Transkript
FORTBILDUNG
Phantomschmerzen – neue Therapieimpulse
Schmerzen multimodal behandeln
Phantomschmerzen gehen mit einer ausgeprägten Beeinträchtigung der Lebensqualität einher. Die pathophysiologische Ursache der Phantomschmerzen kann in peripheren Nerven, im Rückenmark und im Gehirn lokalisiert werden. In den letzten Jahren hat vor allem die Erforschung der veränderten Hirnfunktionen neue Impulse für die Therapie gesetzt.
Markus Gehling
Im Ergebnis können nur jene pharmakologischen Behandlungen empfohlen werden, die sich im Einzelfall als wirksam erwiesen haben. Unwirksame Therapien können und sollen beendet werden. Dabei muss man aber die Möglichkeit im Blick haben, dass einzelne Behandlungskomponenten für sich genommen zwar nicht ausreichend effektiv Schmerzen lindern, im Zusammenspiel mit anderen Verfahren aber ein Baustein der Schmerztherapie sein können. In diesem Sinne sind Phantomschmerzen, ähnlich wie viele andere Formen chronischer Schmerzen, letztlich multimodal zu behandeln. Besser als eine gelungene Behandlung kann nur die Prophylaxe sein.
Offenbar kommt es bei Phantomschmerzen zu einer Störung der Wahrnehmung aus der betroffenen Körperregion. Erste Untersuchungen haben gezeigt, dass diese Störung durch eine verbesserte visuelle Kontrolle behoben werden kann. Bei Phantomschmerzen kann diese durch Spiegelung der gesunden Extremität erleichtert werden. Die Wiederherstellung der ungestörten Wahrnehmung der Extremität geht häufig mit einem Sistieren der Phantomschmerzen einher. Andere Behandlungsansätze, die auf veränderte Nervenfunktionen und die Schmerzweiterleitung im Rückenmark abzielen, haben in Studien selten überzeugt. Der Grund: Die Patienten, die von der Behandlung profitieren, können nicht anhand eindeutiger klinischer und apparativer Tests identifiziert werden. Oft bleibt hier nur der Ausweg einer Probebehandlung.
MERKSÄTZE
O Phantomschmerzen entstehen durch Verletzung peripherer Nerven, Veränderungen der Schmerzleitung im Rückenmark und Störung der kortikalen Wahrnehmungsfunktion.
O Einzelne Behandlungskomponenten, die für sich genommen die Schmerzen nicht ausreichend lindern, können im Zusammenspiel mit anderen Verfahren trotzdem ein Baustein der Schmerztherapie sein.
O Psychologische Behandlungen wie Spiegeltherapie sind nicht frei von Nebenwirkungen. Eine fachliche Betreuung dieser Behandlungen wird empfohlen.
O Besser als eine gelungene Behandlung kann nur die Prophylaxe sein.
Problem Phantomschmerz
«Es ist, als wenn jemand ein glühendes Eisen in meinen Unterschenkel bohrt und es dann langsam hin und her dreht. Aber der Unterschenkel ist gar nicht mehr da.» So bildlich berichtete ein Motorradfahrer über die Schmerzen, die er nach dem traumatischen Verlust der distalen unteren Extremität entwickelt hatte. Phantomschmerzen werden sehr unterschiedlich beschrieben: brennend, stechend, einschiessend, bohrend, elektrisierend. Das Kriterium für die Diagnose ist die Lokalisation. Phantomschmerzen werden in einer Körperregion angegeben, die nicht mehr vorhanden ist. Patienten, die sich in einer Schmerzambulanz vorstellen, geben die Intensität der Schmerzen häufig mit sehr hohen Werten an, zum Beispiel auf einer numerischen Analogskala von 0 (= kein Schmerz) bis 10 (= maximal vorstellbarer Schmerz) mit maximal 9. Trotz vieler Fortschritte in der schmerzmedizinischen Forschung sind Phantomschmerzen bis heute schwierig zu behandeln. Die Empfehlungen sind eher unspezifisch. Auch der Einsatz stark wirksamer Opioide wie Morphin, Oxycodon, Hydromorphon, Levomethadon, Fentanyl oder Buprenorphin ist bei Phantomschmerzen nicht immer von Erfolg gekrönt.
Pathophysiologie
Der Verlust einer Extremität zieht Veränderungen auf unterschiedlichen Ebenen der Schmerzwahrnehmung nach sich (Abbildung 1) (1). Nach der Durchtrennung eines gemischten peripheren Nervs kommt es zu Regenerationsvorgängen. In den proximalen verbleibenden Nervenfasern wird die Proteinbiosynthese mit dem Ziel angeregt, die Nervenfaser wieder wachsen zu lassen. Im Rahmen dieses Prozesses kann es zu fehlerhaften Verbindungen unterschiedlicher Nervenfasern kommen. So kann die Verbindung einer Faser des sympathischen Nervensystems mit sensorischen C-Fasern
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FORTBILDUNG
Supraspinal: Reorganisation psychologische Beeinflussung durch Spiegeltherapie
periphere Sensibilisierung – Natriumkanäle
spinale Sensibilisierung – NMDA-Rezeptor – µ-Rezeptor
kortikale Reorganisation
Spinal: Sensibilisierung, NMDA-Rezeptor
Peripher: Neurombildung/neue Natriumkanäle Spontanaktivität ¬ Spontanschmerzen
Abbildung 1: Pathophysiologie der Phantomschmerzen
amputiert
Mund
gespiegelte Hand
Information «Schmerz» weiterleiten, die unter physiologischen Bedingungen gehemmt würde. Dieser Prozess ist das Ziel einer Vielzahl therapeutischer Interventionen. Dazu zählen die Hemmung des NMDA-Rezeptors, die Hemmung des Kalziumeinstroms, Aktivierung von µ-Rezeptoren, α2-Rezeptoren und anderen. Die Veränderungen im Gehirn konnten erst mit der funktionellen Kernspintomografie und der Positronen-EmissionsTomografie genauer erforscht werden. Bei Patienten mit Phantomschmerzen konnte eine Veränderung der topischen Zuordnung von Reizen aus Körperregionen nachgewiesen werden. So vergrösserte sich die Region, die durch eine somatische Reizung der Lippen ausgelöst wurde, im Kortex (Abbildung 2). Daher spricht man hier von einer kortikalen Reorganisation. Für sich genommen wäre dieser Befund kein Beweis für einen kausalen Zusammenhang. Jedoch konnten weitere Untersuchungen zeigen, dass eine erfolgreiche Schmerzbehandlung mit einer Wiederherstellung der kortikalen Somatotopie einherging (2, 3). Dabei scheint es zu einer Veränderung der schmerzbezogenen Aufmerksamkeit zu kommen. Insofern besteht hier offenbar eine Möglichkeit, mit psychologischen Techniken letztlich somatische Hirnfunktionen zu beeinflussen.
intakt
Mund
Hand
Therapie bei Phantomschmerzen
Lange stand in der Therapie bei Phantomschmerzen die pharmakologische Behandlung im Vordergrund. Aber auch verschiedene Verfahren der Physiotherapie wurden angewandt. In kontrollierten Studien wurde untersucht, ob eine generelle Schmerzlinderung erwartet werden kann. Die Ergebnisse sind widersprüchlich.
Abbildung 2: Kortikale Reorganistaion bei Phantomschmerzen
Schmerzen bei Aktivierung des sympathischen Nervensystems auslösen. Die Anbindung einer sensorischen A-Faser an eine C-Faser kann Schmerzen bei geringen Berührungen erklären. Darüber hinaus werden im Zuge der Nervenfaserregeneration vermehrt Natriumkanäle im Soma des peripheren Nervs produziert und in die Peripherie transportiert. Dort können sie eine Spontandepolarisation von Schmerzfasern auslösen. Da diese Natriumkanäle nicht immer durch Natriumkanalantagonisten, zum Beispiel Carbamazepin oder Lidocain, gehemmt werden können, ist die Behandlung zurzeit noch schwierig. Hier liegt aber ein Ziel für zukünftige Entwicklungen der pharmakologischen Forschung. Im Rückenmark kommt es infolge der ausgeprägten Depolarisation nach der Nervendurchtrennung zu verschiedenen Veränderungen, die mit einer Sensibilisierung der postsynaptischen Nervenfaser einhergehen. Der erregende Transmitter Glutamat löst über eine Bindung am N-Methyl-D-AspartatRezeptor (NMDA-R) eine Kaskade von Veränderungen in der postsynaptischen Zelle aus, an deren Ende eine Steigerung des intrazellulären Kalziums und der Proteinbiosynthese steht. Diese weist auf die schmerzbedingte strukturelle Änderung der Funktion der Nervenzelle hin: Es kommt zu einer Sensibilisierung, das heisst, die Nervenfaser kann durch Reize mit geringerer Schwelle depolarisiert werden und so die
Pharmakologische Behandlung
Die Behandlung bei Phantomschmerzen mit dem Natriumkanalantagonisten Mexiletin (in der Schweiz nicht registriert) verminderte zwar die Schmerzintensität. Der Effekt war aber dem Plazebo nicht überlegen (4). Mexiletin muss zudem unter Beachtung des Risikos maligner Rhythmusstörungen (Torsade de pointes) eingesetzt werden. Morphin war in dieser Studie dem Plazebo überlegen (4). Dieser Befund bestätigte eine frühere Fallserie, die auch gezeigt hatte, dass Zeichen der kortikalen Reorganisation unter erfolgreicher Behandlung mit Morphin rückläufig waren (2). Dennoch betrug die Responderrate, das heisst Patienten mit einer Schmerzreduktion von mindestens 50 Prozent vom Ausgangswert, auch hier nur 42 Prozent (im Vergleich zu Plazebo mit 8%). Im Langzeitverlauf scheint die analgetische Wirkung der Opioide bei Phantomschmerzen jedoch nicht immer bestehen zu bleiben (5). Um die Sensibilisierung im Rückenmark zu verhindern oder wieder zu reduzieren, wurden NMDA-Rezeptor-Antagonisten eingesetzt. Dazu zählen Memantin, Ketamin und Dextromethorphan. Keine dieser Substanzen führte zu einer generell nachweisbaren Reduktion der Phantomschmerzen (6). Anders als im Tierexperiment, in dem die Gabe von NMDARezeptorantagonisten vor der Amputation zu einer Reduktion der Anzeichen von Phantomschmerzen führt, scheint diese Behandlung bei bereits etablierten Phantomschmerzen nicht hilfreich zu sein.
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FORTBILDUNG
Unter den Antikonvulsiva konnte für Gabapentin eine Schmerzlinderung nachgewiesen werden (6). Ähnlich wie bei den Opioiden muss man jedoch davon ausgehen, dass dieser Effekt nicht zuverlässig bei allen Patienten zu verzeichnen ist, sondern nur bei einer Untergruppe. Ein Therapieversuch mit Gabapentin(oiden) oder Morphin (oder Opioiden) ist sinnvoll; bei fehlendem Erfolg ist diese Therapie aber auch wieder zu beenden. Eine kritische Erfolgskontrolle sollte von Beginn an geplant werden. Gabapentin ist in der Behandlung bis zu einer hohen Dosis zu titrieren; dann ist zu entscheiden, ob eine Response vorliegt. Opioide sollten im niedrigen oder mittleren Dosisbereich eine überzeugende Wirkung entfalten, um weiter verordnet zu werden.
Offenbar sind bei der Therapie von Patienten mit Phantomschmerzen vor allem im Bereich der psychologisch fundierten Behandlung in den letzten Jahren deutliche Fortschritte erzielt worden. Dennoch sind pharmakologische Behandlungen weiterhin ein Bestandteil der Therapie, auch wenn die Effektivität im Einzelfall kritisch überprüft werden sollte.
Prophylaxe
Besser als die Behandlung könnte jedoch die Prophylaxe sein.
In der Regel haben jedoch nur der Chirurg und der Anästhe-
sist die Möglichkeit, prophylaktische Massnahmen einzulei-
ten. Regionalanästhesieverfahren in der perioperativen Phase
können die Intensität von Phantomschmerzen reduzieren, sie
können sie aber nicht ganz vermeiden (13).
O
Physiotherapie
Die Behandlung mit einem speziellen Strumpf, der als faradischer Schutz des Stumpfes dienen sollte, war in einer kontrollierten Untersuchung dem Plazebostrumpf nicht überlegen (7). Auch die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) konnte nicht überzeugen (8), wenngleich hier die Technik der Stimulation im Einzelnen sehr unterschiedlich sein kann. In einer neueren Untersuchung war TENS ähnlich wirksam wie Spiegeltherapie (9). Die physiotherapeutische Behandlung mit Strom könnte im Einzelfall eine sinnvolle Ergänzung bei der Behandlung von Patienten mit Phantomschmerzen sein.
Botulinumtoxin
In einer Untersuchung an sieben Patienten konnte gezeigt werden, dass die Injektion von Botulinumtoxin an Triggerpunkte im Stumpfbereich zu einer Reduktion von Restschmerz und Phantomschmerzen führen kann (10). Der Grund für die Schmerzlinderung durch Botulinumtoxin könnte darin liegen, dass die Depolarisation peripherer Nerven gehemmt wird. Dies könnte auch bei nicht vollständiger Schmerzausschaltung ein Baustein in der Therapie für Phantomschmerzpatienten werden. Botulinumtoxin ist vermutlich nur dann sinnvoll, wenn periphere Trigger des Phantomschmerzes nachgewiesen werden.
Psychologisch fundierte Behandlungsverfahren
Psychologische Behandlungsverfahren, die speziell gegen Phantomschmerzen entwickelt wurden, zielen auf die Beeinflussung der kortikalen Reorganisation der Schmerzwahrnehmung. In einer bedeutenden Arbeit konnten Flor und Mitarbeiter zeigen, dass durch ein Wahrnehmungstraining die Veränderungen der kortikalen Wahrnehmungsorganisation, das heisst der topischen Zuordnung von Reizlokalisation und Erregung des sensiblen Kortex, normalisiert werden können. Mit der Wiederherstellung der physiologischen Bedingungen ging die Reduktion der Phantomschmerzen einher (3). In einer kontrollierten Untersuchung konnte bestätigt werden, dass eine Spiegeltherapie in nur vier Wochen zu einer massiven Reduktion der Phantomschmerzen führt (11). Weitverbreitet ist eine abgestufte Behandlung, die schrittweise Seitendiskriminierung, Imagination und schliesslich Spiegeltherapie (graded motory imagery) einsetzt. Auch für dieses Verfahren liegen positive Befunde bei Phantomschmerzpatienten vor (12).
PD Dr. med. Markus Gehling Praxis für Schmerzmedizin Wilhelmshöher Allee 91 D-34121 Kassel E-Mail: info@schmerzmedizin-kassel.de
Interessenlage: Der Autor ist Vorstandsmitglied der Sertürner Gesellschaft, die von Mundipharma GmbH (Opioide) unterstützt wird.
Literatur: 1. Hsu E, Cohen SP: Postamputation pain: epidemiology, mechanisms, and treatment.
J Pain Res 2013; 6: 121–136. 2. Huse E et al.: The effect of opioids on phantom limb pain and cortical reorganization.
Pain 2001; 90(1–2): 47–55. 3. Flor H et al.: Effect of sensory discrimination training on cortical reorganisation and
phantom limb pain. Lancet 2001; 357(9270): 1763–1764. 4. Wu CL et al.: Morphine versus mexiletine for treatment of postamputation pain: a ran-
domized, placebo-controlled, crossover trial. Anesthesiology 2008; 109(2): 289–296. 5. Wilder-Smith CH et al.: Postamputation pain and sensory changes in treatment-naive
patients: characteristics and responses to treatment with tramadol, amitriptyline, and placebo. Anesthesiology 2005; 103(3): 619–628. 6. Alviar MJ et al.: Pharmacologic interventions for treating phantom limb pain. Cochrane Database Syst Rev 2011;(12):CD006380. 7. Hsiao AF et al.: A randomized controlled study to evaluate the efficacy of noninvasive limb cover for chronic phantom limb pain among veteran amputees. Arch Phys Med Rehabil 2012; 93(4): 617–622. 8. Finsen V et al.: Transcutaneous electrical nerve stimulation after major amputation. J Bone Joint Surg Br 1988; 70(1): 109–112. 9. Tilak M et al.: Mirror therapy and transcutaneous electrical nerve stimulation for management of phantom limb pain in amputees – a single blinded randomized controlled trial. Physiother Res Int 2015; 21(2): 109–115. 10. Wu H et al.: A prospective randomized double-blinded pilot study to examine the effect of botulinum toxin type A injection versus Lidocaine/Depomedrol injection on residual and phantom limb pain: initial report. Clin J Pain 2012; 28(2): 108–112. 11. Chan BL et al.: Mirror therapy for phantom limb pain. N Engl J Med 2007; 357(21): 2206–2207. 12. Moseley GL: Graded motor imagery for pathologic pain: a randomized controlled trial. Neurology 2006; 67(12): 2129–2134. 13. Gehling M, Tryba M: Prophylaxis of phantom pain: is regional analgesia ineffective? Schmerz 2003; 17(1): 11–19.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 8/2017. Die leicht bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor; Angaben zu Medikamenten in der Schweiz wurden von der Redaktion von ARS MEDICI eingefügt.
Die Online-Version dieses Artikels wurde am 9. Oktober 2017 mit der Angabe zur Interessenlage ergänzt.
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