Transkript
Rezidivierende Infekte: Auch an primäre Immundefekte denken
Frühzeitige Diagnose erspart langen Leidensweg
BERICHT
Nach primären Immundefekten muss man suchen. Sie verbergen sich häufig hinter immer wiederkehrenden infektiösen Erkrankungen und langen Genesungsprozessen und erzeugen einen hohen Leidensdruck. Eine gezielte Behandlung mit Immunglobulinen kann erneute Infekte verhindern, die Lebensqualität und Lebenserwartung der Betroffenen heben und die weitere Inanspruchnahme von Spitaldienstleistungen vermindern.
Valérie Herzog
Weltweit leben etwa 6 Millionen Menschen mit einem primären Immundefekt (PID), bisher wurden rund 300 genetische Defekte des Immunsystems beschrieben (1). Kinder wie auch Erwachsene können von PID betroffen
Dr. med. Thomas Hauser Dr. med. Peter Jandus
sein. Dabei erhöhen genetische Veränderungen des Immunsystems die Anfälligkeit auf infektiöse Erkrankungen oder verzögern die Genesung von solchen. Ferner können die PID durch die Dysregulation des Immmunsystems zu Tumoren oder schweren entzündlichen Krankheiten führen. Immer wiederkehrende schwere Infektionen der oberen und unteren Atemwege wie Otitiden, Sinusitiden oder Pneumonien mit langwierigen Heilungsprozessen trotz Antibiotika können Zeichen eines PID sein. Sekundäre Immundefekte sind viel häufiger als primäre, sie können durch Infektionen (z.B. HIV), Tumoren, Medikamente, Mangelernährung sowie Darmerkrankungen entstehen. Bis zur Diagnose eines PID vergehen
meist Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome (2), die sich im Kindes- oder erst im Erwachsenenalter zeigen können. Aus Anlass der World-PI-Week vom 22. bis 29. April 2017 erläuterte Dr. Thomas Hauser vom IZZ Immunologie-Zentrum Zürich an der Medienkonferenz der Firma Shire typische Warnzeichen, die auf eine PID hinweisen können beziehungsweise die Vortestwahrscheinlichkeit dafür erhöhen: O zwei oder mehr neue Sinusitiden
innerhalb eines Jahres ohne Allergiebeschwerden O eine Pneumonie pro Jahr über einen Zeitraum von zwei oder mehreren Jahren hinweg O chronischer Durchfall mit Gewichtsverlust O rezidivierende virale Infekte (grippale Infekte, Herpes, Warzen, Kondylome) O rezidivierende tiefe Abszesse der Haut oder der inneren Organe O andauernde Pilzerkrankung der Haut oder anderswo O Entzündung durch opportunistische Bakterien (z.B. atypische Mykobakterien) O Immundefekte in der Familie.
Wichtig sind hierbei die Charakteristika der Infektionen, wie Häufigkeit, Schweregrad (invasive Infektion?), Erreger (gleiche? opportunistische?),
Verlauf (chronisch?) und verbleibender Schaden (z.B. Bronchiektasen). Bei diesen syndromalen Krankheitsbildern kann die Diagnose zwar aufgrund der Katamnese, der Symptomatik, der immunologischen Labortests und der Erregernachweise eingegrenzt werden, doch letztlich beweisend für einen bestimmten PID ist einzig die genetische Diagnose, so Hauser. Das variable Immundefektsyndrom (engl.: Common variable immunodeficiency, CVID) ist beim Erwachsenen der häufigste symptomatische Immundefekt. Etwa 10 Prozent sind familiär bedingt. Bisher konnte nur bei einer kleinen Minderheit eine kausale Genmutation vorgefunden werden. Seit 1999 ist die Überlebensrate von CVIDPatienten 20 Jahre nach Diagnose von 64 Prozent (3) auf etwa 80 Prozent (4) angestiegen, dies infolge früherer Erkennung und besserer Behandlung, das heisst der Prävention von Infekten und Komplikationen. Die auch heutzutage oft jahrelange Verzögerung der Diagnose ist für einen Grossteil der Morbidität verantwortlich.
Behandlung in zwei Schritten
Rezeptfreie Präparate zur Immunstärkung helfen bei diesen Patienten nicht, es besteht laut den Referenten auch bei immunkompetenten Menschen keine Evidenz für deren Wirkung. Die Therapie besteht aus verschiedenen Phasen. In einem ersten Schritt muss die akute Infektion so schnell und so gezielt wie möglich mit Antibiotika, Antimykotika oder Virostatika zurückgedrängt werden. In einem zweiten Schritt geht es darum, eine Prophylaxe zu etablieren mit dem Ziel, die Infektionsrate zu reduzieren, erklärte Dr. Peter Jandus, Service d’Immunologie et d’Allergologie, Hôpitaux Universitaires de Genève. Impfungen gegen respiratorische Erreger
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Ansprechpersonen bei PID
rosenfluh.ch/qr/ immunschwächeschweiz
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wie Streptokokken, Hämophilus influenzae Typ B (Hib) und Grippe sind hier empfohlen. Die Impfungen sollen wenn immer möglich erst im Rahmen der spezialisierten immunologischen Abklärung erfolgen, da ihnen als Modellantigene in der Diagnostik eine wichtige Rolle zukommt. Lebendvakzine hingegen dürfen bei PID nicht eingesetzt werden. Zur Anwendung kommen beim Immunglobulinmangel nach Abschluss der immunologischen Diagnostik und nach Ausschluss sekundärer Immundefekte Immunglobulinpräparate (Ig).
Die Ig-Substitutionstherapie reduziert nach 12 Monaten verglichen mit der Ausgangslage nicht nur die Infekt- und Komplikationsrate, sondern auch die gesundheitsbezogene Lebensqualität von PID-Patienten signifikant, wie eine Untersuchung zeigte (5). Die Therapie erfolgt entweder intravenös alle 3 bis 4 Wochen durch Fachpersonen mit einem Zeitaufwand von 1 bis 4 Stunden oder wöchentlich subkutan durch den Patienten. Der Zeitaufwand hier beträgt etwa 1 bis 2 Stunden pro Woche. Die Verabreichungsart ist abhängig von der Zuverlässigkeit und den Vorlieben des Patienten. Schwere Nebenwirkungen treten subkutan mit einer Häufigkeit unter 1 Prozent auf, milde lokale Nebenwirkungen wie Schwellung, Erythem und Schmerz sind mit der Zeit abnehmend. Auch bei adäquater Behandlung sind lebenslang regelmässige Verlaufskontrollen angezeigt, denn im Lauf der Zeit können vielfältige Komplikationen auftreten. Im Auge behalten werden müssen Organschäden (z.B. Lunge), Tumorbildung, inflammatorisch autoimmune
Erkrankungen (z.B. Kolitis, Granuloma-
tose, Arthritis, Thrombopenie, hämo-
lytische Anämie, Asthma, Ekzeme).
In jedem Fall benötigen PID-Patienten
die Mitbetreuung durch spezialisierte
Fachärzte für Immunologie, so der
abschliessende Rat von Jandus und
Hauser.
O
Valérie Herzog
Quelle: Medienkonferenz der Firma Shire anlässlich der World-PI-Week vom 22. bis 29. April 2017 in Zürich.
Referenzen: 1. Bousfiha A et al.: The 2015 IUIS phenotypic classifi-
cation for primary immunodeficiencies. J Clin Immunol 2015; 35: 727–738. 2. Marschall K et al.: The Swiss National Registry for Primary Immunodeficiencies: report on the first 6 years’ activity from 2008 to 2014. Clin Exp Immunol 2015; 182: 45–50. 3. Cunningham-Rundles C et al.: Common variable immunodeficiency: clinical and immunological features of 248 patients. Clin Immunol 1999; 92: 34–48. 4. Resnick ES et al.: The many faces of the clinical picture of common variable immune deficiency. Curr Opin Allergy Clin Immunol 2012; 12: 595–601. 5. Routes J et al.: Health-related quality of life and health resource utilization in patients with primary immunodeficiency disease prior to and following 12 months of immunoglobulin G treatment. J Clin Immunol 2016; 36: 450–461.
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