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FORTBILDUNG
Wichtige Aspekte bei Nahrungsmittelallergien
Unverträglichkeiten werden oft als Nahrungsmittelallergie fehlinterpretiert
Die Häufigkeit von Nahrungsmittelallergien nimmt zu. Dies wird vor allem bei Kindern beobachtet. Experten der US-amerikanischen National Academies of Sciences, Engeneering and Medicine (NAS) haben nun einen Report zur Diagnose, zur Prävention und zum Management von Nahrungsmittelallergien bei Kindern und Jugendlichen herausgegeben.
Pediatrics
Bei einer Nahrungsmittelallergie handelt es sich um eine spezifische Immunreaktion, die reproduzierbar nach dem Verzehr bestimmter Nahrungsmittel auftritt. Zu den häufigsten Auslösern gehören Kuhmilch, Hühnereiweiss, Erdnüsse, Baumnüsse, Fisch und Meeresfrüchte. Eine Nahrungsmittelallergie resultiert meist aus Immunglobulin-E-(IgE-)vermittelten und weniger häufig aus anderen allergischen Mechanismen. In den USA sind bis zu 10 Prozent, in der Schweiz etwa 2 bis 8 Prozent (Quelle: aha! Allergiezentrum Schweiz) der Bevölkerung von einer Nahrungsmittelallergie betroffen.
MERKSÄTZE
O Eine Nahrungsmittelallergie muss von nicht allergischen Unverträglichkeiten unterschieden werden.
O Die Diagnose erfolgt mit diagnostischen Tests, basierend auf der Anamnese.
O Für Kleinkinder wird die Einführung potenziell allergieauslösender Lebensmittel innerhalb des ersten Lebensjahrs empfohlen.
O Zur Notfallversorgung stehen Adrenalinfertigspritzen zur Verfügung.
O Im Haushalt muss der Kontakt zwischen allergieauslösenden und sicheren Nahrungsmitteln vermieden werden.
O Die Deklarationen verpackter Lebensmittel sind nicht immer eindeutig und zuverlässig.
O Im Restaurant sollte die Sicherheit der angebotenen Speisen mit dem Personal abgeklärt werden.
Im Alltag werden andere Unverträglichkeiten oft als Nahrungsmittelallergie fehlinterpretiert. So führt eine Laktoseintoleranz aufgrund der unzureichenden Verdauung von Milchzucker zu Blähungen und Diarrhö. Das Immunsystem ist dabei jedoch nicht beteiligt. Nahrungsmittelintoleranzen werden durch metabolische, pharmakologische oder toxische Faktoren verursacht, die von allergischen Reaktionen unterschieden werden müssen.
Diagnose
Zur Diagnose von Nahrungsmittelallergien stehen keine einfachen Verfahren zur Verfügung. Deshalb sollten die Patienten bei entsprechendem Verdacht von Spezialisten wie einem Allergologen oder Immunologen untersucht werden, der über umfangreiche Erfahrungen bei der Auswahl und Interpretation geeigneter diagnostischer Tests verfügt. Bei der Evaluierung von Nahrungsmittelallergien kommt es häufig aufgrund von Fehlinterpretationen zu Überdiagnosen. In einer Metaanalyse betrug der Anteil der Nahrungsmittelallergien bei Kindern entsprechend der Selbsteinschätzung 12 Prozent. Der tatsächliche, durch diagnostische Tests bestätigte Anteil lag jedoch nur bei 3 Prozent. Zu den weiteren Ursachen von Überdiagnosen gehört die Gleichsetzung eines positiven allergenspezifischen Serum- oder Hauttests mit dem Vorhandensein einer Allergie. Im Rahmen einer Studie nahmen 38 Prozent von 407 Allgemeinmedizinern fälschlicherweise an, dass positive allergenspezifische IgE-Serumtests oder Skin-Prick-Tests zur Diagnose einer Nahrungsmittelallergie ausreichen. Neben Überdiagnosen bereiten aber auch Unter- oder Fehldiagnosen Probleme. Die vermeintliche Identifizierung eines Allergens kann – ohne Verifizierung durch einen geeigneten diagnostischen Test – bei erneuter Exposition gegenüber dem eigentlichen (übersehenen) Auslöser zu schweren Reaktionen führen. In einer älteren Richtlinie empfehlen Experten eine Diagnosestellung auf der Basis der Anamnese. So ergibt sich ein starker Verdacht, wenn bei einem Kind kurz nach dem Verzehr eines bestimmten Nahrungsmittels wie etwa einer Erdnuss innerhalb von Minuten oder Stunden allergische Symptome – wie eine Urtikaria – auftreten, vor allem wenn diese Akutreaktionen öfter als einmal beobachtet werden. Wenn das Kind öfter Erdnüsse isst und die Urtikaria mehrere Tage lang persistiert, handelt es sich dagegen eher nicht um eine nicht allergische Hautreaktion. Kinder mit mittelschwerer bis schwerer atopischer Dermatitis sollten im Hinblick auf eine Nahrungsmittelallergie untersucht werden, weil diese Allergieform bei ihnen im Vergleich
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FORTBILDUNG
zur Allgemeinbevölkerung häufiger vorkommt und eine Nahrungsmittelallergie auch zu den Hautreaktionen beitragen kann. Bei einem durch Nahrungsmittelproteine induzierten Enterokolitissyndrom (heftiges Erbrechen, Lethargie, manchmal Hypotonie und Azidose etwa 2 Stunden nach dem Verzehr) oder einer allergischen Kolitis (schleimige, blutige Stühle) sind diagnostische Tests zur Identifizierung der Allergene erforderlich. Im Rahmen der Evaluierung ist jedoch zu beachten, dass beide Erkrankungen nicht mit IgE-Antikörpern in Zusammenhang stehen. Auch bei der Abklärung einer eosinophilen Ösophagitis sollte eine Nahrungsmittelallergie in Betracht gezogen werden. Die Nahrungsmittelallergie ist jedoch kein typischer Auslöser von chronischem Asthma oder chronischer Rhinitis in der Kindheit. Anhand der medizinischen Vorgeschichte kann in vielen Fällen die Wahrscheinlichkeit einer Nahrungsmittelallergie abgeschätzt werden (Vortestwahrscheinlichkeit). Des Weiteren kann die Anamnese Hinweise geben, ob die Pathophysiologie mit IgE in Zusammenhang steht oder nicht, was im Hinblick auf die Auswahl geeigneter diagnostischer Tests von Bedeutung ist. Als ergänzende diagnostische Optionen stehen Eliminationsdiäten, Skin-Prick-Tests, allergenspezifische IgESerumtests und orale Provokationstests zur Verfügung. Der orale Provokationstest gilt als Goldstandard zum Nachweis von Nahrungsmittelallergien. Zu den Tests, die nicht zur routinemässigen Anwendung empfohlen werden, gehören Atopie-Patch-Tests, die Bestimmung des Gesamt-IgE-Serumspiegels und der Basophilenaktivierungstest.
Risikofaktoren und Prävention
Nahrungsmittelallergien werden durch Kombinationen genetischer, epigenetischer und umweltbedingter Faktoren verursacht. In diesem Zusammenhang stellt sich unter anderem die Frage, zu welchem Zeitpunkt Kleinkinder potenziell allergieauslösende Nahrungsmittel mit der Beikost erhalten sollten. Nach neueren Erkenntnissen schützt eine frühzeitige Einführung von Erdnüssen Kleinkinder mit erhöhtem Risiko vor einer Erdnussallergie. In aktuellen Richtlinien wird deshalb für allergiegefährdete Kinder die Einführung von Erdnussprotein in kindersicherer Form (wie Erdnussmus) ab einem Alter von 4 bis 6 Monaten empfohlen. Eine verzögerte Einführung von Eiern, Kuhmilch und Weizen senkt das Allergierisiko bei Kleinkindern vermutlich nicht. In Studien wurde eher ein potenzieller Nutzen bei Einführung dieser Lebensmittel innerhalb des ersten Lebensjahres beobachtet. Diese Nahrungsmittel sollten deshalb angeboten werden, sobald es die Entwicklung des Kindes zulässt. Dies ist etwa im Alter von 6 Monaten, jedoch nicht vor einem Alter von 4 Monaten der Fall. Ob eine Meidung allergener Nahrungsmittel in der Schwangerschaft oder der Stillzeit das Kind vor Nahrungsmittelallergien schützt, konnte bis anhin nicht geklärt werden. Die Evidenz zum protektiven Effekt des Stillens ist ebenfalls begrenzt. Stillen wird jedoch weiterhin als Ernährungsform der ersten Wahl für Säuglinge empfohlen. Der Nutzen einer zusätzlichen Fütterung mit spezieller Hydrolysatnahrung zur Allergieprävention wird kontrovers diskutiert.
Zur Beurteilung potenzieller Verbindungen zwischen einer Nahrungsmittelallergie bei Kindern und der Versorgung der Mutter mit Vitamin D, Omega-3-Fettsäuren, Folat oder anderen speziellen Nährstoffen lag keine ausreichende Evidenz vor. Auch die Einflüsse von Hygienemassnahmen, Kaiserschnitten, Antibiotika oder Haustieren auf die Entwicklung von Nahrungsmittelallergien bei Kindern konnten bis anhin nicht abschliessend geklärt werden.
Notfallmanagement
Zur Behandlung einer Anaphylaxie wird die unverzügliche Applikation von Adrenalin empfohlen. Teenager gehören zu den Gruppen mit besonders hohem Notfallrisiko, da sie manchmal aus Leichtsinn Nahrungsmittelallergene aufnehmen und sich nicht sofort behandeln lassen. Patienten mit Nahrungsmittelallergien und komorbidem Asthma gehören aufgrund ihrer Neigung zu besonders schweren Reaktionen ebenfalls zu den Hochrisikogruppen. Für das Notfallmanagement stehen Adrenalinfertigspritzen (EpiPen®, Jext®) in Dosierungen von 0,30 mg und 0,15 mg zur Verfügung. Da diese Dosierungen nicht für Kinder geeignet sind, sind nach Ansicht der Reportexperten möglicherweise auch Fertigspritzen mit einer Dosierung von 0,075 mg erforderlich.
Alltag und Reisen
Kinderärzte sollten Familien über das Management einer
Nahrungsmittelallergie im Haushalt, in der Schule oder auf
Reisen beraten. In allen Situationen wird eine Meidung allergie-
auslösender Nahrungsmittel angestrebt. Zu Hause ist bei der
Zubereitung von Mahlzeiten darauf zu achten, einen Kon-
takt von Allergenen mit sicheren Nahrungsmitteln zu ver-
meiden. Beim Einkauf verpackter Nahrungsmittel muss be-
rücksichtigt werden, dass die Deklaration zur Beurteilung des
Allergierisikos oft nicht ausreichend ist. In Restaurants sollte
das Personal über die Nahrungsmittelallergie informiert und
die Unbedenklichkeit der angebotenen Speisen abgeklärt
werden. Bei Ausflügen und auf Reisen ist immer ein Notfall-
set mitzuführen.
O
Petra Stölting
Quelle: Sicherer SH et al.: Critical issues in food allergy: a national academies consensus report. Pediatrics 2017; 140(2): e20170194.
Interessenlage: Die Autoren der referierten Studie erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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