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FORUM
Diabeteshilfe für die Insel Rodrigues
Schweizer Hilfswerk bildet vor Ort Fachpersonal aus
Rodrigues – die Insel im Indischen Ozean,
560 km östlich von Mauritius, ist von einer
überdurchschnittlich hohen Inzidenz von Dia-
betes Typ 2 betroffen (17% der Bevölkerung,
im Vergleich zur Schweiz mit 7,2%). Die seit
2002 autonome Provinz erhält von Mauritius
nur ein minimales Budget für das Gesund-
heitswesen, sodass die medizinische Versor-
gung der Betroffenen völlig ungenügend ist.
Das Hilfswerk legt das Gewicht auf die Auf-
klärung der Bevölkerung, eine stufengerechte
Ausbildung von Betreuern und Medizinalper-
sonal und den Aufbau eines selbstständigen,
kompetenten, lokalen Versorgungsnetzwerks.
KATHARINA ROTH
Die 109 km2 grosse Insel Rodrigues ist vulkanischen Ursprungs, umgeben von einem zirkulären Korallenriff (Atoll). Die zentrale Erhöhung (398 m hohes Karstgebirge) wurde einst abgeholzt, besteht heute aus kargem Weideland und fällt auf allen Seiten gegen das Meer ab. Die einzelnen Dörfer am Meer sind nur über die zentrale Erhebung erreichbar. Die Vegetation in den tieferen Lagen ist tropisch. Der Strand ist absolut sauber, Plastik ist auf der Insel verboten. Die Verkehrswege wurden in den letzten Jahren gut ausgebaut. Der öffentliche Verkehr beschränkt sich auf einige Busse. Hauptproblem für die Insel ist die Versorgung mit sauberem Wasser während der Trockenperioden. Die Insel hat 41 669 Einwohner, fast ausschliesslich Kreolen (Nachfahren der Seefahrer und afrikanischen Sklaven) – ein fröhlicher und lebensfreudiger Menschenschlag. 50 Prozent der Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt. Politisch ist die Insel seit 2002 autonom, wirt-
Abbildung 1: Tropische Inselküste von Rodrigues
schaftlich aber vollständig von Mauritius abhängig. Die Administration der Insel obliegt einem Chief Commissioner. Eine Industrie fehlt. Je ein Drittel der Bevölkerung arbeitet als Fischer innerhalb des Atolls, in der Landwirtschaft sowie als Beamte; so verfügt die Insel etwa über 1000 Polizisten.
Versorgungssituation vor Ort
Von den 30- bis 74-jährigen Inselbewohnern haben 20,6 Prozent einen Diabetes Typ 2, davon 41 Prozent mit sehr hohen HbA1c-Werten (> 9,0%). 50 Prozent von ihnen wissen nichts von ihrer Diabeteserkrankung. Man rechnet mit über 2000 Diabetesfällen. Der Anteil an Diabetes in der Bevölkerung ist damit mehr als doppelt so hoch wie in der Schweiz. Als Ursachen werden eine Anpassung der genetisch vorbelasteten Bevölkerung an den westeuropäischen Lebensstil sowie die Unwissenheit über die Krankheit und ihre Folgen vermutet. Daneben sind Übergewicht (30%), Hypertonie (40%) und Alkoholabusus (5%) sehr verbreitet. Auf der Insel gibt es in der Hauptstadt Port Mathurin ein Spital, meist ohne ansässigen Chefarzt. Die Ärzte und
Spezialisten werden monatsweise von Mauritius geschickt, Motivation und Konstanz fehlen. Daneben werden 3 bis 4 Gesundheitszentren verteilt auf der Insel von Krankenschwestern geführt. Zirka 15 «young doctors» sind in Ausbildung in Mauritius. Turnusgemäss arbeiten sie im Spital auf der Insel. Eine Spezialarztausbildung können sie nur in China oder Südafrika erhalten. Es gibt keine niedergelassenen Rodriguer Ärzte.
Das Schweizer Hilfswerk
Anstoss für die Gründung eines Hilfswerks war die Rodriguerin Noëlaineza Augustin-Bearda, die in Rodrigues aufgewachsen ist und dort in der Verwaltung gearbeitet hat. Selbst von Diabetes betroffen, lebt sie nun seit mehreren Jahren, verheiratet mit einem Schweizer, in der Nähe von Baden. Ihre Schilderungen der Verhältnisse auf der Insel anlässlich einer Konsultation beim Endokrinologen Dr. Lukas Villiger fanden ein offenes Ohr. So gründeten beide im Oktober 2012 auf der Insel zusammen mit einem lokalen Politiker die Nichtregierungsorganisation (NGO) Diabetic pro, bestehend aus «young doctors»
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trägen von den Rotary Clubs Baden und Knonaueramt. Das Geld wird vorwiegend für die Reisespesen des Teams sowie für die Miete und Ausstattung eines Büros für Diabetic pro in der Hauptstadt verwendet. Alle Schweizer arbeiten ehrenamtlich, Materialkosten fallen kaum ins Gewicht (Blutdruckapparate, Blutzuckermessgeräte, Teststreifen und Büromaterial).
Abbildung 2a: Geduldiges Anstehen für den Screening Day
Screening,
Aufklärung und Prävention
Mit speziellen Sport- und Tanzanlässen wird jährlich ein anderes Gebiet der Insel besucht und die Bevölkerung über Diabetes, Prophylaxe, Symptome und Behandlung informiert. Die Menschen werden erfasst und auf Hyperglykämie und Hypertonie sowie Übergewicht und Lifestyle getestet. Am ersten Screening Day 2013 wurden 300 Personen untersucht und 50 neue Diabetesfälle entdeckt. Dieses Jahr liessen sich fast 800 Personen kontrollieren und beraten, nur vereinzelt wurde ein Diabetes neu aufgedeckt, da die Bevölkerung heute viel besser orientiert ist. Zur Prävention wurden zwischenzeitlich viele Sport- und Tanzvereine gegründet.
Abbildung 2b: Bewegungsanimation für die ganze Bevölkerung am Screening Day
(Ärzte in Ausbildung), Pflege- und anderem Spitalpersonal, mit dem Ziel, die Diabetesbetreuung auf der Insel zu verbessern. Im August 2013 wurde von Lukas Villiger, seiner Praxismanagerin Franziska Svensson und der Rodriguerin das
Hilfswerk Rodrigues – Das Schweizer Diabetes Hilfswerk für die Insel Rodrigues
Präsidentin: Dr. med. Isabelle Fuss, Baden Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin
Kontakt: Schweizer Diabetes Hilfswerk für die Insel Rodrigues c/o Franziska Svensson Baldeggstrasse 27 5400 Baden E-Mail: info@hilfswerk-rodrigues.ch Internet: www.hilfswerk-rodrigues.ch
Hilfswerk gegründet und die Insel erstmals von einem Spezialistenteam aus der Schweiz besucht. Vor Ort erhielt das Hilfswerk von der Regierung den langfristigen Auftrag, sich für eine Verbesserung der Diabetesbetreuung einzusetzen. Das Hilfswerk ist inzwischen ein registrierter Verein mit einem fünfköpfigen Vorstand sowie 47 Aktiv- und 24 Passivmitgliedern. Jährlich wurde die Insel für zehn Tage von einem Team aus acht bis zwölf Spezialisten (Endokrinologen, Kinderendokrinologin, Internistin, Psychiater, Diabetesberaterinnen, Ernährungsberaterinnen, Podologen und Administratorin) besucht. Dieses Jahr fand im Mai die fünfte Reise statt. Finanziell lebt die Stiftung von den bescheidenen Beiträgen der Mitglieder, einigen Sponsoren aus der Pharmaindustrie sowie den ansehnlichen Bei-
Ausbildung von medizinischem
Personal vor Ort
Seit 2014 werden sogenannte Agents de santé ausgebildet. Überwiegend bildet das Schweizer Team die Menschen vor Ort aus. Jedes Dorf stellt eine Person (meist Frauen in mittlerem Alter mit Grundschulbildung), welche bei gesundheitlichen Problemen erste Ansprechperson im Dorf ist. Diese Agents de santé können korrekt Blutdruck und Blutzucker messen und kennen die Normalwerte, die Symptome des Diabetes und die Sofortmassnahmen bei Hypoglykämie. Sie weisen die Patienten entweder in die Sprechstunden von Diabetic pro oder ins Spital weiter und führen gewissenhaft Buch über ihre Messungen und Massnahmen. Bisher wurden zwischen 40 und 50 Laien ausgebildet. Die medizinisch und paramedizinisch gebildeten Mitglieder von Diabetic pro werden auf ihrem Niveau in Diabetologie geschult. Sie betreuen ganzjährlich Patientengruppen auf der ganzen Insel und sind die Ansprechpartner in allen Diabetesfragen (Medikamente, Insulin, Spritztechnik, Kontrollen, Essgewohnheiten, Lifestyle).
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Abbildung 3: Dr. Daniel Zimmermann erklärt den Agents de santé korrektes Blutzuckermessen.
schen Podologen ausgebildet und konnten ein entsprechendes staatlich anerkanntes Diplom entgegennehmen. Auch eine initiative mauritianische Ernährungsberaterin ist neu mit im Boot und natürlich bestens mit den Verhältnissen auf der Insel vertraut. Das Schweizer Team betreut unter der Leitung der Basler Kinderendokrinologin Dr. Beatrice Kuhlmann die 15 registrierten Kinder mit Diabetes Typ 1, immer in Anwesenheit von Diabeticpro-Mitgliedern. Diese Kinder waren früher wegen der Angst vor einer Hypoglykämie von jeglicher sportlicher Aktivität ausgeschlossen. Eltern und Kinder werden in allen Belangen intensiv geschult und zur Selbstständigkeit angeleitet. Sie sind heute integriert und haben eine normale Lebenserwartung (früher 20 Jahre!).
Abbildung 4: Beratung und Schulung von Eltern und Kindern mit Diabetes Typ 1
Diabetic pro – ein gut
funktionierendes Netzwerk
Diabetic pro ist der wichtigste Partner unseres Vereins. In den letzten fünf Jahren haben die Mitarbeiter der Organisation ein gutes Netzwerk auf der ganzen Insel aufgebaut und eigene Aktivitäten entwickelt. Sie werden vom Schweizer Team vor allem auch in der Wissensvermittlung geschult (teach the teacher), und die Bevölkerung und besonders die Diabetesbetroffenen haben grosses Vertrauen zu den Mitarbeitern gefasst. Bei unseren Besuchen fungieren sie zudem als Dolmetscher, weil die einfache Bevölkerung nur kreolisch spricht und kein Französisch versteht. Seit einem Jahr führen sie ein Büro in der Hauptstadt mit eigener Sekretärin und Internetanschluss. Der Kontakt zum Verein
und zu den einzelnen Personen des Teams ist sichergestellt, sodass wir bei der Reisevorbereitung ihre Probleme und Wünsche berücksichtigen können. In den ersten Jahren wurde viel Zeit in die Ausbildung der jungen angehenden Ärzte investiert. Die Rodriguer Ärzte wurden dazu für die Schulungswoche aus Mauritius eingeflogen. Da die Ausbildung für diese Ärzte vor allem in Mauritius erfolgt und sie nicht freigestellt werden, wenn sie in Rodrigues arbeiten (Ärztemangel), haben wir dieses Jahr die wenigen Anwesenden individuell betreut. Wir hoffen natürlich, dass sich von den ursprünglich 15 Kandidaten einige nach der Ausbildung auf der Insel niederlassen werden. Neu wurden 2017 zwei Mitglieder von Diabetic pro durch einen mauritiani-
Fortschritt und Ziel
In den letzten fünf Jahren konnten rele-
vante Fortschritte erzielt werden. Die
Inselbevölkerung hat Vertrauen in
unser Hilfswerk und Diabetic pro ge-
fasst und besucht rege die Screening-
Anlässe. Die Agents de santé arbeiten
sehr gewissenhaft in ihren Dörfern und
sind stolz auf ihre neu erworbenen
Kompetenzen. Diabetic pro hat Eigen-
initiative entwickelt, führt die Patien-
tengruppen selbstständig, organisiert
die Screening Days und betreibt ganz-
jährig ein Büro mit Sekretärin für Kon-
sultationen und Versammlungen.
Endziel ist eine gute Diabetespräven-
tion und -betreuung auf der Insel in den
Händen von Diabetic pro (unabhängig
von unserem Verein). Alle Typ-1-Dia-
betiker sind erfasst und behandelt mit
Vermeidung von Spätfolgen. Alle Typ-
2-Diabetiker werden im Netzwerk von
Diabetic pro betreut und haben Zu-
gang zu Informationen, Schulung und
Behandlung. Das Fundraising erfolgt
durch den Staat oder eine lokale Insti-
tution. Wir hoffen, dass sich ausgebil-
dete «young doctors» auf ihrer Hei-
matinsel niederlassen wollen.
O
Dr. med. Katharina Roth
Fachärztin für Kinderchirurgie FMH Vorstandsmitglied Hilfswerk Rodrigues (Sponsoring und Administration) Sonnhalde 5a 5400 Baden Tel. 056-222 15 55 / 079-631 30 05 E-Mail: katharinaroth@bluewin.ch
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