotz der wirksamen antiretroviralen Behandlung – eine Entzündung auslöst, die zu einer Neurodegeneration führt. Es bleiben bezüglich der Pathogenese noch viele Punkte, die es zu klären gilt. Du Pasquier: Aus meiner Sicht ist es der Bedarf an neuroprotektiven Behandlungen. Ein weiterer Aspekt: Wir wissen, dass das Virus in den Tagen nach der Infektion das Hirn infiziert, wir kennen aber immer noch nicht die genauen Orte, wo sich die Viren aufhalten. Cavassini: Die ART hat den Wandel von der tödlichen Krankheit zu einer chronischen Infektion ermöglicht. Patienten und Ärzte müssen sich jetzt eher um die Komorbiditäten kümmern. Ich bin aber optimistisch: Es bedarf einfach noch mehr multidisziplinärer Arbeit, sowohl in der Klinik als auch in der Forschung.

Besten Dank für das Gespräch.

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