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BERICHT
Probiotika – Pro und Kontra
Ist die Wirksamkeit bei verschiedenen Indikationen ausreichend belegt?
In einer Pro-und-Kontra-Session an der SGP-Jahrestagung in St. Gallen erläuterten zwei Referenten die aktuelle Studienlage zu Probiotika als Schutz vor Dreimonatskoliken, antibiotikaassoziierter Diarrhö und Infektionskrankheiten aus positiver und eher kritischer Sicht. Manche Kongressteilnehmer änderten nach den Pro- und Kontra-Statements ihre ursprüngliche Meinung zu Probiotika, die meisten blieben vorerst bei ihrer persönlichen Einschätzung.
Renate Bonifer
Als Befürworter des Probiotikagebrauchs in der Pädiatrie trat Dr. med. Eric Giannoni ans Rednerpult. Er ist Neonatologe am Service de Néonatologie, CHUV Lausanne, und hat gute Erfahrungen mit Probiotika bei Frühgeborenen auf der neonatologischen Intensivstation gemacht. Darüber hinaus verwies er auf 25 Studien mit 7345 Frühgeborenen, in denen Probiotika die Inzidenz der nekrotisierenden Enterokolitis (NEC) und die damit verbundene Mortalität senken konnten. Das sei für ihn der «proof of concept», dass Probiotika eine segensreiche Wirkung entfalten könnten. Selbstverständlich seien aber nicht alle Probiotika gleich. Es gebe grosse Unter-
Dreimonatskoliken
In seiner Pro-Argumentation sagte Giannoni, dass Säuglinge mit Koliken eine geringere bakterielle Artenvielfalt im Mikrobiom des Darms und häufiger eine Besiedelung mit gramnegativen Bakterien, aber weniger Lactobaccillus acidophilus und Bifidobakterien aufwiesen (1). Bezüglich der Probiotikawirksamkeit ergab eine Metaanalyse von sechs randomisierten Studien (n = 423) mit Lactobacillus reuteri DSM 17938 eine Reduktion der täglichen Schreidauer um durchschnittlich 28 Minuten in der ersten Behandlungswoche und um 56 Minuten in der vierten; eine mindestens 50-prozentige Verminde-
Man muss auf die unterschiedliche Wirksamkeit und Qualität der Probiotika achten.
schiede bezüglich Wirksamkeit und Qualität der Produkte, und auch die Dosis müsse stimmen und hoch genug sein, betonte Giannoni. All diesen Punkten konnte auch der Vertreter des Kontra-Standpunkts zustimmen. Diese Rolle übernahm Dr. med. Philippe Steenhout. Er war viele Jahre in der Forschung des Unternehmens Nestlé tätig und ist nun Medizinischer Direktor des Unternehmens Gnubiotics, das nicht auf Probiotika, sondern auf Oligosaccharide der humanen Milch (HMO) setzt, wenn es um die Pflege des Mikrobioms geht.
rung der Schreidauer war mit dem Probiotikum wahrscheinlicher als mit Plazebo (2). Kritischer beurteilte Steenhout die Datenlage. Die Begeisterung für die Probiotika bei Dreimonatskoliken begann mit einer sehr kleinen, 2010 publizierten Studie von Savino et al. mit gerade einmal 25 Kindern in der Verum- und 21 Kindern in der Plazebogruppe (3). Diese Studie war Teil der oben genannten Metaanalyse, in welcher auch die anderen einbezogenen Studien durchwegs klein waren, mit Probandenzahlen von 15/14 pro Studienarm bis zu
maximal 85/82 in der Verum- und der Plazebogruppe (2). Generell sei die Datenbasis wegen der kleinen Probandenzahlen also eher dünn, sagte Steenhout. Auch gebe es generell nicht viele Studien zu diesem Thema. In der Datenbank clinicaltrials.gov habe er gerade einmal 28 Studien zu Probiotika bei Dreimonatskoliken gefunden. Überdies müsse man immer bedenken, dass negative Studien tendenziell gar nicht erst publiziert würden. Als weiteres Kontra-Argument nannte Steenhout die Tatsache, dass die meisten positiven Studien mit gestillten Kin-
Viele Probiotikastudien
sind sehr klein.
dern erfolgten; es mache aber einen Unterschied, ob das Kind parallel gestillt oder mit Formulanahrung gefüttert werde. Dies wurde in einer negativen Studie mit L. reuteri DSM 17928 deutlich (4), die ebenfalls Teil der oben genannten Metaanalyse gewesen war. 167 Kinder unter 3 Monaten, gestillt oder mit Formulanahrung, erhielten oral ein Jahr lang täglich entweder 1 × 108 CFU L. reuteri (n = 85) oder Plazebo (n = 82). Die Dauer der täglichen Schrei- beziehungsweise Unruheperiode sank in beiden Gruppen kontinuierlich. Nach einem Monat war sie in der Probiotikagruppe im Durchschnitt 49 Minuten länger (!) als mit Plazebo. Dieses Phänomen war in erster Linie bei den mit der Formulanahrung gefütterten Kindern zu beobachten. Bei den gestillten Kindern zeigte sich praktisch kein Unterschied zwischen Probiotikum und Verum. Es gebe darum zurzeit keine Evidenz dafür, Probiotika zur Behandlung von Säulingskoliken bei Kindern zu empfehlen, die mit Formulanahrung ernährte würden, resümierte Steenhout seine Sicht der Dinge.
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«Health Claims» erlaubt
Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA = European Food Safety Authority) hatte mit dem Argument mangelnder wissenschaftlicher Evidenz bis vor Kurzem noch nie einen sogenannten «health claim» (Postulat einer gesundheitsfördernden Wirkung) für ein probiotikahaltiges Produkt zugelassen. Das hat sich kürzlich jedoch geändert. Für Produkte mit dem B12-produzierenden Propionibacterium freudenreichii W200 darf künftig mit dem B12-Gehalt der Produkte geworben werden (16). Anders als in der EU sind in der Schweiz bereits seit Längerem einige gesundheitsbezogene Aussagen zu probiotikahaltigen Nahrungsmitteln erlaubt (17).
Die Kongressteilnehmer hingegen waren offenbar nach wie vor von der Probiotikawirksamkeit bei Dreimonatskoliken überzeugt und blieben bei ihrer ursprünglichen Einschätzung: Rund 60 Prozent votierten mit «Ja, Probiotika sind wirksam bei Dreimonatskoliken», 40 Prozent sagten Nein.
Antibiotikaassoziierte Diarrhö
Zur Prävention einer antibiotikaassoziierten Diarrhö (AAD) mittels Probiotika konnte Giannoni auf eine positive Cochrane-Metaanalyse mit 23 Studien und insgesamt 3938 Patienten verweisen (5). Die Inzidenz der AAD mit Probiotika sank von 19 auf 8 Prozent, was einer relativen Risikominderung von 54 Prozent entspricht. Die Arbeitsgruppe Pro- und Präbiotika der European Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology and Nutrition (ESPGHAN) empfiehlt Lactoba-
tion Pédiatriques (GFHGNP) in Paris wurden kürzlich eine Untersuchung zur Sensitivität 18 verschiedener Probiotikastämme gegenüber 16 Antibiotika vorgestellt. Das Ergebnis: In 75 Prozent der Fälle waren die bakteriellen Probiotika gegenüber 8 häufig verwendeten Antibiotika empfindlich (Amoxicillin, Amoxiclav, Cefuroxim, Azithromycin, Clarithromycin, Pristinamycin, Ciprofloxacin, Levofloxacin). Aufgrund dieses Befunds bezweifelt Steenhout die Sinnhaftigkeit bakterieller Probiotika bei AAD. Anders sieht es bei Hefen aus, wie Saccharomyces boulardii, die unempfindlich gegenüber Antibiotika sind. Nur wenige Kongressteilnehmer änderten nach den Pro- und Kontra-Statements ihre Meinung: 62,2 Prozent glaubten nun an die Wirksamkeit von Probiotika bei AAD (vorher 67,7%), 37,8 Prozent verneinten sie (vorher 32,2%).
Hefen sind möglicherweise sinnvoller zur Prävention einer antibiotikaassoziierten Diarrhö (ADD).
cillus rhamnosus GG oder Saccharomyces boulardii zur Prävention einer AAD und falls es um die Prävention einer Clostridium-difficile-assoziierten Diarrhö geht Saccharomyces boulardii (6). Generell empfiehlt die ESPGHAN-Arbeitsgruppe nur Probiotika, die sich in randomisierten Studien bewährt haben und von einem seriösen Hersteller mit hohen Qualitätsstandards stammen. Kontra-Referent Steenhout machte auf einen anderen Aspekt der AAD-Prävention mittels Präbiotika aufmerksam: Ist es überhaupt sinnvoll, Probiotika mit Antibiotika zu verabreichen? Werden die Mikroben nicht sowieso von den Antibiotika getötet und damit nutzlos? Am Treffen der Groupe Francophone d’Hépato-Gastroentérologie et Nutri-
Schutz vor Infektionen
Eric Giannoni präsentierte zu dieser Indikation Metaanalysen, die für einen Infektionsschutz durch Probiotika sprechen, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen. Im Einzelnen handelte es sich um nosokomiale Sepsis bei Frühgeborenen (7), postoperative Infektionen bei Erwachsenen (8), beatmungsassoziierte Pneumonie (9), Atemwegserkrankungen (10) und akute Gastroenteritis (11). Näher ging Giannoni auf eine Übersichtsarbeit zur Prävention von Atemwegsinfekten mit Probiotika ein (12). Einbezogen wurden hier 14 randomisierte Studien mit insgesamt 5857 Kindern, davon 7 Studien mit Lactobacillus, 4 mit Bifidobakterien und 3 mit Kombinationen mehrerer Probiotika.
Die Studien dauerten zwischen 3 und
12 Monate. Einen Rückgang der Inzi-
denz infektiöser Atemwegserkrankun-
gen sah man in 7 von 13 Studien, eine
Verminderung der Symptomintensität
in 7 von 11, weniger Absenztage in der
Schule in 4 von 8 und einen verminder-
ten Antibiotikabedarf in 2 von 5 Studien.
Auch die Autoren einer Metaanalyse zur
Atemwegsinfektprävention mit Lactoba-
cillus rhamnosus GG kamen zu einem
positiven Ergebnis (13), genauso wie
die Studienautoren einer Untersuchung
zur Diarrhöprävention mittels Lacto-
bacillus reuteri im Kindergarten (14).
Probiotika seien aber nicht nur für die
Prävention, sondern auch zur Therapie
bei Infektionskrankheiten geeignet,
sagte Giannoni. Er verwies auf eine
Publikation der ESPGHAN-Arbeits-
gruppe Pro- und Präbiotika (15). Bei
Kindern mit akuter Gastroenteritis
können demnach Lactobacillus rham-
nosus GG und Saccharomyces boular-
dii parallel zur Rehydrationstherapie
erwogen werden. Auch eine Option ist
Lactobacillus reuteri DSM 17938 oder
hitzeinaktivierter Lactobacillus acido-
philus LB; für beide ist die Evidenz aber
von noch schlechterer Qualität als für
die beiden Erstgenannten.
Dass Probiotika vor Diarrhö schützen
könnten, sei bereits seit Mitte der
1990er-Jahre bekannt, entgegnete Phi-
lippe Steenhout. Er vermisse jedoch bis
heute wirklich grosse, qualitativ gute
Studien zu dieser Fragestellung, zumal
negative Studien schwerer zu publizie-
ren seien (oder gleich in der Schublade
blieben), sodass der Effekt von Probio-
tika systematisch überschätzt werde.
Zu guter Letzt präsentierte Steenhout
eine negative Studie, in der man vergeb-
lich versuchte, Kinder nach einer Otitis
mit Probiotika vor einer erneuten Mit-
telohrentzündung zu schützen (18). Ei-
nige der Kongressteilnehmer liessen
sich aber doch von Giannoni überzeu-
gen und votierten nach den Pro- und
Kontra-Statements mit einem Ja (43,2%
gegenüber 31,1% vorher) für die prä-
ventive Wirksamkeit von Probiotika
gegen Infektionen.
O
Renate Bonifer
Quelle: Symposium «Pro/Con Probiotic Use» an der Jahresversammlung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie am 1. Juni 2017 in St. Gallen.
Literatur unter www.arsmedici.ch
Erstpublikation in «Pädiatrie» 4/2017.
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