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BERICHT
Keine Hypertoniediagnose ohne 24-Stunden-Blutdruckmessung
Foto: KD
Diagnose und Einstellung der Hypertonie halten einige Fallstricke bereit. So können einerseits übertriebene Nervosität und andererseits eine völlige Entspannung des Patienten die Messwerte verfälschen und damit zu Über- oder Unterdiagnosen führen. Dr. med. Thilo Burkard vom Universitätsspital Basel gab an der medART in Basel viele aufschlussreiche Tipps.
Klaus Duffner
In einer Kohortenstudie aus Lausanne wurde bei über 6000 Personen aus der Bevölkerung im Alter zwischen 35 und 75 Jahren der Blutdruck kontrolliert und abgefragt, ob ihnen das Vorliegen eines eventuellen eigenen Bluthochdrucks bekannt sei (1). Es zeigte sich, dass ein gutes Drittel (36%) der Studienteilnehmer unter Hypertonie litt (> 140/90 mmHg), jedoch knapp die Hälfte (39%) dieser Betroffenen nichts von ihrem Befund wusste. Von denjenigen, deren Hypertonie bekannt war, befand sich nur die Hälfte im anvisierten Zielbereich. «Das bedeutet, wir haben einerseits eine gewisse Unterdiagnose und andererseits, trotz der medikamentösen Verbesserungen der vergangenen Jahre, noch viele nicht adäquat eingestellte Patienten», sagte Dr. Thilo Bur-
kard, Abteilung Kardiologie, Universitätsspitals Basel, an der diesjährigen medART in Basel.
Problem «Weisskittelhypertonie»
Trotzdem zeigen viele Studien, dass die Messwerte in der Arztpraxis durch die Nervosität der Patienten häufig verfälscht sind. So können gemäss einer Studie bei 5 bis 65 Prozent der Patienten die erhöhten Praxisblutdruckwerte nicht bestätigt werden (2). Der Goldstandard für eine korrekte Hypertoniediagnose sei daher die 24-Stunden-Messung, so Burkard. Auch die Heimmessung (z.B. morgens und abends über eine Woche) erweise sich bei manchen Patienten als deutlich weniger anfällig als die Praxismessung (Tabelle 1). Die Leitlinien des britischen NHS (Natio-
Tabelle 1:
Definition der Hypertonie gemäss in der Praxis und ambulant gemessenen Blutdruckwerten
Kategorie
Systolischer Blutdruck (mmHg)
Praxis-Blutdruckmessung ≥ 140
24-h-Blutdruckmessung Tag (oder wach) Nacht (oder Schlaf) 24-h-Gesamtdurchschnitt
≥ 135 ≥ 120 ≥ 130
Heim-Blutdruckmessung
≥ 135
und
und/oder und/oder und/oder und/oder
Diastolischer Blutdruck (mmHg)
≥ 90
≥ 85 ≥ 70 ≥ 80 ≥ 85
Dr. med. Thilo Burkard
nal Health Service) empfehlen bei einer Praxis- beziehungsweise Spitalmessung von mehr als 140/90 mmHg eine zweite Messung während der Konsultation. Der niedrigere Wert der beiden gilt dann als der «offizielle» Blutdruckwert. Falls die zweite Messung substanzielle Unterschiede zur ersten zeigt, soll eine dritte Messung durchgeführt werden. Weise ein Patient Werte von mehr als 180/110 mmHg in der Praxis auf, sei die Wahrscheinlichkeit – Nervosität hin oder her –, dass er tatsächlich unter einer Hypertonie und nicht unter einer Weisskittelhypertonie leide, sehr hoch, erklärte Burkard.
Tiefenentspannt die Hypertonie verpasst Auf der anderen Seite gebe es Patienten, die sich in der Praxis so entspannen könnten, dass ein eigentlich zu hoher Blutdruck plötzlich im Normbereich liege und damit verpasst werde. Um diesem Phänomen nachzugehen, wurden in Basel 528 vorgeblich gesunde
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Tabelle 2:
Womit behandeln?
Klinische Situation
Asymptomatische Endorganschäden: O linksventrikuläre Hypertonie O asymptomatische Atherosklerose O Mikroalbuminurie O renale Dysfunktion
Medikamentenklasse
ACE-I, ARB, Ca-Antagonist Ca-Antagonist, ACE-I ACE-I, ARB ACE-I, ARB
Manifeste Erkrankungen:
O Status nach Stroke
keine spezifische Empfehlung
O Status nach Myokardinfarkt
BB, ACE-I, ARB
O Angina pectoris
BB, Ca-Antagonist,
O Herzinsuffizienz
Diuretika, BB, ACE-I, ARB, MCRA
O Aortenaneurysma
BB
O Vorhofflimmern, Prävention
ARB, ACE-I, BB, MCRA
O Vorhofflimmern, Frequenzkontrolle
BB, Ca-Antagonist (Nicht-Dihydropyridine)
O schwere Niereninsuffizienz
ACE-I, ARB
O periphere arterielle Verschlusskrankheit ACE-I, Ca-Antagonist
Andere Situationen: O isolierte systolische Hypertonie O metabolisches Syndrom O Diabetes mellitus O Schwangerschaft O afrikanische Abstammung
Diuretika, Ca-Antagonist ACE-I, ARB, Ca-Antagonist ACE-I, ARB Methyldopa, BB, Ca-Antagonist Diuretika, Ca-Antagonist
ACE-I: «Angiotensin-converting-enzyme»-Inhibitor, ARB: Angiotensinrezeptorblocker, Ca: Kalzium, BB: Betablocker, MCRA: Mineralokortikoidrezeptorantagonist
Erhöhter Blutdruck in der Praxis oder hohes kardiovaskuläres (CV) Risiko Baseline
ABPM normal
ABPM moderat erhöht
ABPM signifikant erhöht
Alle Blutdruck(BD)-Werte normal Tag: < 135/85 mmHg + Nacht: < 120/70 mmHg + 24 Stunden: < 130/80 mmHg BD höher als normal Tag: < 155/95 mmHg + Nacht: < 140/80 mmHg + 24 Stunden: < 150/90 mmHg BD deutlich erhöht Tag: > 155/105 mmHg + Nacht: > 140/80 mmHg + 24 Stunden: > 150/90 mmHg
Lebensstilmodifikation und Reduktion anderer Risikofaktoren
Überprüfung der Behandlung, speziell bei hohem
CV-Risiko
Beginn beziehungsweise Intensivierung der Behandlung
jährliche ABPM
6-monatliche ABPM nach Beginn der Behandlung, ansonsten 12-monatlich
1- bis 2-monatliche ABPM, bis ABPM normal ist, danach 6-monatlich
Abbildung: Handhabung der ambulanten Blutdruckmessung (ABPM) beim Allgemeinpraktiker (5)
Patienten einer 24-Stunden-Messung unterzogen (3). Tatsächlich war bei rund 4 Prozent von ihnen ein dauerhaft erhöhter Blutdruck von über 140/90 mmHg zu beobachten – auf die Population hochgerechnet sei das «also gar kein so seltenes Phänomen», so Burkard. Seine Schlussfolgerung: Zumindest bei Menschen mit positiver Familienanamnese, Diabetes oder anderen relevanten kardiovaskulären Risikofaktoren sowie bei Werten zwischen 130 und 140 mmHg sollte über eine 24-Stunden-Blutdruckbestimmung nachgedacht werden, um eine maskierte Hypertonie auszuschliessen. Die Blutdruckmessungen selbst werden je nach Land und Guideline sehr unterschiedlich gehandhabt (4). Hinzu kommt eine Menge potenzieller Fehlerquellen. Werde beispielsweise der Arm während der Messung nicht auf Herzhöhe gelagert, seien 1,6 mmHg Differenz pro Zentimeter Abweichung möglich, sagte der Kardiologe. Auch durch ein Gespräch mit dem Patienten während der Messung könne der Blutdruck um 20 Prozent ansteigen. Schliesslich führe eine falsche Manschettengrösse zu einer Überschätzung des Drucks um 10 bis 50 mmHg.
Blutdrucksenkung:
Lieber Spatz oder Taube?
Bekanntlich bewirkt eine Blutdrucksenkung um 10 mmHg eine etwa 20prozentige relative Risikoreduktion. Dieser Effekt ist bis zu einem systolischen Blutdruck von 130 mmHg nachweisbar, Werte darunter zeigen keinen so starken Nutzen. Bei stabiler koronarer Herzkrankheit führt eine Senkung auf Werte unter 120/70 mmHg sogar zu einer Zunahme kardiologischer Ereignisse, also genau zum Gegenteil dessen, was mit der Behandlung beabsichtigt worden ist. Insgesamt müsse bei einer antihypertensiven Therapie stets zwischen dem kardiovaskulären Nutzen und möglichen Nebenwirkungen abgewogen werden. Während der Nutzen einer Blutdrucksenkung in einer linearen Kurve ansteigt, erhöhen sich die Risiken für unerwünschte Nebenwirkungen mit zunehmender Medikation verhältnismässig stärker. Daher solle man, wenn sich Patienten schon nahe am Zielbereich befänden, gut abwägen, ob eine noch schärfere Einstellung wirklich notwendig sei, so Burkard.
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Allgemeine Therapieziele der Blutdrucksenkung
O Blutdruckziel generell: < 140/90 mmHg
O alte Patienten: < 150/90 mmHg
O Vorsicht bei koronarer Herzkrankheit (KHK) und diastolischen Werten < 60 mmHg
Stärkere Nebenwirkungen gehen bekanntlich oft mit Adhärenzproblemen einher, und damit könnte die gesamte Therapie infrage gestellt sein. Daher müsse man sich bisweilen zwischen dem «Spatz in der Hand» oder der «Taube auf dem Dach» entscheiden.
Womit behandeln? Wichtige Massnahme bei einer Hypertonie sind Veränderungen des Lebensstils. Dazu gehören gesunde Ernährung (u.a. salzarm essen) und gegebenenfalls Gewichtsreduktion. Zur medikamen-
tösen Behandlung stehen, je nach klinischer Situation, verschiedene Substanzklassen (ggf. in Kombination) zur Verfügung (Tabelle 2). Wenn Patienten mehr als 20 mmHg vom Zielbereich entfernt seien, sei dieses Ziel mit einer Monotherapie kaum zu erreichen, so Burkard. Überhaupt sei mit einer Steigerung der Dosierung bei Monotherapie relativ wenig herauszuholen. So führt die Dosisverdoppelung eines modernen, potenten ACE-(angiotensin-converting enzyme-)Hemmers nur zu einer weiteren Blutdruckverminderung von 12 mmHg/24 h auf lediglich 13 mmHg/24 h. Die Kombination zweier unterschiedlicher Medikamentenklassen in kleiner Dosis bewirke hingegen einen additiven Effekt. Gleichzeitig ziehe die Verdoppelung der Dosierung einer Substanz die Verdoppelung von Risiken und Nebenwirkungen nach sich, so der Basler Spezialist – ein Grund mehr, lieber Kombinationen in tiefer Dosierung zu verwenden. Um den Behandlungsfortschritt zu kontrollieren,
wird gemäss einem neuen Algorithmus
(Abbildung) vorgeschlagen, zu Beginn
einer antihypertensiven Therapie alle
ein bis zwei Monate eine 24-Stunden-
Messung durchzuführen. Die Medi-
kation sollte entsprechend nachjustiert
werden, bis der Patient den gewünsch-
ten Zielwert erreicht hat (5).
O
Klaus Duffner
Literatur: 1. Danon Hersch N et al.: Prevalence, awareness, treat-
ment and control of high blood pressure in a Swiss city general population: the CoLaus study. Eur J Cardiovasc Prev Rehabil 2009; 16(1): 66–72. 2. Piper MA et al.: Diagnostic and predictive accuracy of blood pressure screening methods with consideration of rescreening intervals: a systematic review for the U.S. Preventive Services Task Force. Ann Int Med 2015; 162(3): 192–204. 3. Burkard T et al.: Missed arterial hypertension by office blood pressure measured according to the NICE 2013 guidelines. Results from the iPARR trial. Poster presentation, ESH congress, Milan 2017. 4. Holland M, Lewis PS: An audit and suggested guidelines for in-patient blood pressure measurement. J Hypertens 2014; 32(11): 2166–2170. 5. Dolan E, O’Brien E: How should ambulatory blood pressure measurement be used in general practice? J Clin Hypertens 2017; 19(3): 218–220.
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