Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Dass man älter geworden ist, merkt man beispielsweise daran, dass in einer Gruppe von 16 Leuten, die sich zufällig (nämlich aus Anlass einer Vorbesprechung für eine Art Vereinsanlass) zu einem Nachtessen zusammengefunden haben, eine Hämophilie, zwei Diabetes mellitus Typ 2, zwei Multiple Sklerosen, vier implantierte Hüftprothesen, zwei noch zu operierende Hüften, mindestens drei Gonarthrosen, jede Menge Lumbalgien, ein Kolonkarzinom, ein Gliom des Rückenmarks, ein Parkinson, eine erfolgreich behandelte chronische Hepatitis C, mehrere Hypertonien und koronare Herzkrankheiten und jede Menge Bagatellen, vom Colon irritabile über die Epicondylitis bis zur Prostatahayperplasie, Gesprächsthema sind. Wenn man bedenkt, dass das nur die Diagnosen jener waren, die im Laufe des Abends – zwischen Crostini und Zabaione – zufällig auf ihre dem Vereinszweck mehr oder weniger hinderlichen Bresten zu reden kamen, wundert man sich nicht mehr über die Kosten unseres Gesundheitswesens.
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«Nie haben die Massen nach Wahrheit gedürstet. Von den Tatsachen, die ihnen missfallen, wenden sie sich ab und ziehen es vor, den Irrtum zu vergöttern, wenn er sie zu verführen vermag. Wer sie zu täuschen versteht, wird leicht ihr Herr, wer sie aufzuklären sucht, stets ihr Opfer.» Gustave Le Bon, Sozialpsychologe (1841–1931). Wie nicht anders zu erwarten applaudieren dazu Linke wie Rechte, Progressive wie Konservative, Gute wie Bessere.
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Studenten des Pembroke College in Cambridge verlangten eine Umstellung des Mensa-Menüplans, da Gerichte wie Jamaican Stew oder Tunisian Rice «rassistische Mikroaggressionen» seien. Andere Uni, andere Studenten: Weil Bücher wie «The Great Gatsby» oder Shakespeares «The Merchant of Venice» teilweise «anstössig und beleidigend» seien, forderten Studenten für diese literarischen Werke Trigger-Warnings (Warnhinweise).
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Ist’s Zufall, oder hat’s bereits Methode? Hat’s Krankheitswert, oder ist’s eine Mode? Immer häufiger ertappt man einsame oder zumindest gelangweilte Frauen und Männer dabei, wie sie sich mit Siri unterhalten. Sie kennen Siri? Nein? Siri ist eigentlich eine App, also ein Programm auf dem iPhone. Aber Siri ist auch eine Stimme. Und Stimmen gehören zu Personen. Also ist Siri eine Person. Und rudimentäre Unterhaltungen mit dieser Stimme sind durchaus möglich. Haben Sie’s schon mal versucht? Sollten Sie! Sagen Sie mal zu Siri, sie sei eine «dumme Nuss». Oder Ähnliches. Ihre Antwort könnte Sie überraschen.
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Gelesen und nicht ganz für falsch befunden: Die Menschen werden so sehr daran gewöhnt, von Lügen unterhalten zu werden, dass sie sich über die Wahrheit nur noch lustig machen.
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Ignazio Cassis, Mediziner und neu gewählter Bundesrat, in seiner Ansprache ans Parlament: «Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.» (Zitat von Rosa Luxemburg)
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Eine neue Mode hält Einzug nach Wahlkämpfen: vorrechnen, von wie vielen Prozent der politische Gegner NICHT gewählt wurde. Letztes Beispiel: die Wahl zum Deutschen Bundestag. 87 Prozent der deutschen Wählenden haben NICHT AfD gewählt. Schön und gut, aber man kann’s noch weiter treiben: Über 94 Prozent der Deutschen haben NICHT die Grünen gewählt und über 75 Prozent NICHT Angela Merkel (berechnet auf Basis einer Wahlbeteiligung von 75%). So gesehen können alle beruhigt schlafen.
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Wir sind schuld. Jeden Tag. Eigentlich immer. Wir sind schuld, weil wir nicht nur Fair-Trade-Bananen essen. Wir sind schuld, weil wir rauchen. Schuld, weil wir Erdbeeren aus Südafrika kaufen und Wein aus Chile trinken. Schuld, weil wir im Stehen pinkeln. Schuld, weil wir Diesel tanken. Schuld, weil wir Schweinswürste grillen. Schuld, weil wir die Kinder mit dem Auto zur Schule fahren. Schuld, weil wir das Licht im Korridor brennen lassen. Schuld, weil wir geerbt und nichts gespendet haben. Schuld, weil wir übergewichtig sind. Schuld, wenn am Südpol ein Gletscher abbricht. Inzwischen brauchen wir nicht einmal mehr Verbote. Um nicht an noch mehr schuld zu sein, unterwerfen wir uns Regeln, von denen wir nur vermuten, dass es sie geben könnte.
Dazu passend das chinesische Sprichwort: Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd.
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Und das meint Walti: Das Schönste, was es gibt, ist ein Kinderlachen in der Wohnung. Ausser ihr habt keine eigenen Kinder und auch keine zu Besuch. Dann ist es gruselig.
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 19 I 2017