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FORTBILDUNG
Management des Reizdarmsyndroms
Multidisziplinär behandeln und auf Alarmzeichen achten
Mit einer Prävalenz von 10 bis 20 Prozent ist das Reizdarmsyndrom eines der häufigsten gastrointestinalen Probleme. Es äussert sich in Form von Bauchschmerzen, Völlegefühl, Blähungen sowie Störungen der Stuhlkonsistenz und -frequenz. Das Management des Reizdarmsyndroms verzeichnet Fortschritte bezüglich der Diagnose und der Behandlung.
Annals of Internal Medicine
Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist weltweit anerkannt. Frauen sind häufiger davon betroffen als Männer. Der Schweregrad der Symptome reicht von mild bis gravierend. Die Pathophysiologie ist noch ungenügend erforscht. Als mögliche Ursachen kommen genetische Faktoren, Veränderungen des Immunsystems, des Mikrobioms und der Darmmotilität, viszerale Hypersensitivität und psychosoziale Komorbiditäten infrage.
MERKSÄTZE
O Rom-IV-Kriterien: rezidivierende Bauchschmerzen, im Durchschnitt während mindestens eines Tages pro Woche in den vorangegangenen drei Monaten: Symptome stehen im Zusammenhang mit der Defäkation und/oder einer Veränderung der Stuhlhäufigkeit und -konsistenz.
O Wenn die Symptome nicht den Rom-IV- oder Manning-Kriterien entsprechen, Alarmzeichen vorliegen und der Patient nicht auf erste therapeutische Massnahmen anspricht, ist eine Beurteilung durch einen Gastroentorologen angezeigt.
O Gewichtsverlust, häufiges nächtliches Erwachen aufgrund von gastrointestinalen Symptomen, Fieber, Blut im Stuhl, neu und progressiv auftretende Symptome, Symptome nach dem 50. Altersjahr, kürzlich erfolgte Antibiotikatherapie, Darmkrebs oder andere entzündliche Darmerkrankungen, intraabdominale Masse, okkultes Blut im Stuhl und vergrösserte Lymphknoten sind Alarmzeichen, die auf mögliche organische Erkrankungen hinweisen können.
Diagnostische Verfahren
Auf die Anamnese kommt es an Für die Diagnose des RDS ist die Anamnese wesentlich. Heute wird die Störung nicht nur anhand der Manning-Kriterien, sondern vor allem anhand der 2016 publizierten Rom-IV-Kriterien diagnostiziert. Ein RDS liegt gemäss den aktuellsten Kriterien dann vor, wenn rezidivierende Bauchschmerzen mit einer Änderung der Stuhlfrequenz und -konsistenz verbunden sind. Die Schmerzen müssen während mindestens eines Tages pro Woche in den vorangegangenen drei Monaten aufgetreten sein. Die Schmerzen verändern sich durch die Defäkation und werden entweder abgeschwächt oder verstärkt. Die Rom-IV-Kriterien definieren das RDS neu als eine Störung der Darm-Hirn-Interaktion und nicht mehr als funktionelle gastrointestinale Störung. Wenn die diagnostischen Kriterien erfüllt sind, Alarmzeichen fehlen, die Anamnese und körperliche Untersuchung auf ein RDS hinweisen, kein Blut im Stuhl gefunden wurde, das komplette Blutbild, die metabolischen Werte und die Blutsenkungsgeschwindigkeit unauffällig sind, liegt das Risiko, ein organisches Leiden zu übersehen, bei 1 bis 3 Prozent. Nach Einschätzung von Experten sollte sich der Hausarzt bei der Abklärung eines RDS deshalb auf die Rom-IV-Kriterien beschränken, wenn keine Alarmzeichen vorliegen. Routinemässig sind keine diagnostischen Tests notwendig. Die aktuelle Literatur beurteilt ein komplettes Blutbild, die Abklärung der metabolischen Werte und die Messung des C-reaktiven Proteins jedoch als sinnvoll, da sie kostengünstig sind und zur Beruhigung des Arztes und des Patienten dienen. Besteht ein Verdacht auf eine Schilddrüsenerkrankung, sollten zusätzlich die Schilddrüsenwerte abgeklärt werden. Bei Reizdarmpatienten, die nicht an Verstopfung leiden, kann der Ausschluss von Zöliakie sinnvoll sein. Eine kürzlich veröffentlichte, gross angelegte multizentrische Studie hat ergeben, dass Zöliakie bei Reizdarmpatienten häufiger auftritt als in Kontrollgruppen. An ein RDS muss der Allgemeinpraktiker denken, wenn die Stuhlfrequenz abnormal ist (> 3 Darmentleerungen/Tag oder < 3 Darmentleerungen/Woche), wenn die Darmentleerung nur unter grosser Anstrengung erfolgt, der Drang zur Entleerung sehr gross ist oder wenn Betroffene das Gefühl der inkompletten Darmentleerung haben. Oft verschlimmern sich die Symptome nach Mahlzeiten, und Betroffene leiden an Blähungen und Flatulenzen. Auch wenn die gastrointestinalen Symptome seit über zwei Jahren bestehen und sich bei psychosozialem Stress verstärken, könnte ein RDS vorliegen. Nicht zuletzt können auch andere funktionelle Verdauungs-
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FORTBILDUNG
Medikamentöse Therapie bei Reizdarmsyndrom
Behandlung der allgemeinen Symptome wie Bauchschmerzen und Blähungen
Spasmolytika (Dicyclomin, Hyoscyamin, Pfefferminzöl)
Antidepressiva (trizyklische Antidepressiva, SSRI)
Antibiotika: Rifaximin
Wirkungsmechanismus/Vorteile
Reduzieren die Kontraktionen der glatten Muskulatur und die viszerale Hypersensitivität, hilfreich bei abdominalen Muskelkrämpfen, Einnahme nach Bedarf. Schmerzlindernd, stimmungsaufhellend, SSRI können bei koexistierender Depression hilfreich sein. Verändert Mikrobiom, Einsatz während zweier Wochen; verbessert allgemeine Symptome, insbesondere Blähungen.
Reizdarmsyndrom mit Obstipation Osmotische Abführmittel: Polyethylenglykol Guanylatzyklase-C-Agonist: Linaclotid
Erstlinientherapie, erhöht die Wassermenge im Dickdarm, macht Stuhl weicher und erhöht Stuhlfrequenz.
Zweitlinientherapie, kurbelt die Darmtätigkeit an, hat möglicherweise einen schmerzlindernden Effekt, verbessert die allgemeinen Symptome und die Lebensqualität.
Reizdarmsyndrom mit Diarrhö Antidiarrhoikum: Loperamid
Selektiver 5-HT3-Rezeptor-Antagonist: Alosetron
µ-Opioid-Rezeptor-Antagonist und ␦-Opioid-Rezeptor-Antagonist: Eluxadolin
Erstlinientherapie, hemmt die Darmperistaltik, verlangsamt die Darmtätigkeit und reduziert die Stuhlfrequenz; kein Einfluss auf allgemeine Symptome, Bauchschmerzen, Blähungen.
Reduziert Darmmotilität und Ausscheidung, in den USA für die Behandlung von Frauen mit schwerem Reizdarmsyndrom (> 6 Monate) zugelassen; verbessert allgemeine Symptome, Bauchschmerzen, Stuhlkonsistenz.
Verlangsamt die Verdauung und reduziert viszerale Schmerzen, in den USA zugelassen, reduziert Bauchschmerzen und Diarrhö.
SSRI: selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer
störungen (z.B. nicht ulzeröse Dyspepsie) sowie funktionelle extraintestinale Symptome oder Syndrome, wie zum Beispiel chronische Müdigkeit, Fibromyalgie, Schlafstörungen und psychiatrische Komorbiditäten, auf ein RDS hinweisen. Betroffene leiden entweder eher an Verstopfung oder eher an Durchfall oder alternierend an Durchfall und Verstopfung. Für die Behandlung ist es wichtig, die vorherrschenden Symptome zu kennen. Diese können sich jedoch im Verlauf der Zeit verändern. Wenn die Symptome aber von Gewichtsverlust, nächtlichem Erwachen aufgrund gastrointestinaler Beschwerden, Blut im Stuhl, einer entzündlichen Darmerkrankung und Fieber begleitet werden, sind weitere Abklärungen notwendig. Dasselbe trifft auch zu, wenn Darmkrebs in der Familie vorkommt oder die Beschwerden nach dem Einsatz von Antibiotika auftreten.
Endoskopie/Koloskopie Zusätzliche invasive Untersuchungen wie eine Endoskopie sind bei fehlenden Alarmzeichen und unauffälligen Blutwerten nicht angezeigt. Eine Koloskopie ist bei vorliegenden Alarmzeichen, bei Laborwerten, die auf eine zugrunde liegende entzündliche Darmerkrankung hinweisen, und bei auffälliger Anamnese sinnvoll.
Stuhluntersuchung Bei Reizdarmpatienten, die vor allem an Diarrhö leiden und kürzlich mit Antibiotika behandelt wurden, muss eine Infektion mit Clostridium difficile ausgeschlossen werden. Eine Stuhluntersuchung auf Parasiten kann nach einer Reise aufschlussreich sein. In der Regel sind bakterielle Stuhluntersuchungen bei Reizdarmpatienten jedoch nicht sinnvoll. Die Quantifizierung der Stuhlmenge über 24 Stunden sollte bei Patienten erwogen werden, die über grosse Mengen von wässrigem Durchfall berichten. Stuhlmengen von 200 ml oder weniger pro Tag sind normal. Bei Mengen zwischen 350 und 400 ml muss nach anderen Störungen gesucht werden. Calprotectin im Stuhl kann ein Hinweis für eine organische Störung sein, die zu ähnlichen Symptomen führt wie das RDS. Bei Calprotectinwerten unter 40 µg/g kann eine entzündliche Darmerkrankung bei Reizdarmpatienten ausgeschlossen werden.
Bildgebende Verfahren und Biomarker Bildgebende Verfahren (Röntgen, Computertomografie) und die Messung von Biomarkern sind bei Reizdarmpatienten routinemässig nicht angezeigt.
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Therapeutische Optionen
Das RDS muss multidisziplinär behandelt werden. Viele Patienten, die an leichten Beschwerden leiden, sprechen auf Veränderungen der Lebensgewohnheiten und der Ernährung an. Klingen die Symptome nicht ab, muss das Problem je nach vorherrschenden Symptomen und Schweregrad medikamentös und mithilfe eine Verhaltenstherapie behandelt werden.
Ernährungsumstellung Die Umstellung der Ernährung kann dann sinnvoll sein, wenn Symptome durch bestimmte Lebensmittel ausgelöst werden. Zu den Lebensmitteln, die die Symptome verschärfen können, gehören ein exzessiver Fettkonsum (kann zu Blähungen führen), gewisse Kohlenhydrate wie Bohnen, Kohl, Broccoli und Blumenkohl. Ein übermässiger Konsum von koffein- oder kohlensäurehaltigen Getränken ist ebenfalls nicht förderlich. Für Patienten, die vor allem an Obstipation leiden, ist eine ausreichende Wasseraufnahme wichtig. Rigorose Diäten, wie zum Beispiel die Umstellung auf glutenfreie Kost oder eine FODMAP-(«fermentable oligo-, di- and monosaccharides and polyols»-)reduzierte Diät, werden nicht routinemässig empfohlen. Letztere kann Patienten helfen, die an Blähungen und häufigen Flatulenzen leiden. Eine Beratung durch eine Ernährungsberaterin ist jedoch erforderlich. Bei RDS mit Obstipation wird die Erhöhung der Ballaststoffmenge als Primärtherapie empfohlen. Allerdings kann diese Massnahme Blähungen und Flatulenzen fördern. Lösliche Ballaststoffe und Flohsamen sind der nicht löslichen Weizenkleie vorzuziehen.
Weitere nicht pharmakologische Massnahmen
Für Reizdarmpatienten ist das Gespräch mit dem Arzt wich-
tig. Betroffene müssen wissen, dass ihre Beschwerden nicht
durch eine lebensbedrohliche Erkrankung verursacht werden
und dass psychosoziale Stressfaktoren einen Einfluss haben
können. Sie können besser mit dem Problem umgehen, wenn
sie wissen, dass die Symptome physiologische Ursachen
haben, die wir aber noch zu wenig verstehen, und sie lernen,
die Symptomauslöser zu kontrollieren.
Reizdarmpatienten profitieren von regelmässiger Bewegung
(z.B. Walking oder Yoga). Meditation, ausreichend Schlaf,
Beratung und Unterstützung können die Symptome ebenfalls
verbessern. Als hilfreich haben sich auch die kognitive Ver-
haltenstherapie, die Psychotherapie und die Hypnosethera-
pie erwiesen. Studien belegen, dass die kognitive Verhaltens-
therapie den Schweregrad der Symptome zu reduzieren ver-
mag.
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Susanna Steimer-Miller
Quelle: Sultan S, Malhotra A: Irritable bowel syndrome. Ann Intern Med 2017; 166(11): ITC81–ITC96.
Interessenlage: Beide Autoren des referierten Reviews haben keine Interessenkonflikte deklariert.
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