Transkript
EDITORIAL
Relatives Rentenalter
Viele Schweizer Hausärzte arbeiten über das reguläre Pensionsalter hinaus weiter. In der FMH-Statistik zählte man 2008 noch um die 400 berufstätige Generalisten (Allgemeinmediziner, Pädiater, praktische Ärzte) über 64 Jahre, im letzten Jahr waren rund 1300 hausärztliche Pensionäre weiterhin im Dienst (1). Das dürfte zum einen daran liegen, dass die Nachfolgersuche schwieriger ist als früher, zum andern auch daran, dass sich viele der heute über 60-Jährigen ganz einfach noch zu jung fühlen, um ihren geliebten Beruf aufzugeben. Doch was weiss man genau über die Gründe, pünktlich oder gar vorzeitig in Rente zu gehen oder im Gegenteil länger als vorgesehen als Arzt zu arbeiten? Und was genau verleidet einem Arzt seinen einstigen Traumberuf? Was müsste sich ändern, um ihn zum Weiterarbeiten zu motivieren? In Grossbritannien ging man diesen Fragen systematisch nach und befragte 3695 Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen der Prüfungsjahrgänge 1974 und 1977 (2). Diese Ärztegeneration ist zum Teil bereits pensioniert oder steht kurz vor dem Schritt ins Rentnerdasein. Ziel der Umfrage war es, die wichtigsten Faktoren zu identifizieren, welche die Entscheidung für die Pensionierung beeinflussen beziehungsweise Ärzte dazu motivieren könnten, trotz Erreichen gesetzlich definierter Altersgrenzen weiterzuarbeiten. Anders als in der Schweiz, wo viele Ärzte offenbar von selbst im Pensionsalter weiterarbeiten, sucht man in Grossbritannien offenbar händeringend nach Möglichkeiten, Ärzten das Weiterarbeiten nach Erreichen des Rentenalters schmackhaft zu machen. Die Antworten sind trotz der grossen Unterschiede zwischen dem schweizerischen und dem britischen Gesundheitssystem auch hierzulande interessant.
85 Prozent der angeschriebenen britischen Ärzte antworteten. Bei einem Durchschnittsalter von 64 beziehungsweise 61 Jahren in den beiden Kohorten war noch gut die Hälfte ärztlich tätig (55%). Zwei Drittel der Pensionäre berichteten, dass ihr Übergang in den Ruhestand wie geplant verlaufen sei, die anderen hatten sich wegen unvorhergesehener Umstände familiärer oder beruflicher Natur früher pensionieren lassen als geplant. Jeder Zweite nannte «mehr Freizeit und mehr Zeit für andere Interessen» als einen der Gründe für die Pensionierung, 43 Prozent nannten «zu viel beruflichen Stress» und 41 Prozent «weniger Freude am Beruf als früher». Bei den Ärztinnen kam es häufiger als bei den Ärzten vor, aus familiären Gründen in den Ruhestand zu gehen (21% vs. 11%). Jede vierte Ärztin (26%) hörte mit dem Arbeiten auf, weil ihr Ehepartner pensioniert wurde, während umgekehrt nur jeder zehnte Mann (9%) dies tat, wenn seine Frau in den Ruhestand ging. Während 52 Prozent der Hausärzte «Stress» als einen der Pensionierungsgründe nannten, waren es bei den Spitalärzten und Chirurgen nur 33 und 29 Prozent. Auch von Pädiatern (41%), Anästhesisten (33%), Pathologen (42%) und Psychiatern (37%) wurde der berufliche Stress seltener als einer der Faktoren für den Pensionierungswunsch genannt. Auf die Frage, was sie zum Weiterarbeiten motivieren könnte, nannten die zum Zeitpunkt der Befragung noch ärztlich Tätigen an erster Stelle «weniger Bürokratie» (45%), gefolgt von «weniger Arbeitsbelastung» und von «kürzere Arbeitszeiten» (42%). Mehr Geld folgte erst mit einigem Abstand, und man kann damit Ärzte offenbar stärker motivieren als Ärztinnen: Während 30 Prozent der Männer eine bessere Bezahlung als motivierenden Faktor nannten, waren es nur 20 Prozent der Frauen. Die Studienautoren raten deshalb Spitälern und Gesundheitsdiensten, den älteren Kollegen kürzere Arbeitszeiten und vor allem auch eine deutliche Verminderung administrativ-bürokratischer Aufgaben zu bieten, damit sie länger im Dienst bleiben – diesem Schluss dürften wohl auch die Ärztinnen und Ärzten hierzulande zustimmen.
Renate Bonifer
1. Hostettler S, Kraft E: FMH-Ärztestatistik 2016. 36 175 berufstätige Ärztinnen und Ärzte. Schweiz Ärztezeitung 2017; 98(13): 394–400.
2. Smith F et al.: Factors influencing the decisions of senior UK doctors to retire or remain in medicine: national surveys of the UK trained medical graduates of 1974 and 1977. BMJ Open 2017; 7:e017650.
ARS MEDICI 22 I 2017
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