Transkript
STUDIE REFERIERT
Darmkrebsscreening: Wie schafft man Motivation für jeden?
Telefonische Informationen können die Rate der Teilnehmer an Krebsfrüherkennungsuntersuchungen erhöhen
Obwohl die Teilnahme am Darmkrebsscreening nichts kostet, ist die Teilnahmerate in Frankreich gering. Ein Forscherteam untersuchte, ob ein «Navigationsprogramm» mehr Menschen dazu bewegen kann, zur Darmkrebsvorsorgeuntersuchung zu gehen.
Preventive Medicine
Das kolorektale Karzinom (CRC) hat eine relativ gute Prognose, wenn es frühzeitig entdeckt wird. Randomisierte Studien haben gezeigt, dass die CRC-Mortalität um 14 bis 16 Prozent in den Zielgruppen von Screeningkampagnen sank, wenn die Teilnahmerate bei 50 bis 60 Prozent lag. In Frankreich wurde – wie in vielen anderen europäischen Ländern auch – ab dem Jahr 2009 ein landesweites CRCScreening organisiert. Dabei wird allen Frauen und Männern im Alter von 50 bis 74 Jahren ohne CRC in der Vorgeschichte alle zwei Jahre ein Guajak-Test auf okkultes Blut im Stuhl (fecal occult blood test, FOBT) angeboten. Obwohl der Test kostenlos ist und per Post an das Screening erinnert wird, nahmen landesweit in den Jahren 2011 bis 2012 nur 31,7 Prozent und 2013 bis 2014 nur 29,8 Prozent teil. Diese geringe Teilnehmerquote reicht nicht aus, um die CRC-Mortalität wesentlich zu senken, und sie liegt unter der minimalen europäischen Zielquote von 45 Prozent. Wie in anderen europäischen Ländern
MERKSÄTZE
O Personen mit hohem Bildungsstand sind Präventionskampagnen gegenüber aufgeschlossener.
O Interventionen zur Steigerung der Rate von Teilnehmern an Screeningprogrammen sollten in erster Linie in benachteiligten Bevölkerungsschichten zum Einsatz kommen.
nehmen auch in Frankreich nicht alle Bevölkerungsgruppen in gleichem Umfang am CRC-Screening teil. Es wird berichtet, dass ein niedriger sozioökonomischer Status mit einer geringeren Teilnahme am Screening assoziiert ist. Ungleichheiten hinsichtlich Screening und Diagnostik führen dazu, dass die Überlebenschancen je nach Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Schichten unterschiedlich sind. Die Teilnahme am CRC-Screening hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab, beispielsweise von individuellen Faktoren (Geschlecht, Alter, Familienstand) und von allgemeinen sozioökonomischen, kulturellen und Umgebungsfaktoren wie Bildung, Arbeitsbedingungen oder Zugang zur medizinischen Versorgung. Eine französische Studie untersuchte, ob ein «CRC-Navigationsprogramm» die Rate der Teilnehmer am CRC-Screening insgesamt erhöhen und das soziale Gefälle verringern kann.
Studiendesign
Für die Studie wurden drei französische Départements ausgewählt, die zusammen 2360 kleinere geografische Einheiten umfassten, für die Zensusdaten zur Verfügung standen (ca. 2000 Einwohner pro Einheit). Diese definierten die «Cluster» der Studie. Der sozioökonomische Status jedes Clusters wurde mithilfe des Townsend-Index definiert. Dieser Index misst materielle Deprivation mithilfe von Indikatoren, die sich auf Ernährung, Gesundheit, Kleidung, Wohnverhältnisse, Ausstattung des Haushalts, Umgebung und Arbeit beziehen. In die Studie wurden Cluster aus den ärmsten und wohlhabendsten Quarti-
len eingeschlossen. Die Untersucher unterschieden vier Strata: O arme Stadtbevölkerung O arme Landbevölkerung O wohlhabende Stadtbevölkerung O wohlhabende Landbevölkerung.
Innerhalb der Strata aus jedem Département wurden die Cluster randomisiert dem Interventions- oder Kontrollarm zugeordnet, bis die Zahl der 50bis 74-Jährigen aus den Clustern, die in die Strata aufgenommen wurden, 1250 betrug. Die Screeningpopulation umfasste 14 373 Probanden im Interventionsarm und 14 556 im Kontrollarm. Die Probanden aus dem Kontrollarm wurden mithilfe des in Frankreich üblichen CRC-Screenings gescreent: Alle zwei Jahre wird allen 50- bis 74-Jährigen ein FOBT per Post angeboten. Die Teilnehmer erhalten von ihrem Hausarzt im Rahmen einer normalen Konsultation den Test ausgehändigt, führen diesen zu Hause selbst durch und schicken ihn an ein Labor. Nehmen die Personen innerhalb von drei bis vier Monaten nach der initialen Einladung nicht am Screening teil, bekommen sie per Post eine Erinnerung. Schliesslich wird der Test den Teilnahmeberechtigten nach acht Monaten nach Hause geschickt. Fällt der Test positiv aus, schliesst sich eine Koloskopie an. Im Interventionsarm erfolgte zusätzlich zum oben genannten normalen Screeningprogramm ein «Navigationsprogramm»: Personen, die weder auf die initiale Einladung noch auf die postalische Erinnerung reagiert hatten, wurden von einem «Screeningnavigator» kontaktiert, sofern eine Telefonnummer verfügbar war («navigierbare Population»). Bei den Screeningnavigatoren handelte es sich um speziell geschulte Sozialarbeiter, die Erfahrung im Umgang mit benachteiligten Personen hatten. Der Screeningnavigator konnte die Probanden brieflich, telefonisch oder per Hausbesuch kontaktieren und sie über das Screening und auch über eine eventuell notwendig werdende Darmspiegelung informieren.
«Navigationsprogramm» bei
Wohlhabenden erfolgreicher
Die Teilnahmerate nach Strata stieg im Interventionsarm an, wobei in wohlhabenden Schichten ein grösserer Anstieg der Teilnahmerate zu verzeichnen war
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als in unterprivilegierten Schichten.
Multivariate Analysen ergaben, dass
die Intervention (die hauptsächlich als
telefonische Navigation erfolgte) die
individuelle Teilnahme in der navigier-
baren Population erhöhte (Odds Ratio
[OR]: 1,19 [1,10, 1,29]).
Die Ergebnisse zeigten, dass das Navi-
gationsprogramm letztlich in wohl-
habenden geografischen Schichten ef-
fektiver sei als in unterprivilegierten,
schreiben die Autoren. Dies bedeutet,
dass eine Navigation die sozialen Un-
gleichheiten hinsichtlich der Teilnahme
weiter aggravieren könnte, wenn sie in
allen Bevölkerungsgruppen gleicher-
massen eingesetzt würde.
Es ist gut belegt, dass Bevölkerungs-
gruppen mit dem höchsten Bildungs-
stand Präventionskampagnen gegen-
über am aufgeschlossensten sind.
Daher sollten Interventionen, die da-
rauf abzielen, soziale Ungleichheiten in
einem Land mit einem auf nationaler
Ebene organisierten Massenscreening-
programm zu reduzieren, in erster
Linie bei benachteiligten Bevölke-
rungsschichten zum Einsatz kommen,
fordern die Studienautoren.
O
Andrea Wülker
Quelle: Guillaume E et al.: Patient navigation to reduce social inequalities in colorectal cancer screening participation: a cluster randomized controlled trial. Prev Med 2017; 103: 76–83.
Interessenlage: Die Autoren der referierten Originalstudie haben keinerlei Interessenkonflikte deklariert.
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