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STUDIE REFERIERT
Effektivität und Sicherheit von Phytotherapeutika bei Kindern und Jugendlichen mit gastrointestinalen Störungen
Gastrointestinale Störungen sind bei Kindern weit verbreitet und werden oft komplementär- und alternativmedizinisch, zum Beispiel mit Phytotherapeutika, behandelt, obwohl Studien zur Wirksamkeit, Sicherheit und Dosierung immer noch weitgehend fehlen. Die Autoren eines aktuellen Reviews setzten sich zum Ziel, Informationen zur Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener pflanzlicher Medikamente zusammenzufassen.
Pediatrics
Funktionale gastrointestinale Störungen, wie das Reizdarmsyndrom, funktionelle Bauchschmerzen, Verstopfung und Koliken sowie akute gastrointestinale Probleme, wie Gastroenteritis, sind häufige Gründe für die Konsultation einer pädiatrischen Praxis. Sie sind für Kinder und Jugendliche nicht nur mit Schmerzen verbunden, sondern können auch ihre Lebensqualität und die ihrer Eltern erheblich einschränken. Gastrointestinale Störungen führen dazu, dass Kinder und Jugendliche in der Schule und die Eltern am Arbeitsplatz fehlen. Zudem erhöhen sie das Risiko für Depressionen und Ängste. Die Behandlung von gastrointestinalen Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist oft eine Herausforderung, insbesondere wenn die Symptome aufgrund einer funktionellen Störung entstehen. Nicht
MERKSÄTZE
O Potentilla erecta (Blutwurz), Johannisbrotsaft, Matricaria chamomilla (Kamille) und Apfelpektin reduzieren die Dauer von Durchfall signifikant.
O Pfefferminzöl kann die Dauer, Häufigkeit und Intensität von unspezifischen, funktionellen Bauchschmerzen bei Kindern reduzieren.
O Verschiedene Fenchelpräparate (z.B. Öl, Tee, Fertigkombinationspräparat) lindern Dreimonatskoliken.
O Flohsamenpulver kann bei Verstopfung helfen und die Zahl der Schmerzepisoden bei Reizdarmpatienten reduzieren.
selten konsultieren Eltern verschiedene Ärzte auf der Suche nach einer verlässlichen Diagnose oder Therapie. Immer mehr Eltern bevorzugen komplementärund alternativmedizinische Behandlungsmethoden für ihr Kind, wie zum Beispiel die Phytotherapie, weil sie der Auffassung sind, diese seien natürlich und sicher. Studien zum Einsatz von Phytotherapeutika bei Kindern gibt es bisher jedoch kaum. Die Autoren des Review haben nun Informationen zur Wirksamkeit und Sicherheit verschiedener pflanzlicher Arzneimittel, die bei gastrointestinalen Störungen bei Kindern und Jugendlichen zum Einsatz kommen, systematisch zusammengetragen.
Methoden
Für ihre Übersicht berücksichtigten die Autoren 14 Studien mit insgesamt 1927 Kindern (0–12 Jahre) und Jugendlichen (13–18 Jahre), die an akuten und funktionellen gastrointestinalen Störungen litten. Einbezogen wurden randomisierte, kontrollierte Cross-over- und clusterrandomisierte Studien, die auf Englisch oder Deutsch auf Medline/PubMed, Scopus und im Cochrane Central Register of Controlled Trials bis zum 15. Juli 2016 publiziert worden sind. Die ausgewählten Studien verglichen Phytotherapeutika mit herkömmlichen Behandlungen, anderen aktiven Vergleichspräparaten, Plazebo oder keiner Therapie.
Diarrhö
Vier Studien mit total 424 Teilnehmenden untersuchten die Wirksamkeit von Phytotherapeutika bei Kindern, die an akuter Diarrhö litten. Zwei Studien
beurteilten die Wirkung eines pflanzlichen Präparats, das aus Apfelpektin und Matricaria chamomilla (Kamille) bestand. Im Vergleich zu Plazebo vermochte dieses Präparat die Dauer der Diarrhö signifikant zu reduzieren. Eine der beiden Studien wies zudem eine signifikante Reduktion der Stuhlfrequenz im Vergleich zu Plazebo nach. Eine dritte Studie untersuchte die Wirksamkeit von Potentilla erecta (Blutwurz) zur Behandlung von Kindern, die aufgrund einer Rotavirusinfektion an Durchfall litten. Durch das Phytotherapeutikum konnten die Dauer der Diarrhö, abnormaler Stuhlgang, Hospitalisationen sowie die Stuhlmenge im Vergleich zu Plazebo signifikant reduziert werden. Die Forscher einer vierten Studie fanden heraus, dass die zusätzliche Einnahme von Johannisbrotsaft die Wirkung der Standardtherapie verbesserte. Die Dauer der Diarrhö, die Stuhlmenge und die Einnahme einer Rehydratationslösung konnten dadurch signifikant gesenkt werden.
Dehydrierung als Folge
einer Gastroenteritis
Eine Studie untersuchte die Wirkung von verdünntem Apfelsaft zur Rehydratation bei 647 Kindern mit milder Gastroenteritis. Im Vergleich zu einer Standardrehydratationslösung führte die Verabreichung von verdünntem Apfelsaft signifikant seltener dazu, dass Patienten intravenös mit Rehydratationslösung behandelt oder hospitalisiert werden mussten. Ausserdem konnten dadurch die Zahl der Arztbesuche, die Dauer der Symptome und die Gewichtsabnahme innerhalb von 7 Tagen nach Therapiebeginn im Vergleich zur Standardrehydratationslösung reduziert werden. In der Gruppe, die mit verdünntem Apfelsaft behandelt wurde, und in der Gruppe, die mit der Standardrehydratationslösung therapiert wurde, litt je ein Kind an einer Hyponatriämie. Weitere ernsthafte Nebenwirkungen wurden nicht beobachtet.
Funktionale gastrointestinale
Störungen
Dreimonatskolik Fünf Studien mit insgesamt 491 Teilnehmenden untersuchten die Wirkung von pflanzlichen Medikamenten auf Dreimonatskoliken. Eine Studie kam
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zum Schluss, dass Foeniculum vulgare (Fenchel) dazu führte, dass Säuglinge im Vergleich zu herkömmlichen Behandlungen weniger lang schrien. Pflanzliche Tees mit M. chamomilla, Verbena officinalis, Glycyrrhiza glabra, F. vulgare und Melissa officinalis brachten die Koliken im Vergleich zu einem Plazebotee schneller zum Verschwinden oder liessen die Symptome schneller abklingen. Eine signifikante Verbesserung ergab eine weitere plazebokontrollierte Studie mit 0,1 Prozent Fenchelsamenöl während einer 7-tägigen Testzeit. Die Verabreichung eines Kombipräparats mit F. vulgare, M. chamomilla und M. officinalis hat die Schreizeit der Säuglinge ebenfalls signifikant reduziert. Pfefferminzöltropfen brachten hingegen keine Verbesserung im Vergleich zur herkömmlichen Behandlung mit einem Simeticonpräparat. Vier der fünf Studien konnten keine unerwünschten Wirkungen der Phytotherapeutika nachweisen. Einzig die Verabreichung des Kombipräparats mit F. vulgare, M. chamomilla und M. officinalis führte dazu, dass einige Kinder an Erbrechen, Schlaflosigkeit und Verstopfung litten. Allerdings bestand kein signifikanter Unterschied zwischen der Gruppe, die mit dem Kombipräparat behandelt wurde, und der Gruppe, die Plazebo erhielt.
Reizdarmsyndrom Zwei randomisierte, kontrollierte Studien mit 145 Teilnehmenden untersuchten die Wirkung von Pfefferminzöl und Flohsamenpulver bei Kindern und Jugendlichen, die am Reizdarmsyndrom litten. Während Pfefferminzöl (Colpermin®) keine signifikante Verbesserung der Symptome brachte, reduzierte Flohsamenpulver die Zahl der Bauchschmerzepisoden signifikant im Vergleich zu Plazebo (Maltodextrinpulver). Beide Studien wiesen keine unerwünschten Wirkungen nach.
Funktionelle Bauchschmerzen Eine Studie prüfte die Wirkung von Pfefferminzöl, probiotischen Tabletten oder Folsäuretabletten (Plazebo) bei 120 Teilnehmenden, die an funktionellen Bauchschmerzen litten. Im Vergleich zum Plazebo verringerte Pfefferminzöl die Dauer der Schmerzen (Minuten pro Tag), die Zahl der Schmerzepisoden pro Woche und die Schmerzintensität signifikant. Im Vergleich zu Probiotika reduzierte Pfefferminzöl die Dauer der Schmerzen und die Schmerzintensität signifikant. Weder Pfefferminzöl noch die probiotischen Tabletten führten zu Nebenwirkungen.
Verstopfung Eine Studie verglich die Wirkung eines Kombipräparats mit Akazienfasern und Flohsamenpulver mit einer Lösung aus Polyethylenglykol und Elektrolyten bei hundert Kindern mit Verstopfung. Während die Compliance bei der Polyethylenglykol-Elektrolyt-Lösung 96 Prozent betrug, lag die Rate bei der pflanzlichen Alternative bei 72 Prozent. Die Wirkung beider Präparate war vergleichbar. Zudem stellten die Autoren der Studie keine ernsthaften Nebenwirkungen fest.
Diskussion
Die Autoren dieses Reviews kamen zum Schluss, dass sich die Grundlage für Erkenntnisse über die Wirksamkeit von Phytotherapeutika bei Durchfall, Dehydrierung, Dreimonatskoliken, Reizdarmsyndrom und funktionellen Bauchschmerzen verbessert hat. Trotzdem steckt die Forschung über die Wirksamkeit und Sicherheit von pflanzlichen Arzneimitteln zur Behandlung von gastrointestinalen Störungen bei Kindern noch in den Anfängen. Da es bisher nur wenige randomisierte, kontrollierte Studien zu Phytotherapeutika bei Kindern gibt, schliessen die Autoren
nicht aus, dass zukünftige Studien zu neuen Ergebnissen führen könnten.
Implikationen für die kinderärztliche Praxis Eine erst kürzlich veröffentlichte Studie kam zum Schluss, dass bei zwei Dritteln der Kinder, die ambulant in einer gastroenterologischen Klinik eines Kinderspitals behandelt wurden, auch komplementärmedizinische Massnahmen, wie zum Beispiel Phytotherapie, zur Anwendung kamen. Die grosse Mehrheit der Eltern (80%) befürwortete, dass Ärzte diese Massnahmen einsetzen sollten. Kinderärzte können Eltern, die den Einsatz von komplementärmedizinischen Methoden befürworten, Phytotherapeutika empfehlen, die sich als sichere und wirksame Primärbehandlung erwiesen haben (siehe Merksätze). Heute setzen Eltern pflanzliche Arzneimittel oft ein, ohne den Kinderarzt darüber zu informieren. Eine offene und nicht wertende Diskussion zwischen Fachpersonen und Eltern verbessert die sichere und koordinierte Behandlung der jungen Patienten. O
Susanna Steimer Miller
Quelle: Anheyer D et al.: Herbal medicines for gastrointestinal disorders in children and adolescents: a systematic review. Pediatrics 2017, May 4, pii: e20170062; DOI: 10.1542/peds.2017-0062.
Interessenlage: Einer der Autoren der referierten Originalarbeit hat von Schwabe Pharma, Steigerwald und Repha Fördergelder erhalten.
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