Transkript
FORTBILDUNG
Neue Richtlinien zum Autofahren mit Diabetes
SGED überarbeitet Leitfaden zu Fahreignung und Fahrfähigkeit von Diabetikern
Bei Diabetespatienten können akut auftretende Störungen
wie etwa eine Hypoglykämie oder eine deutliche Hyper-
glykämie das sichere Lenken eines Motorfahrzeugs beein-
trächtigen. Das gilt auch, wenn Sehstörungen als Diabetes-
folgekomplikation vorliegen. Eine Expertengruppe von
SGED, SDG und SGRM hat kürzlich aktualisierte Richtlinien
zur Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus
veröffentlicht.
Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie
«Die meisten Patienten mit Diabetes mellitus lenken Motorfahrzeuge sicher und stellen im Strassenverkehr kein relevant erhöhtes Risiko für sich oder andere dar. Die Diagnose Diabetes mellitus allein ist somit nicht gleichzusetzen mit einer von vornherein bestehenden Einschränkung der Fahreignung oder Fahrfähigkeit», heisst es gleich zu Beginn der Richtlinie. Dennoch: Bestimmte akut auftretende oder langfristig bestehende Einschränkungen können die Fahreignung von Diabetespatienten negativ beeinflussen. Daher gibt es in der Schweiz wie in allen anderen europäischen Ländern gesetzliche Regelungen bezüglich Diabetes und Verkehrsteilnahme. Bereits im Jahr 2011 hat eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED), der Schweizerischen Diabetes-Gesellschaft (SDG) und der Schweizerischen Gesellschaft für Rechtsmedizin (SGRM), entsprechende Richtlinien verfasst und publiziert. Im Frühjahr 2017 erschien eine Überarbeitung dieser Richtlinien. In der aktualisierten Fassung wird zwischen Behandlung ohne, mit tiefem, mit erhöhtem und mit hohem Hypoglykämierisiko unterschieden, was unter anderem dazu führt, dass für Diabetespatienten, die mit einer einmal täglichen Dosis von analogem Basalinsulin, mit
MERKSÄTZE
O Die Richtlinien bezüglich Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus wurden im Frühjahr 2017 überarbeitet.
O Sie stehen auf der Website der Schweizerischen Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (www.sgedssed.ch) zum Download bereit.
O Der behandelnde Arzt muss bei einer Therapie mit möglicher Hypoglykämiegefahr den Diabetespatienten über diese Richtlinien informieren und erläutern, wie er die Fahreignung des Patienten einschätzt.
Problematische Hypoglykämien? • schwere Hypoglykämie in den letzten 2 Jahren* • fehlende Hypoglykämiewahrnehmung (Clare-Score1 ≥ 4)?*
ja nein
Therapie: 1 × täglich analoges Basalinsulin oder Gliclazid oder Glinid
ja nein
hohes Hypoglykämierisiko
erhöhtes Hypoglykämierisiko
tiefes Hypoglykämierisiko
* Insbesondere im Alter über 70 Jahren und eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR unter 45 ml/min) oder bei einer Diabetesdauer über 20 Jahren und eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR unter 45 ml/min).
Abbildung: Flussdiagramm zur Beurteilung des Hypoglykämierisikos bei Therapie mit Insulin, Sulfonylharnstoffen oder Gliniden
Gliclazid oder mit Gliniden behandelt werden, die bis anhin obligate Blutzuckermessung vor Antritt der Fahrt entfällt. Die ausführlichen Richtlinien inklusive Anhang stehen auf der Website der SGED zum Download bereit (www.sgedssed.ch).
Grundsätzliches
für alle Führerausweisinhaber mit Diabetes
Wenn Diabetespatienten Auto fahren möchten, müssen sie eine stabile Blutzuckereinstellung ohne verkehrsrelevante Unter- oder Überzuckerungen aufweisen. Auch dürfen keine verkehrsrelevanten Diabetesfolgekomplikationen vorliegen. Für alle Motorfahrzeuglenker mit Diabetes ist das individuelle Hypoglykämierisiko je nach gewählter Therapieart und unter Berücksichtigung der Hypoglykämiewahrnehmung zu ermitteln (Abbildung und Tabelle). Daraus ergeben sich je nach Führerausweiskategorie unterschiedliche Handlungsempfehlungen. Da Patienten sehr häufig schwere Hypoglykämien von sich aus nicht erwähnen, muss der Arzt gezielt danach fragen. Eine einfache Möglichkeit, um die Hypoglykämiewahrnehmung zu testen, stellt der Gold-Score (1994) dar. Dabei lautet die Frage: Wie häufig haben Sie Symptome einer Unterzuckerung, wenn der Blutzucker auf Werte unter 3,0 mmol/l abfällt? Die möglichen Antworten bewegen sich dabei auf einer Punkteskala zwischen 1 (= immer) und 7 (= nie). Ein
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ARS MEDICI 16 I 2017
FORTBILDUNG
Tabelle:
Übersicht Risikostufen Motorfahrzeuglenker mit Diabetes mellitus
Kein Risiko Keine Behandlung mit Insulin, Sulfonylharnstoffen oder Gliniden, das heisst Therapie mit Metformin, SGLT-2-Hemmern, GLP-1-RA, DPP-4-Hemmern (oder Kombinationen dieser Medikamente sowie Pioglitazon).
Tiefes Risiko Behandlung mit analogem Basalinsulin allein 1 × täglich oder mit Gliclazid oder mit Gliniden. Dabei darf keine Kombination dieser Behandlungsmöglichkeiten bestehen, zum Beispiel Insulin und Gliclazid oder Glinid.
Erhöhtes Risiko Behandlung mit Insulin (kein analoges Basalinsulin oder analoges Basalinsulin 1× täglich in Kombination mit Sulfonylharnstoffen oder Gliniden) oder Verwendung von lang wirksamen Sulfonylharnstoffen (z.B. Glibenclamid, Glimepirid).
Hohes Risiko Vorkommen einer schweren Hypoglykämie Grad II oder III in den letzten zwei Jahren und/oder eine fehlende Hypoglykämiewahrnehmung (Clarke-Score 4 oder mehr Punkte) – insbesondere bei Alter über 70 Jahre und eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR unter 45 ml/min) und/oder einer Diabetesdauer von über 20 Jahren und eingeschränkter Nierenfunktion (eGFR unter 45 ml/min).
Score von ≥ 4 (50% oder weniger) ergibt die Verdachtsdiagnose einer eingeschränkten Hypoglykämiewahrnehmung. Die Abbildung gibt ein Flussdiagramm zur Einschätzung des Hypoglykämierisikos bei Therapie mit Insulin, Sulfonylharnstoffen oder Gliniden wider. Der in diesem Diagramm erwähnte Clarke-Score ist ein ausführlicheres Instrument zur Überprüfung der Hypoglykämiewahrnehmung und ist im Anhang der aktuellen SGED-Richtlinien enthalten.
Richtlinien für Führerausweisinhaber der 1. medizinischen Gruppe (A, B, A1, B1, F, G, M) Bei Diabetespatienten der 1. medizinischen Gruppe (Kategorien A, B, A1, B1, F, G, M), die Motorfahrzeuge lenken möchten, darf keine wesentliche Hyperglykämie vorliegen, insbesondere keine mit Allgemeinsymptomen einhergehende Blutzuckererhöhung mit Auswirkungen auf die Fahrfähigkeit. Zudem dürfen keine verkehrsrelevanten Diabetesspätfolgen bestehen wie beispielsweise bestimmte Einschränkungen des Sehvermögens oder Nervenschäden, welche die sichere Fahrzeugbedienung beeinträchtigen. Hinsichtlich des individuellen Hypoglykämierisikos gilt Folgendes: O Behandlung mit tiefem Hypoglykämierisiko (analoges Ba-
salinsulin 1-mal täglich oder Gliclazid oder Glinide allein): Blutzuckermessungen vor Antritt der Fahrt und bei längeren Fahrten können entfallen, Kohlenhydrate als Hypoglykämieprophylaxe und ein Blutzuckermessgerät müssen jedoch immer im Fahrzeug mitgeführt werden. O Bei einer Behandlung mit erhöhtem Hypoglykämierisiko müssen ausser den oben genannten Faktoren (keine verkehrsrelevanten Spätfolgen, keine wesentliche Hyperglykämie) folgende Bedingungen erfüllt sein:
– stabile Blutzuckereinstellung in den letzten zwei Jahren ohne gehäufte Hypoglykämie Grad II oder III und ohne Hypoglykämiewahrnehmungsstörung;
– stabil vorhandene Fähigkeit zur zuverlässigen Vermeidung von Unterzuckerungen beim Lenken eines Fahrzeugs, der Blutzuckerspiegel muss vor Antritt der Fahrt und bei längeren Fahrten in regelmässigen Abständen durch Blutzuckermessungen überprüft werden.
O Einhalten der Verhaltensregeln, wie im Merkblatt für Fahrzeuglenker mit Diabetes aufgeführt (v.a. Blutzucker vor Antritt der Fahrt > 5 mmol/l).
O Bei hohem Hypoglykämierisiko muss eine spezielle Beurteilung durch einen Facharzt für Endokrinologie/Diabetologie erfolgen (oder durch einen anderen Facharzt mit Dignität Diabetologie).
O Nach Auftreten einer schweren Hypoglykämie bei Inhabern der Führerausweiskategorien der 1. medizinischen Gruppe ist die Fahreignung nur bei kontinuierlicher Blutzuckermessung oder bei sechs bis acht Blutzuckermessungen täglich gegeben. Falls in den nächsten zwei Jahren keine schwere Hypoglykämie mehr auftritt, kann diese Zusatzauflage wieder entfallen.
Richtlinien für Führerausweisinhaber der 2. medizini-
schen Gruppe (D, C, C1, D1, Bewilligung zum berufs-
mässigen Personentransport BPT, Verkehrsexperten)
Für Führerausweisinhaber der 2. medizinischen Gruppe (D, C, C1, D1, Bewilligung zum berufsmässigen Personentransport BPT, Verkehrsexperten) mit Diabetes mellitus, die Motorfahrzeuge lenken möchten, gelten teilweise andere Bedingungen als in der 1. medizinischen Gruppe. Die entsprechend der individuellen Hypoglykämierisikostufe erforderlichen Massnahmen beim Lenken von Motorfahrzeugen für Führerausweisinhaber der 2. medizinischen Gruppe sind in den aktuellen Richtlinien detailliert beschrieben. Bei einer Therapie mit der Möglichkeit einer Unterzuckerung oder Allgemeinsymptomen einer Überzuckerung ist die Fahreignung für die Kategorie D oder Unterkategorie D1 ausgeschlossen. Hingegen kann die Fahreignung für die Kategorie C oder die Unterkategorie C1, für die Bewilligung zum berufsmässigen Personentransport sowie bei Verkehrsexperten unter besonders günstigen Umständen gegeben sein.
Ärztliche Aufklärungspflicht und Melderecht
Der behandelnde Arzt muss die betreffenden Führerausweis-
inhaber bei einer Behandlung mit möglicher Unterzucke-
rungsgefahr über diese Richtlinien informieren und jedem
Patienten konkret erläutern, wie er dessen Fahreignung ein-
schätzt. Diese Aufklärung sollte in den Patientenunterlagen
dokumentiert sein. Eine generelle ärztliche Meldepflicht be-
steht nicht, jedoch hat der Arzt bei uneinsichtigen Patienten
ein Melderecht (Art. 15 d SVG).
O
Andrea Wülker
Quelle: Lehmann R et al.: Arbeitsgruppe der SGED, SDG und SGRM: Richtlinien bezüglich Fahreignung und Fahrfähigkeit bei Diabetes mellitus. http://sgedssed.ch/fileadmin/ files/6_empfehlungen_fachpersonen/61_richtlinien_fachaerzte/1705_Neue-AutoRichtlinien_SGED_final_DE.pdf
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