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FORTBILDUNG
Reizdarmsyndrom: Diätetische Therapie im Fokus
Beim Reizdarmsyndrom spielt die richtige Ernährung eine grosse Rolle. Denn Patienten mit Darmerkrankungen können sehr empfindlich reagieren, wenn sie bestimmte Nährstoffe nicht vertragen. An erster Stelle der Therapie sollten deshalb diätetische Massnahmen stehen. Hier helfen unterschiedliche Ernährungsstrategien weiter, wie die FODMAP-reduzierte Nahrung beziehungsweise die Vermeidung von Weizenprodukten.
Das Reizdarmsyndrom (RDS) ist charakterisiert durch Bauchschmerzen, die mit Stuhlgangveränderungen einhergehen. Die Definition des RDS ist symptombezogen. Zurzeit sind die ROM-IV- beziehungsweise die deutschen Definitionen gültig. Nach der deutschen S3-Leitlinie müssen drei Kriterien erfüllt sein: O einzelne oder kombinierte chronische (> 3 Monate) Darm-
symptome O relevante Einschränkung der Lebensqualität O keine andere im Rahmen der klinischen Untersuchung er-
hobene Ursache/Erkrankung für die Beschwerden.
Thomas Frieling
Kasuistik Eine 52-jährige Patientin berichtet über wechselnde krampfartige Bauchschmerzen, die erstmals nach einer Gastroenteritis auftraten und nun seit über zehn Jahren andauern. Sie klagt zudem über Völlegefühl, Blähungen und Übelkeit. Die Beschwerden werden teilweise durch die Nahrung verschlimmert. Nachts ist sie beschwerdefrei. Die Patientin wurde bereits mehrfach gastroskopiert und koloskopiert, immer ohne auffälligen Befund. Die körperliche Untersuchung ist unauffällig. Das Basislabor (BB, BSG, CRP, Urinstatus), die Abdomensonografie und die gynäkologische Untersuchung ergeben einen Normalbefund. Es fehlen Alarmsymptome (kurze Anamnese, Gewichtsverlust, Blut im Stuhl, nächtliche Beschwerden). Die Patientin hatte zwei vaginale Geburten. Vorerkrankungen liegen nicht vor, ebenso wenig Hinweise auf andere Erkrankungen.
MERKSÄTZE
O Beim Reizdarmsyndrom sollte die Diätetik immer an vorderster Stelle der Behandlung stehen.
O Es können unterschiedliche Ernährungsstrategien angewendet werden. Diese umfassen die laktose-, fruktose- oder sorbitreduzierte Kost, die Elimination von histaminhaltigen Speisen, die FODMAP-reduzierte Nahrung beziehungsweise die Vermeidung von Weizenprodukten.
O Im Einzelfall kann durch Zugabe von verschiedenen Nahrungskomponenten eine individuelle Diät entwickelt werden.
Zu den Besonderheiten der neun Definitionen des RDS – im Vergleich zu den ROM-IV-Kriterien – zählen: Eine Assoziation zu Stuhlgangveränderungen ist nicht mehr obligat, die Lebensqualität wird angeführt, und eine Koloskopie beziehungsweise eine gynäkologische Untersuchung zur Diagnosesicherung ist erforderlich. Diese Kontrollen sind notwendig, da die Beschwerden bei einem Kolonkarzinom beziehungsweise gynäkologischen Tumor im Anfangsstadium nicht von RDS-Symptomen differenziert werden können. In etwa 10 Prozent der Fälle tritt das RDS nach einer Gastroenteritis auf und wird als postinfektiöses RDS (PI-RDS) charakterisiert. Typisch für das RDS sind das Fehlen von Alarmsymptomen, das Vorliegen einer langen Anamnese und von beschwerdefreien Intervallen beziehungsweise von weiteren körperlichen beziehungsweise seelischen Symptomen.
Fallbeispiel – weiterer Verlauf
Der Patientin werden die möglichen Ursachen ihrer Beschwerden erklärt, wobei ausdrücklich betont wird, dass das RDS eine organische Erkrankung mit unterschiedlichen Pathophysiologien ist. Hierbei finden sich unter anderen Veränderungen im enterischen Nervensystem (Bauchhirn), im enterischen Immunsystem beziehungsweise eine veränderte Reizwahrnehmung durch Störungen der reizaufnehmenden Nerven, eine gestörte Interaktion zwischen dem Kopfhirn und dem Bauchhirn beziehungsweise eine veränderte Signalverarbeitung im Gehirn.
Organisch statt funktional
Heute ist durch zahlreiche grundlagenwissenschaftliche Arbeiten belegt, dass das RDS eine organische Erkrankung ist. Trotzdem wird das RDS häufig immer noch als funktionelle Darmerkrankung beschrieben. Dies suggeriert, dass das RDS eine «eingebildete Erkrankung» ohne organische Korrelationen sei. Auch werden häufig organische und psychische
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Tabelle:
Häufigkeit von Nahrungsunverträglichkeiten
Nahrungsmittel Allgemein N-Allergie1 HIT/HIS2 Laktoseintoleranz Fruktosemalabsorbtion Sprue NCGS/NCWS3 FODMAP4
Normalbevölkerung 1,4–1,8% 0,5% 1% 20% 11–70%
Reizdarmsyndrom 20–65% 3,2% 10–25% 25–50% 40–80%
0,8% 0,55% 10–20%
2–4% 25–30% bis zu 70%
1 N-Allergie = atopisches RDS; 2 HIT/HIS = Histaminunverträglichkeit;
3 NCGS/NCWS = nicht zöliakiebedingte Glukosesensitivität;
4 FODMAP = F: fermentierbar, O: Oligosaccharide, D: Disaccharide,
M: Monosaccharide, A: and, P: Polyole.
nach [3]
Faktoren als vermeintliche Gegensätze begriffen, die sich mehr oder weniger ausschliessen, obwohl psychische Faktoren ebenfalls ein organisches Korrelat aufweisen. Ihre Manifestation oder Assoziation mit dem RDS ist mit einer veränderten Signalverarbeitung im Gehirn verbunden. Diese Sichtweise einer funktionellen Erkrankung ist also nicht mehr zutreffend. Der Patientin wird vermittelt, dass eine vollständige Beseitigung der Beschwerden durch eine Behandlung nicht zu erwarten ist. Vielmehr müssen verschiedene Therapiestrategien ausprobiert werden. Aufgrund der Nahrungsabhängigkeit ihrer Beschwerden wird ihr zunächst die Führung eines Ernährungstagebuchs über vier Wochen empfohlen. Die Patientin berichtet über eine vermehrte Empfindlichkeit gegenüber Milch und zuckerhaltiger Nahrung. Im Verlauf werden deshalb Wasserstoffatemtests zur Überprüfung einer Milchzucker-, Fruchtzucker- beziehungsweise Sorbitunverträglichkeit durchgeführt, die sämtlich unauffällig sind, das heisst, die Patientin entwickelt während der Zuckergabe keinen Anstieg der Wasserstoffkonzentration in der Atemluft und auch keine Beschwerden. Aufgrund der unauffälligen Atemtests erhält die Patientin im Verlauf eine Ernährungsberatung und Therapieversuche mit einer Gluten- beziehungsweise FODMAP-armen Kost über acht Wochen (FODMAP steht für: F: fermentierbar, O: Oligosaccharide, D: Disaccharide, M: Monosaccharide, A: and, P: Polyole). Hierunter gibt sie eine deutliche Besserung ihrer Beschwerden an.
Diätkonzepte
Viele Patienten mit RDS haben nahrungsabhängige Beschwerden. Auch nach Ausschluss einer Zöliakie (bei ca. 3% der RDS) können sie von einer glutenarmen Kost profitieren. Dieses Phänomen ist als Glutenempfindlichkeit beschrieben. Neuere Untersuchungen zeigen, dass nicht nur das Gluten, sondern auch andere Weizenbestandteile (Weizenempfindlichkeit) Beschwerden verursachen können. Das aktuelle FODMAP-Konzept umfasst auch die Gluten- beziehungsweise Weizenempfindlichkeit. FODMAP ist keine Diät aus naturphilosophischen, anthropologischen, alternativmedizi-
nischen Überlegungen (z.B. Atkins-Diät, Trennkost), sondern eine umfassende Hypothese aus Erfahrung mit der diätetischen Behandlung von Reizdarmpatienten und Patienten mit Kohlenhydratintoleranzen. Sie stellt daher eine umfassendere Hypothese einer Vergärung bestimmter chemisch definierter Zucker beziehungsweise Zuckeralkohole dar. Sie ist die zurzeit effektivste Therapie des RDS. Es wird heute davon ausgegangen, dass RDS-Patienten eine veränderte Darmflora haben können, die zu Funktionsstörungen und Beschwerden führt. Teilweise müssen unterschiedliche Probiotika versucht werden. Phytotherapeutika können im Rahmen einer «Multitarget»-Wirkungsweise gastrointestinale Funktionen und Symptome günstig beeinflussen.
Fallbeispiel: Fazit
Im Verlauf der Therapie wird die Diät der Patientin individualisiert. Verschiedene Nahrungsbestandteile unter Führung eines Ernährungstagebuchs werden ergänzt und getestet. Die Patientin stellt sich mehrmals wieder vor und berichtet über Restbeschwerden. Deshalb werden Phytotherapeutika und Probiotika eingesetzt. Das Ergebnis: Bei der Patientin liegt ein PI-RDS vor. Die Therapieziele wurden definiert. Verschiedene Therapiestrategien kamen systematisch zur Anwendung. An erster Stelle stand dabei die Ernährungstherapie.
RDS und Subgruppen
Neuere Untersuchungen zeigen, dass das RDS mit verschiedenen strukturellen, molekularen, genetischen, immunologischen, nervalen und psychosozialen Veränderungen assoziiert ist und aus unterschiedlichen pathophysiologischen Subgruppen besteht. Hierbei können Nahrungsbestandteile direkte Effekte auf das enterische Nerven- beziehungsweise Immunsystem im Darm oder indirekte Einflüsse über die Bakterienflora ausüben. Die Bakterienflora beziehungsweise Probiotika können über bakterielle Metabolite ebenfalls direkte Wirkungen auf sensorische Nervenendigungen, die epitheliale Barriere oder das Immunsystem im Darm erzeugen und hierdurch einen Status der nervalen Sensibilisierung beziehungsweise Aktivierung erlangen (2). Derzeit muss die Therapie des RDS, wie erwähnt, noch symptomorientiert erfolgen. Die Therapie stützt sich auf die drei Säulen Allgemeinmassnahmen/Diätetik, psychotherapeutische Behandlung/Entspannungsübungen und medikamentöse Therapie (1). Nahrungsfaktoren spielen beim RDS eine zunehmende Rolle. So geben Patienten mit funktionellen Beschwerden im Vergleich zu Gesunden überproportional häufiger nahrungsbedingte Symptome an (3) (Tabelle). Nahrungsinduzierte Beschwerden umfassen immunologische IgE-vermittelte und nicht immunologische Reaktionen wie Pseudoallergien, Enzymdefekte, toxische Effekte und seltenere Reaktionen wie die nahrungsabhängige, belastungsinduzierte Anaphylaxie. Hinweise auf eine Nahrungsallergie sind eine allergische Diathese, begleitende nahrungsinduzierte Symptome wie Haut- und Schleimhautödeme, Urtikaria, allergische Rhinitis, allergisches Asthma und Kreislaufreaktionen. Die Blut- und Hautuntersuchungen (auf spezifische Blut-IgE-Antikörper, RAST- und Prick-Test) zeigen aber für die gastrointestinalen Nahrungsunverträglichkeiten eine nur geringe Sensitivität. Zusätzlich sollte immer eine Sprue durch
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Chronische Symptome ( 3 Monate) Einzeln/kombiniert
Schmerz/Blähungen/Obstipation/Diarrhö
Anamnese, klinische Untersuchung Labor, Abdomensonografie
Gynäkologische Untersuchung
Nachweisbare Krankheit
Nachweisbare Krankheit
Diagnostik (einschl. Koloskopie)
Unauffällig
Diarrhö
Symptome: Schwere, Dauer, Dynamik
Keine Diarrhö
Patient:
Alter, Persönlichkeit, Besorgnisgrad
Ernährungsanalyse und diätetische Therapie
Symptomatische
Diagnostik
Therapie1
(einschl. Koloskopie)
Versagen
Abbildung: Algorithmus der Diagnostik und Therapie des Reizdarmsyndroms nach (1)
Nachweisbare Krankheit
Antikörperbestimmung beziehungsweise Dünndarmbiopsien ausgeschlossen werden. Beim Erwachsenen stehen die nicht immunologisch vermittelten Nahrungsunverträglichkeiten im Vordergrund. Letztlich müssen die Nahrungsfaktoren individuell durch die Führung eines Ernährungstagebuchs und eine diagnostische Eliminationsdiät gesucht werden, in der über 1 bis maximal 4 Wochen 1 bis 2 potenzielle Nahrungsallergene getestet werden können. Wenn die Menge der unter Verdacht stehenden Lebensmittel grösser ist, kann auch eine oligoallergische Basisdiät mit Zusammenstellung aus 10 bis 20 Nahrungsbestandteilen, die selten eine allergische Reaktion auslösen, beziehungsweise eine Quasi-Nulldiät (Kartoffel-Reis-Diät) versucht werden. Im Anschluss an eine oligoallergische Kost kann man eine Aufbaukost mit stufenweiser Zufügung von Lebensmittelgruppen alle 2 bis 4 Tage vornehmen. Bei der sehr zeitaufwendigen Allergensuch- beziehungsweise Additionskost werden die potenziellen Nahrungsallergene schrittweise hinzugefügt. Schliesslich kann zuletzt eine orale Provokation der Nahrungsallergene, am besten in einer doppelblinden, plazebokontrollierten Nahrungsprovokation («double blind placebo controlled food challenge», DBPCFC), versucht werden. Bei nicht immunologischen Nahrungsunverträglichkeiten sollten Milchzucker-, Fruchtzucker- und Sorbitunverträglichkeit mittels Wasserstoffatemtests ausgeschlossen werden.
Vorgehen in der Praxis
Bei anamnestischen Hinweisen auf eine Nahrungsmittelunverträglichkeit sollte eine probatorische, gezielte Eliminationsdiät erfolgen (ggf. Ernährungstagebuch, vgl. Abbildung). Hauptnahrungsallergene in Europa sind Weizen, Milch, Ei, Soja, Nüsse und Meeresfrüchte. Bei den nicht immunologischen Nahrungsunverträglichkeiten stehen Laktose-, Fruktose- oder Sorbitunverträglichkeit und die Gluten- beziehungsweise Weizensensitivität im Vordergrund. Auch die Elimination von histaminhaltigen Lebensmitteln (z.B. Rotwein, Käse, Thunfisch) oder die Umstellung der Ballaststoffzufuhr auf lösliche und nicht blähende Ballaststoffe kann hilfreich sein.
Die Untersuchung von IgG-Titern auf Nahrungsmittelaller-
gene sollte nicht erfolgen, da Nahrungsallergien bei Erwach-
senen sehr selten sind und die Tests für den Gastrointestinal-
trakt eine nur geringe Sensitivität aufweisen (1). In einer ak-
tuellen Analyse publizierter Studien konnte gezeigt werden,
dass die Intervention bei Ballaststoffen einen klinischen Nut-
zen bei 70 Prozent der Untersuchungen bei der chronischen
Obstipation und bei 100 Prozent der Studien beim obsti-
pationsdominanten RDS aufwies. Untersuchungen mit
FODMAP-reduzierter Diät waren bezüglich aller Symptome
bei IBS (inflammatory bowel disease) bei allen und bei der
Obstipation bei 30 Prozent der auswertbaren Studien erfolg-
reich (4).
Ob diese einschneidende Diät wirklich besser ist als eine «ge-
sunde und ausgewogene Ernährung», bleibt abzuwarten. Sie
ist von Berufstätigen häufig schwierig umzusetzen und kann
zur Beeinträchtigung der Lebensqualität, zu Gewichtsverlust
und Mangelernährung führen. Aktuelle Untersuchungen zei-
gen uneinheitliche Ergebnisse (5, 6).
O
Prof. Dr. med. Thomas Frieling
Medizinische Klinik II
Allgemeine Innere Medizin mit Gastroenterologie,
Hepatologie, Neurogastroenterologie, Infektiologie,
Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin
HELIOS Klinikum Krefeld
D-47805 Krefeld
Interessenlage: Der Autor hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Literatur: 1. Layer P et al.: Irritable bowel syndrome: German consensus guidelines on definition, patho-
physiology and management. Z Gastroenterol 2011; 49: 237–293. 2. Theodorou V et al.: Effect of commensals and probiotics on visceral sensitivity and pain in
irritable bowel syndrome. Gut Microbes 2014; 5(3): 430–436. 3. Leiss O: Fiber, food intolerances, FODMAPs, gluten and functional gastrointestinal disorders
– update 2014. Z Gastroenterol 2014; 52: 1277–1298. 4. Rao SSC, Fedewa YS: Systematic review: dietary fibre and FODMAP-restricted diet in the ma-
nagement of constipation and irritable bowel syndrome. Aliment Pharmacol Ther 2015; 41: 1256–1270. 5. Cave J: Does a low FODMAP diet help IBS? Drug Ther Bull 2015; 53(8): 93–96. 6. Marsh A et al.: Does a diet low in FODMAPs reduce symptoms associated with functional gastrointestinal disorders? A comprehensive systematic review and meta-analysis. Eur J Nutr 2016; 55(3): 897–906.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt», 18/2016. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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