Transkript
FORTBILDUNG
Serie: E-Health – Digitalisierung im Gesundheitswesen
Das elektronische Patientendossier (Teil 3):
Impulsgeber für die Digitalisierung im Schweizer Gesundheitswesen
Mit der Einführung dieses Patientendossiers sollen berechtigte Personen leichter Zugang zu elektronisch abgelegten Informationen erhalten. Damit soll ein Beitrag zur Digitalisierung im Gesundsheitswesen geleistet werden, der für viele Beteiligte mit erheblichen Verpflichtungen einhergeht. Aber wie gross ist eigentlich der Nutzen für die Patienten und ihre Betreuer?
Yvonne Gilli
In diesem Patientendossier sollen wichtige medizinische Informationen dezentral abgelegt und berechtigten Gesundheitsfachpersonen elektronisch zur Verfügung gestellt werden. Es ist der Patient, der bestimmt, welche Daten im Dossier gespeichert sind und wer sie lesen darf. Um diese zeitgemässe Form der Kommunikation zu fördern, wurde in der Schweiz das elektronische Patientendossiergesetz (EPDG) geschaffen. Der Countdown läuft. Das Gesetz wurde diesen Frühling vom Bundesrat in Kraft gesetzt, begleitet von einem umfangreichen Verordnungspaket, das Hunderte von Seiten umfasst und streckenweise nur für Informatiker lesbar ist. Spitäler und Heime werden verpflichtet, ihren Patienten und Patientinnen auf Wunsch ein elektronisches Patientendossier zur Verfügung zu stellen. Ambulant tätige Gesundheitsfachpersonen müssen sich nicht beteiligen. Ist diese einseitige Verpflichtung gerecht? Welchen Beitrag leistet das elektronische Patientendossier zur Digitalisierung im Gesundheitswesen? Und, ist dieser Beitrag gewinnbringend für Patienten und ihre Betreuungsteams?
Im internationalen Vergleich hat die Schweiz Nachholbedarf in den Bereichen Data Governance und technologische Entwicklung.
mationssystem. In ärztlichen Praxen als Kleinstunternehmen war das Faxgerät im Jahr 2017 immer noch das Kommunikationsmittel Nummer eins. Wesentliche Hindernisse für die Digitalisierung sind fehlende finanzielle und personelle Ressourcen, die mangelnde Eignung von Arbeitsabläufen für die Digitalisierung sowie die Komplexität der Vernetzung von Technologien. Auch diese Aspekte gelten gleichermassen für das Gesundheitswesen.
Ethische Fragen zu wenig berücksichtigt
Laut einer OECD-Studie zur Bedeutung neuer Technologien im Gesundheitswesen sind diese der wichtigste Treiber für den Fortschritt, aber auch für die Kostenentwicklung (2). Ihre Nutzung stellt uns vor ethische Herausforderungen und ruft nach neuen politischen Rahmenbedingungen. Die elektronische Krankengeschichte (auch Teil des elektronischen Patientendossiers) wird als Aufbewahrungsort für medizinische Daten eine wichtige Rolle spielen. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz Nachholbedarf in den Bereichen Data Governance und technologische Entwicklung. Staatlicher Regulationsbedarf erscheint wichtig im Kontext von Datenschutz und Datensicherheit sowie zu ethischen Fragen im Umgang mit Big Data. So gesehen, leistet das elektronische Patientendossier einen marginalen Beitrag zur Digitalisierung des Gesundheitswesens, und das EPDG schiesst weit über die Notwendigkeit politischer Regulierung hinaus, während wesentliche Herausforderungen wie ethische Fragen zu Big Data politisch unangetastet bleiben.
Perspektive der Schweizer Wirtschaft
Aus Sicht der Schweizer Wirtschaft wird deutlich, dass das Gesundheitswesen weder exklusiv noch aussergewöhnlich von der Digitalisierung betroffen ist. Eine aktuelle Umfrage der ETH und der Fachhochschule Nordwestschweiz bei Schweizer Unternehmen verschiedener Branchen zeigt die Ausgangssituation auf und formuliert Chancen und Risiken für die Zukunft (1). Grössere Unternehmen sind stärker digitalisiert als kleinere. Das gilt auch für das Gesundheitswesen. Es gibt kein Spital ohne klinisches Infor-
In der Realität kompliziert
Die Entstehung des EPDG haben wir der Industrie zu verdanken, die das Potenzial der Digitalisierung im Gesundheitswesen erkannte und der Politik ökonomische Effizienz versprach. Das EPDG stellte für die nationalen Politikerinnen und Politiker ein Lockvogelangebot dar, das unter dem Druck ständig steigender Prämien überhöhte Erwartungen weckte. Weder war dem Gesetzgeber die Komplexität des Vorhabens bewusst noch wurden kritische Fragen zum Nutzen für Patientinnen und Betreuende gestellt.
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FORTBILDUNG
Im Idealfall trägt das elektronische Patientendossier dazu bei, dass an kritischen Schnittstellen (Spitalein- und -austritte, wechselnde Gesundheitsfachpersonen) die wichtigen Informationen schnell und korrekt zur Verfügung stehen und ITunterstützte Prozesse die Medikamentenabgabe verbessern. So können Fehler und damit auch Leid und Kosten vermieden werden. Voraussetzung dafür sind Standards für den Datenaustausch und interoperable Informationssysteme. Was der Notfallarzt am Spital A an medizinischen Informationen erfasst, müssen die Hausärztin in der Praxis, der Apotheker oder die Spitex-Pflegefachperson auch lesen und weiterverarbeiten können. Das klingt einfach, ist aber kompliziert.
Nur spezifische Bildungsangebote für Patienten und Gesundheitsfachpersonen gewährleisten die intelligente Vernetzung von technologischem und medizinischem Verständnis.
Noch nicht genug Praxisbezug
Es war ein gut schweizerischer Kompromiss, dass die ambu-
lanten Leistungserbringer von der Politik nicht verpflichtet
wurden, ihren Patienten ein elektronisches Patientendossier
zur Verfügung zu stellen. Während in Spitälern die IT-Infra-
struktur als Investitions- und Betriebsaufwand öffentlich
mitfinanziert ist, war die Politik bis jetzt nicht bereit, den ent-
sprechenden Aufwand in den Arztpraxen über eine Revision
des Tarifsystems oder gezielte Anreize mitzufinanzieren, was
Praxen in ihrer heutigen Kleinstruktur mit kaum leistbaren
Herausforderungen konfrontiert. Mit dem elektronischen
Patientendossier wurde ein Impuls zugunsten der Digitalisie-
rung des Schweizer Gesundheitswesens gesetzt. Schaut man
aber aus etwas Distanz auf die grossen Herausforderungen,
dann machte die Politik mit dieser Gesetzgebung aus einer
Mücke einen Elefanten. Die elektronische Kommunikation
wird sich mit und ohne Patientendossier durchsetzen. Das
Dossier selbst wird nur Bestand haben, wenn sich die Umset-
zung praxisbezogen an den Bedürfnissen der Patienten und
der Gesundheitsfachpersonen orientiert. Diese Vorausset-
zung ist aktuell noch nicht gegeben.
L
Falsche Prioritäten
Wesentliche Fragen stellen sich zur Qualität der im Patientendossier enthaltenen medizinischen Informationen sowie zu Zugangsberechtigung, Datenschutz und Datensicherheit. Technisch sind diese Herausforderungen lösbar, bis heute aber teuer. Sicherheitsexperten, welche sich mit den Cyberattacken auf Patientendaten beschäftigen, prognostizieren hohe Kosten für den Schutz sensibler medizinischer Daten. Um die Qualität der im Patientendossier gespeicherten Informationen für Patienten und Gesundheitsfachpersonen nutzbringend zu gestalten, braucht es die Mitwirkung aller Beteiligten. Informatiker allein können diese Aufgabe nicht lösen. Nur spezifische Bildungsangebote für Patienten und Gesundheitsfachpersonen gewährleisten die intelligente Vernetzung von technologischem und medizinischem Verständnis. Während sich an führenden Kliniken in den Vereinigten Staaten mehrere Hundert Fachleute im Vollzeitpensum um die Weiterentwicklung der Digitalisierung kümmern, bildet die Schweiz noch kaum Medizininformatiker aus und beschäftigt in Kliniken nur einen Bruchteil der benötigten Spezialisten. Auch diese falsche Prioritätensetzung hat ihren Preis. Er zeigt sich unter anderem darin, dass Spitalärzte und Pflegefachleute den Hauptteil ihrer Arbeitszeit nicht im Patientenkontakt, sondern am Stationscomputer verbringen und dort redundant Daten erfassen und bearbeiten, die mit der Qualität ihrer Arbeit nichts zu tun haben.
Dr. med. Yvonne Gilli Mitglied des Zentralvorstandes Departementsverantwortliche Digitalisierung / eHealth E-Mail: yvonne.gilli@fmh.ch
Referenzen: 1. https://www.kof.ethz.ch/publikationen/kof-studien.html 2. http://www.oecd.org/health/managing-new-technologies-in-health-
care-9789264266438-en.html
Mehr zum Thema online im Blog des UniversitätsSpitals Zürich Begleitend zur Fortbildungsserie «E-Health: Digitalisierung in der Medizin», die in Kooperation mit der Abteilung für Klinische Telemedizin des Universitätsspitals Zürich entsteht, finden Sie im Blog des USZ ergänzende Informationen und Meinungen zum Thema unter: www.blog.usz.ch
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