Transkript
INTERVIEW
«Aus Sicht des Onkologen ist das Glas heute halb voll»
Interview mit Dr. med. Thomas von Briel, Hirslanden Onkozentrum Zürich
Bei der Mehrheit der Patienten mit einem nicht kleinzelli-
gen Lungenkarzinom wird die Erkrankung erst in einem
fortgeschrittenen, metastasierten Stadium entdeckt. Ent-
sprechend schlecht ist die Prognose. Wir sprachen mit
Dr. med. Thomas von Briel über die Fortschritte in der
Behandlung von Lungenkrebspatienten angesichts neuer
therapeutischer Optionen.
Herr Dr. von Briel, wie sieht die Prognose für einen Patienten mit einem nicht kleinzelligen Lungenkarzinom, dem häufigsten Lungenkrebs, heutzutage aus? Dr. med. Thomas von Briel: Das Bronchuskarzinom ist eine aggressive Krankheit. Bereits Patienten im frühesten Stadium, ohne nachweisbare Metastasen, haben ein hohes Rezidivrisiko, und einen Rückfall zu erleiden, bedeutet in der Regel, dass man nicht überleben wird. Bronchuskarzinompatienten im T1N0-Stadium haben ein Rückfallrisiko von 20 bis 30 Prozent. Das ist wesentlich schlechter als beispielsweise beim
Screeningresultaten und somit ihre Einschlusskriterien kennen und dem Raucher die Tatsachen erläutern. Man muss ihm die Vor- und Nachteile einer Screeninguntersuchung erklären und ihm am Ende die Wahl lassen, ob er es machen will oder nicht. Man sollte den potenziellen Nutzen des Screenings nicht kleinreden, indem man nur auf die Kosten oder das Risiko falschpositiver Befunde hinweist. Ich verstehe natürlich auch den Hausarzt, der keine überflüssigen Kosten verursachen möchte. Einem 55-Jährigen mit über 40 Pack-Years* kann man zum Screening raten.
Würde auch das günstigere Röntgen anstelle eines CT ausreichen? von Briel: Für ein echtes Screening muss man ein CT machen. Screeningstudien mit Thoraxbildern waren negativ. Wenn ein Hausarzt selbst ein Röntgengerät in der Praxis hat, soll er den symptomatischen Patienten röntgen. Diese Situation ist natürlich nicht mehr ein Screening im engeren Sinn. Ein bereits symptomatisches Bronchuskarzinom ist in der Regel nicht so klein. Das sollte man auch im Röntgen sehen können.
Einem 55-Jährigen mit 40 Pack-Years kann man zum Screening raten; man muss ihm aber die Vor- und Nachteile erklären und ihm am Ende die Wahl lassen.
Brustkrebs: Bei einer Patientin mit einem T1N0-Mammakarzinom beträgt das Rezidivrisiko während der nächsten fünf bis zehn Jahre rund 5 Prozent.
35 bis 40 Prozent der nicht kleinzelligen Lungenkarzinome werden erst im Stadium IV entdeckt. Wäre das Screening von Hochrisikogruppen sinnvoll? von Briel: Der Nutzen eines Screenings ist immer vom Risiko abhängig. Je kleiner es ist, umso weniger sinnvoll ist das ungezielte Screening. Es sterben weniger Menschen an einem Lungenkarzinom, wenn man die richtige Gruppe screent – und das sind die Raucher. Bei einem starken Raucher kann man das Screening befürworten. Man kann sich darüber streiten, ob das Kosten-Nutzen-Verhältnis vertretbar ist oder ob man zu häufig unnötige Ängste auslöst, aber im Schnitt kann man angesichts der Ergebnisse von Screeningstudien schon sagen: Man kann damit Leben retten.
Was heisst das in der Praxis? Nehmen wir einmal an, jemand raucht seit Anfang 20 durchschnittlich ein bis zwei Päckchen Zigaretten pro Tag und ist jetzt Mitte 50. Soll der Hausarzt ihn zum CT schicken? von Briel: Der Hausarzt sollte die Studien mit den positiven
Gibt es «red flags» für den Verdacht auf Lungenkrebs? von Briel: Wenn jemand einen prolongierten, ungewohnten Husten hat, kann das verdächtig sein. Auch hier stellt sich die Frage nach dem individuellen Risiko. Wenn ein starker Raucher sagt, das sei nicht sein üblicher Husten, dann lohnt sich eine Bildgebung. Eine sehr wichtige «red flag» ist auch die Sorge des Patienten. Wenn er zu einem Arzt geht und sagt: «Ich habe Angst, ich könnte Krebs haben», sollte man mit der Abklärung relativ grosszügig sein.
Es scheint zurzeit unzählige neue therapeutische Optionen beim nicht kleinzelligen Lungenkarzinom zu geben. Gibt es noch so etwas wie einen therapeutischen Goldstandard? von Briel: Die Frage nach dem therapeutischen Goldstandard beim nicht kleinzelligen Lungenkarzinom hätte man vor 15 Jahren vielleicht noch beantworten können. Damals haben wir nicht einmal unterschieden, ob es sich um ein Plattenepitheloder ein Adenokarzinom handelt. Man unterschied nur zwischen den kleinzelligen und den nicht kleinzelligen Bronchuskarzinomen und behandelte alle nicht kleinzelligen Bronchuskarzinome gleich. Heute weiss man mehr und schaut genauer hin, um welchen Tumortyp es sich handelt und ob man eine spezifische Mutation findet, die für die Wirksamkeit eines der neuen Therapeutika spricht.
* Pack-Year (Packungsjahr) = Zahl der pro Tag gerauchten Zigarettenpackungen (20 Stück pro Packung) multipliziert mit der Anzahl Raucherjahre. Beispiele: 2 Packungen pro Tag seit 5 Jahren = 2 × 5 = 10 Pack-Years.
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Zur Person
Dr. med. Thomas von Briel, Hirslanden Onkozentrum Zürich, ist Facharzt für Allgemeine Innere Medizin und Medizinische Onkologie und wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI.
Welche prinzipiellen therapeutischen Optionen gibt es für Patienten mit einem Lungenkarzinom? von Briel: Zuerst stellt sich die Frage, ob die Krankheit noch heilbar ist. Die Antwort findet man im Staging. Sind nur der Primärtumor, das wäre das Stadium I, oder eine Metastasierung in lokoregionäre Lymphknoten zu finden, also die Stadien II bis III, ist die Antwort Ja. Dann muss man die geeignete lokale Therapie, entweder die Resektion oder die Radiotherapie, auswählen. Dabei spielen die Tumorausdehnung und der Gesundheitszustand des Patienten die entscheidende Rolle. Je nach Stadium kann man die kurative Therapie durch eine adjuvante Chemo- und Radiotherapie ergänzen. In ausgewählten Fällen ist auch eine präoperative, das heisst neoadjuvante, Chemotherapie vor dem Eingriff zu überlegen. Dies gilt vor allem für Tumoren im Stadium III, wenn die gefundenen
Vom Ziel, diese Krankheit tatsächlich zu heilen, sind wir noch weit entfernt – trotzdem darf man durchaus optimistisch sein.
mediastinalen Lymphknotenmetastasen für den Chirurgen noch zu erreichen sein dürften. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für klinische Krebsforschung hat viel Erfahrung mit Cisplatin plus Docetaxel vor der Operation gesammelt. Man weiss aber bis heute nicht sicher, ob eine neoadjuvante Chemotherapie tatsächlich einer postoperativen adjuvanten Chemotherapie überlegen ist. Bei lokal sehr fortgeschrittenen Karzinomen beobachten wir aber dank der Chemotherapie oft eine beeindruckende Grössenreduktion, was den Tumor besser resektabel macht. Wenn Fernmetastasen vorliegen, also im Stadium IV, und somit kaum mehr eine Heilung erreicht werden kann, gibt es an medikamentösen Therapien drei Prinzipien: die klassische Chemotherapie, die sogenannte «targeted therapy» und die Immuntherapie. Die Wirkmechanismen dieser Therapien sind unterschiedlich, und sie werden inzwischen teilweise auch kombiniert. Hier ist zurzeit vieles im Fluss.
Bitte fassen Sie, bevor wir zu den neuen Therapien kommen, kurz noch einmal die wesentlichen Punkte der konventionellen Chemotherapie zusammen. von Briel: Heute weiss man: Ein Lungenkarzinompatient mit einem resektablen Tumor über 4 Zentimeter oder bei Vorlie-
gen von lokoregionären Lymphknotenmetastasen kann von einer adjuvanten Chemotherapie profitieren. Statistisch betrachtet sinkt das Rezidivrisiko. Man muss dem Patienten aber fairerweise sagen, dass man nie weiss, ob er derjenige sein wird, der davon profitiert, und dass diese Wahrscheinlichkeit nicht sehr gross ist. Üblich sind vier Zyklen à drei bis vier Wochen mit Cisplatin, welches immer dabei ist, sowie einem weiteren Zytostatikum. Obwohl diese Art der Chemotherapie bereits in den 1970er-Jahren eingeführt wurde, ist ihr tatsächlicher Nutzen als adjuvante Therapie beim Bronchuskarzinom erst seit der Jahrtausendwende sauber nachgewiesen. Zuvor stützte man sich auf Metaanalysen, welche sehr kleine Phase-III-Studien zusammenfassten. Auch in der palliativen Situation wissen wir heute, dass eine platinhaltige Therapie, bestehend aus Cisplatin oder Carboplatin und einem zweiten Zytostatikum, beispielsweise einem Taxan, Vinorelbin, Gemcicitabin, oder beim Adenokarzinom vorzugsweise Pemetrexed, das Leben verlängern kann. Kombinationen mit mehr als zwei Zytostatika haben nie einen Vorteil, aber zweifellos mehr Nebenwirkungen gebracht. Des Weiteren hat sich das Prinzip der Erhaltungstherapie entwickelt. Die Erfahrung lehrte uns, dass die Krankheit nach dem Ende einer Chemotherapie meistens rasch progredient wird. Deswegen setzte man die Behandlung ohne das wegen Nebenwirkungen ziemlich belastende Cisplatin fort. Bei einem Adenokarzinom gibt man zunächst Cisplatin oder Carboplatin plus Permetrexed, und nach vier Zyklen à drei Wochen lässt man das Cisplatin weg und fährt, sofern kein Progress besteht, mit dem Permetrexed allein alle drei Wochen fort. Das macht zwar müde, wird aber von den meisten Patienten über Monate hinweg toleriert. In Studien zeigte sich, dass diese Strategie beim Adenokarzinom das Überleben etwas verlängern kann.
Was hat es nun mit den sogenannten «targeted therapies» auf sich? von Briel: Die Entwicklung der «targeted therapy» begann mit dem Versuch, den EGF-Rezeptor auf der Oberfläche der Bronchuskarzinomzellen anzugreifen. EGF steht für «epidermal growth factor», einen wichtigen Zellwachstumsfaktor. Mit Antikörpern wie Cetuximab versuchte man, diesen Rezeptor zu blockieren, hatte damit aber keinen durchschlagenden Erfolg; im Mittel wurden allenfalls zwei bis vier Wochen zusätzliche Lebenszeit erreicht, und dies noch um den Preis erheblicher Nebenwirkungen an der Haut. In dieser Zeit entwickelte man Moleküle, die den Rezeptor nicht wie Antikörper äusserlich blockieren, sondern die Rezeptorsignalvermittlung auf der Innenseite der Zelle stören. Das sind die TKI, die Tyrosinkinaseinhibitoren. Die Tyrosinkinase ist nötig, damit der Rezeptor sein Signal in die Zelle weiterleiten kann. Gefitinib war das erste Medikament, ein kleines Molekül, das sich in den Tyrosinkinaseteil des Rezeptors einnistet und ihn damit blockiert. Es gab einige Patienten, die sensationell darauf ansprachen. Das kam gehäuft bei Frauen, insbesondere Asiatinnen, und Nichtrauchern vor. Erst mit der Zeit wurde klar, dass diese Patienten ein Karzinom hatten, bei dem der EGF-Rezeptor an seiner Tyrosinkinase mutiert war. Diese Mutation führte zu einem anhaltenden Wachstumssignal, was der wesentliche Faktor war, wieso diese Krebskrankheit überhaupt entstanden ist. Es folgten
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Infokasten:
In der Schweiz zugelassene Tyrosinkinasehemmer und Checkpoint-Inhibitoren bei NSCLC
Wirkmechanismus
Substanz
Handelsname
Checkpoint-Inhibitor
Tyrosinkinasehemmer (EGF-Rezeptor)
Tyrosinkinasehemmer (ALK-Translokation)
Atezolizumab Nivolumab Pembrolizumab
Tecentriq® Opdivo® Keytruda®
Afatinib Erlotinib Gefitinib Osimertinib
Giotrif® Tarceva® Iressa® Tagrisso®
Alectinib Ceritinib Crizotinib (auch bei ROS1-Mutation)
Alecensa® Zykadia® Xalkori®
NSCLC: nicht kleinzelliges Lungenkarzinom; EGF: epidermal growth factor; ALK: anaplastic lymphoma kinase
Stand: 4.9.2017, gem. compendium.ch
weitere EGFR-TKI wie Erlotinib und Afatinib und die Identifizierung zusätzlicher, spezifischer Mutationen in anderen Signalwegen. So fand man die ALK-Translokation und entwickelte dafür ebenfalls einen passenden Tyrosinkinaseinhibitor, das Crizotinib. Es war beeindruckend, dass praktisch alle Patienten mit dieser Mutation auf Crizotinib ansprachen, viele von ihnen mit einer kompletten Remission. Eine weitere Mutation, bei welcher Crizotinib ebenfalls wirkt, betrifft ROS1.
Die Lungenkarzinome werden demnach neuerdings auch nach Mutationen klassifiziert? von Briel: Ja, das war der Trend der letzten 15 Jahre, nicht nur beim Lungenkrebs. Bei den Adenokarzinomen der Lunge hat man Mutationen gefunden, die man bei anderen Tumoren schon kannte. So gibt es zum Beispiel eine HER2-Mutation,
im Mittel für knapp ein Jahr zurückgedrängt und erst danach wieder progredient. Wenn man erneut biopsiert, findet man in 60 Prozent der Fälle eine ganz bestimmte neue Punktmutation in der Tyrosinkinase, die T790M. Dagegen gibt es bereits Drittgenerationen-TKI wie das Osimertinib. Dieses Medikament führt bei der Mehrheit der Patienten mit T790M-Mutationen wieder zu einer Remission. Ich behandle derzeit einen Patienten bereits seit mehr als zwei Jahren mit Osimertinib, nachdem er zuvor über drei Jahre Erlotinib erhalten hatte. Auch bei der ALK-Translokation gibt es dieses Phänomen. Man sucht also nach der Mutation, gibt den passenden TKI, und im Fall der Progredienz biopsiert man, um zu sehen, welche Mutation nun den Lead hat. Es kann aber auch zu Mutationen in einem anderen Signalübermittlungsweg kommen. Nicht einmal so selten wird aus einem EGFR-mutierten Bronchuskarzinom ein äusserst aggressives kleinzelliges Karzinom. Ein Problem ist zudem, dass sich Metastasen bei ein und demselben Patienten unterschiedlich entwickeln können. Im Krankheitsverlauf müsste man quasi einen Mehrfrontenkrieg führen. Das ist ein gewichtiger Grund, weshalb ich nicht denke, dass wir mit diesen «targeted therapies» das Bronchuskarzinom in absehbarer Zeit heilen können. So gut diese Medikamente auch wirken, es ist derzeit nicht realistisch, dass wir sie so orchestrieren können, dass man wirklich alle Tumorzellen damit auslöschen kann.
Die meisten Lungenkrebspatienten sind Raucher. Welche Rolle spielen spezifische Mutationen bei ihnen? von Briel: Wenn man nach den heute bekannten und gezielt therapierbaren Mutationen sucht, wird man sie eher bei den Nichtrauchern finden. Diese Patienten hatten sozusagen das Pech, genau diese Mutation zu erleiden, welche zu ihrer Krankheit führte. Die Bronchuszellen der Raucher hingegen sind massiv mutagenen Substanzen ausgesetzt, und diese vielfältigen Noxen führen zu vielfältigen Defekten. Natürlich kann selten einmal auch ein Raucher eine der bekannten spezifischen Mutationen haben und insofern auch von den genannten Medikamenten profitieren.
Vergleicht man die Überlebensrate der Patienten damals und heute, so ist diese heute mindestens doppelt so lang.
die sich mit HER2-Blockern aus der Mammakarzinomtherapie inaktivieren lassen. Man hat BRAF-Mutationen gefunden, die sich mit den gleichen Medikamenten behandeln lassen wie BRAF-mutierte Melanome.
Wieso kann man mit diesen gezielten Therapien die Krankheit nicht heilen? von Briel: Man muss sich vergegenwärtigen, dass ein Bronchuskarzinom aus Milliarden von Zellen besteht, die sich teilen, entwickeln und weiter mutieren. Mit der «targeted therapy» räumt man zwar einen Teil davon weg, aber Tumorzellen mit anderen, zum Teil neuen Mutationen überleben. Am meisten weiss man darüber bei den EGFR-mutierten und den ALK-translozierten Bronchuskarzinomen. Wenn man ein EGFR-mutiertes Karzinom mit einem TKI der ersten Generation behandelt, Gefitinib oder Erlotinib, wird der Tumor
Nun zur dritten Säule, der Immuntherapie. Wie funktioniert diese Strategie? von Briel: Früher hat man Impfungen versucht, und diese Studien waren fast ausnahmslos Flops. Erst mit der Zeit – und da hat uns die HIV-Forschung geholfen – hat man erkannt, dass es nicht nur darum geht, träge Immunzellen für einen Angriff scharfzumachen, sondern andersherum, Blockaden zu lösen, welche die Immunzellen davon abhalten, eine Tumorzelle zu vernichten. Und hier kommen die CheckpointInhibitoren ins Spiel, die wir heute meinen, wenn wir von Immuntherapie sprechen. Mit diesen Checkpoint-Inhibitoren kann man sozusagen die Bremse lösen, die eine Immunzelle vom Angriff gegen eine Tumorzelle abhält. Am besten erforscht ist zurzeit der Rezeptor für PD1 und seine Liganden PD-L1 und PD-L2. PD1 auf der Abwehrzelle bindet die Liganden PD-L1 und PD-L2 und wird dadurch gebremst. Blockiert man diese Bindung mit Antikörpern, wie Nivolumab, Pembrolizumab oder Atezolizumab, geht man sozusagen vom Bremspedal, und die Immunzelle kann loslegen. Das funktioniert und wurde zuerst beim Melanom nachgewiesen.
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Es gibt etliche Patienten, die nicht darauf ansprechen, aber diejenigen, welche ansprechen, profitieren oft Monate, wenn nicht gar Jahre.
Welchen Lungenkrebspatienten hilft diese Immuntherapie? von Briel: Es ist eine sehr teure Therapie, und wir möchten voraussagen können, wer profitiert und wer nicht. Theoretisch scheint das nicht schwierig zu sein. Man müsste nur nachschauen, ob die Tumorzellen den Liganden gegen PD1 exprimieren. Mit einer immunhistochemischen Färbung ist das grundsätzlich möglich. Aber: Das Resultat ist nicht schwarz oder weiss. Sowohl was das Ausmass der Expression anbelangt als auch den prädiktiven Wert, der dieser Färbung innewohnt. So wäre es durchaus möglich, dass ein Patient auch bei negativer Immunhistochemie von der Immuntherapie profitiert. Gründe dafür sind mannigfaltig, beispielsweise technischer Natur oder die Folge der Heterogenität des Tumors. Mit einer Biopsie verfügt man nur über einige Millimeter Gewebe, und dieses ist nicht zwingend repräsentativ für die gesamte Krankheit. Zudem ist die Biopsie auch eine Momentaufnahme, und man nimmt an, dass sich die PD-L1Expression im Laufe der Zeit ändert.
Wenn die neue Immuntherapie so gut wirksam ist, sollte man sie nicht gleich besser als Erstlinientherapie anwenden? von Briel: In der Tat ist einer der Antikörper, das Pembrolizumab, bereits dafür zugelassen, wenn im Tumor eine PD-L1Expression von mindestens 50 Prozent nachgewiesen werden kann. Der Grund ist eine randomisierte Studie, welche in der
Aus der Sicht eines Lungenkrebspatienten ist das Glas noch immer so gut wie leer.
ersten Linie die Chemotherapie mit Pembrolizumab bei Tumoren mit PD-L1-Expression ≥ 50 Prozent verglichen hat. Die Patienten, welche mit Pembrolizumab behandelt wurden, haben besser angesprochen, an weniger Nebenwirkungen gelitten und vor allem auch länger gelebt. Dies ist beeindruckend, wenn man bedenkt, dass die Patienten, welche zuerst die Chemotherapie bekommen hatten, wenn immer möglich in der zweiten Linie auch mit Pembrolizumab behandelt wurden. Das bedeutet, dass man eine Chance verspielt, die man später nicht wieder zurückbekommt, wenn man Patienten mit dieser hohen PD-L1-Expression die Immuntherapie in der ersten Linie vorenthält.
Wie aussagekräftig sind eigentlich Begriffe wie Remission oder progressionsfreies Überleben tatsächlich? Den Patienten interessiert doch letztlich nur seine Überlebensdauer. von Briel: Man muss zwei Situationen unterscheiden. Erstens die kurative Ausgangslage nach Chirurgie oder auch Strahlentherapie und allenfalls Chemotherapie. Hier definiert sich der Erfolg darin, ob es zu einem Rezidiv kommt oder nicht. Es geht um das Überleben. Die zweite Situation betrifft den grösseren Teil der Patienten, nämlich diejenigen, die mit ihrem Krebs möglichst lange und möglichst gut leben sollten. Hier spielen Begriffe wie Remission oder progressionsfreies Überleben eine wichtige Rolle. Die Remission hat mitunter grossen Einfluss auf die Sympto-
matik, die oft zurückgeht, wenn die Tumormanifestationen kleiner werden. Natürlich ist die Überlebensdauer der härteste Endpunkt, aber trotzdem nicht unbedingt der wichtigste. Das progressionsfreie Überleben ist ein nützlicher Parameter zur Messung des Therapieerfolgs in Studien, aber nicht nur das: Es hat auch viel mit Lebensqualität zu tun und ist für den Patienten ein wichtiger Parameter. Selbst wenn er von seinem Tumor noch nicht viel spürt, führt das Wissen um die Progredienz zu einer erheblichen Einbusse an Lebensqualität, insbesondere auch zu Angst. Umgekehrt wirkt sich die Remission, also die Tatsache, dass ein Tumor beziehungsweise dessen Metastasen kleiner werden, günstig auf die Lebensqualität aus.
Wie gross ist der Fortschritt für Lungenkrebspatienten nun tatsächlich – ist das Glas eher halb voll oder halb leer? von Briel: Ich überblicke mittlerweile 25 Jahre Onkologie aus eigener Erfahrung. 1992 wussten wir ja noch nicht einmal, ob eine Chemotherapie nützt. Vergleicht man die Überlebensdauer der Patienten damals und heute, so ist diese mindestens doppelt so lang. Früher betrug die Überlebensdauer von Bronchuskarzinompatienten ohne Therapie vier bis fünf Monate, und mit Therapie verlängerte man sie auf knapp ein Jahr. Heute, wo man verschiedene Tumortypen kennt und diese gezielt behandeln kann, kommt man je nach Subtyp schon auf mehrere Jahre. Alle Überlebensdaten sind immer als Median gemeint, das heisst, dass es Patienten gibt, die länger überleben. Aus Sicht des Onkologen, der eine Zeit mit sehr wenigen Therapiemöglichkeiten erlebt hatte, ist das Glas heute halb voll. Für einen Patienten, der abrupt aus seinem gewohnten Leben gerissen wird, sind einige wenige Jahre restliche Lebenszeit hingegen nicht viel – für ihn dürfte das Glas noch ziemlich leer sein. Vom Ziel, diese Krankheit tatsächlich zu heilen, sind wir noch weit entfernt. Trotzdem befinden wir uns in einer neuen Ära. Die Diagnostik hat sich enorm verbessert, und die Therapieoptionen haben sich rasant vermehrt. Ich hoffe, dass die Entwicklung mit dieser Dynamik weitergeht. Man darf durchaus optimistisch sein.
Sie sagten gerade, dass die Krebstherapie bei einem Lungenkarzinom im Mittel nur eine recht bescheidene lebensverlängernde Wirkung hat. Warum nehmen die Patienten die Therapie trotzdem auf sich? von Briel: Das können Gesunde oft nicht verstehen. Wenn man mit dieser Krankheit konfrontiert ist, bekommt die Zeit eine ganz andere Bedeutung. Es wird plötzlich wichtig, noch einmal Weihnachten oder das nächste Frühjahr zu erleben, auch wenn das «nur» ein paar Monate sind. Viele haben noch Pläne, wollen zum Beispiel noch eine Reise unternehmen oder an der Hochzeit ihres Kindes dabei sein. Wenn in einer Studie eine mittlere Lebensverlängerung von fünf Monaten erzielt wird, ist das keineswegs «nichts», sondern ein relevanter Zeitraum – zumal ja einige Patienten in diesen Studien deutlich länger überlebt haben.
Herr Dr. von Briel, wir danken Ihnen für das Gespräch. O
Das Interview führte Renate Bonifer.
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