Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Palliativmedizin in der Praxis
Delir – welchen Platz haben Neuroleptika?
Ein Roundtable-Gespräch mit Fachleuten aus Palliativ- und Hausarztmedizin, Geriatrie und Pflege
Nachdem die Autoren einer kürzlich publizierten Studie
(Kasten 1) zu dem Schluss gekommen sind, dass Neurolep-
tika bei Palliativpatienten möglicherweise mehr schaden
als nützen, stellt sich die Frage, ob eine bis anhin übliche
Behandlungsstrategie geändert werden muss. An einem
ARS-MEDICI-Roundtable in Basel diskutierten Dr. med. Heike
Gudat, Gabriela Schlegel, Prof. Dr. med. Reto W. Kressig,
Dr. Wolfgang Hasemann, PD Dr. med. Klaus Bally und
Dr. med. Markus Denger aus den Blickwinkeln der Pallia-
tiv- und Hausarztmedizin, der Geriatrie und der Pflege
über sinnvolle und weniger sinnvolle Behandlungsoptio-
nen bei Delir.
ARS MEDICI: Frau Dr. Gudat, müssen die Guidelines für die Behandlung von Delirpatienten nun geändert werden? Gudat: Es gibt gar keine Guidelines für die Behandlung von Delirpatienten in Palliativsituationen, und wie so oft in der Palliativ Care verwenden wir Medikamente häufig off-label. Studien gibt es kaum, und die Evidenz, vor allem in der Endof-Life Care, ist in ganz vielen Bereichen sehr klein und – falls vorhanden – auf einem niedrigen Evidenzniveau. Wir können in diesem Bereich eigentlich nur auf klinische Erfahrung zurückgreifen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Palliativpatienten eine sehr heterogene Population sind. Die individuellen Situationen sind sehr unterschiedlich, sei es vom Setting oder von den Diagnosen her. Es ist fast unmöglich, für jede einzelne Population eine Guideline zu erarbeiten. Wir stehen vor dem Problem, eine individualisierte und gleichzeitig standardisierte Therapie zu finden. Das gilt aber nicht nur für die Palliativmedizin.
Kasten 1:
Studie zu Neuroleptika bei Delir in der Palliativsituation
Die randomisierte, doppelt verblindete Studie wurde in Australien durchgeführt, an insgsamt elf Institutionen mit stationärer Palliativbehandlung. In die Studie aufgenommen wurden Personen mit einer fortgeschrittenen, unheilbaren Erkrankung und Delirsymptomen. Sie erhielten neben der üblichen nicht medikamentösen Betreuung für 3 Tage entweder Haloperidol, Risperidon oder Plazebo. Patienten < 65 Jahre erhielten als Startdosis 2 × 0,5 mg und danach 0,5 mg alle 12 Stunden; die Dosis konnte pro Gabe am Tag 1 um 0,25 mg erhöht werden, an den folgenden Tagen um 0,5 mg bis zu einer Maximaldosis von 4 mg/Tag. Patienten > 65 Jahre erhielten die halbe Dosis. Bei schweren Fällen von Halluzinationen und Unruhe wurde zusätzlich subkutan Midazolam gegeben.
Die Resultate von 247 Patienten wurden ausgewertet. Unter Haloperidol und Risperidon hatten die Patienten an Tag 3 mehr und stärkere Delirsymptome im Vergleich mit Plazebo. Patienten mit Neuroleptika benötigten auch mehr Midazolam. Extrapyramidale Symptome waren mit beiden Neuroleptika im Vergleich zu Plazebo häufiger. Das Mortalitätsrisiko war mit beiden Neuroleptika im Vergleich zu Plazebo erhöht, wobei nur der Unterschied zwischen Haloperidol und Plazebo statistisch signifikant war.
Agar MR et al.: Efficacy or oral risperidone, haloperidol, or placebo for symptoms of delirium among patients in palliative care: a randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2017; 177(1): 34–42.
Wie gehen Sie angesichts fehlender Guidelines vor, Herr Dr. Hasemann? Hasemann: Ich habe die Studie mit grossem Respekt gelesen, weil sie in einem namhaften Journal veröffentlicht wurde und die Erstautorin sozusagen eine Kollegin von mir ist; wir sind beide im Board der European Delirium Association. Ich war nicht nur auf das Resultat der Studie gespannt, sondern auch darauf, wie sie diese Studie durchführt hat. Weil ich mich in meiner Dissertation mit allen gängigen Screeninginstrumenten auseinandergesetzt habe, war dieser Punkt für mich besonders interessant: Wonach wurde denn in dieser Studie
gescreent, und wer hat gescreent? Und aus dieser Perspektive muss ich leider sagen, dass die Studie erhebliche Mängel hat, sodass sie nicht wirklich interpretierbar ist. Insofern ist diese Studie kein Grund, das bisherige Vorgehen zu ändern.
Wie sieht das bisherige Vorgehen aus, Herr Prof. Kressig? Kressig: Delir ist nicht gleich Delir. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt im Leben ein Delir auftritt, ist das Management sehr unterschiedlich. In diesem Sinn fand ich diese Studie zum Delir in der End-of-Life-Situation interessant zu lesen, zumal man versucht hat, dieses komplexe Thema mit dem
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Dr. med. Heike Gudat Chefärztin, Hospiz im Park, Arlesheim
Gabriela Schlegel
Qualitätsbeauftragte, Hospiz im Park, Arlesheim
Prof. Dr. med. Reto W. Kressig
Klinische Professur für Geriatrie, Universität Basel Ärztlicher Direktor, Felix-Platter-Spital, Basel
Dr. Wolfgang Hasemann Leiter Basler Demenz-Delir-Programm, Universitätsspital Basel
PD Dr. med. Klaus Bally
Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel
Dr. med. Markus Denger
FMH Allgemeinmedizin und Vorstandsmitglied Hospiz Aargau
Einschluss von relativ vielen Studienpatienten anzugehen. Dass es ein komplexes Thema ist, wissen wir seit Jahren, und wir versuchen ja auch seit Jahren, ein sinnvolles Management auf die Beine zu stellen.
«Delir ist nicht gleich Delir.»
Wir als Geriater im Spital haben uns allerdings vor allem auf Demenzerkrankte spezialisiert, die nicht am Lebensende stehen. Das sind zwei völlig unterschiedliche Situationen. Wir sehen das Delir oft im Rahmen einer Operation, die bei einem Demenzkranken gemacht wurde, der vielleicht gar nicht wusste, dass er demenzkrank ist – das ist fast die häufigste Situation in unserem Setting. Das postoperative Delir ist ein Hinweis auf eine mögliche Demenzerkrankung. Bezüglich der eingesetzten Substanzen in dieser Situation, wo die Lebenserwartung noch Jahre betragen kann, müssen wir andere Aspekte bedenken als in der Palliativmedizin – zum Beispiel
bezüglich der Nebenwirkungen. Die Lebensqualität und das Management der Situation im Sinne des Patienten stehen immer im Vordergrund, aber das sind in der palliativen Situation und hier bei uns zwei verschiedene Baustellen. Wir haben in der Geriatrie gelernt, dass Medikamente im Delir-Management gar nicht so wichtig sind. Ich bin ein grosser Fan der nicht medikamentösen Massnahmen und vor allem natürlich der Ausbildung unserer Mitarbeiter in der Früherkennung eines Delirs. Der Erfolg beruht meines Erachtens auf diesem umfassenden Paket aus Ausbildung und Training der Pflegefachpersonen, der Früherkennung und dann natürlich sofort der Ursachensuche und -bekämpfung. Falls medikamentöse Massnahmen doch nötig sind, handeln wir auch off-label. Wir hier in Basel verwenden Quetiapin, allerdings in «homöopathischen» Dosen von 5 mg. Die am niedrigsten dosierte Tablette im Handel enthält aber bereits 25 mg. Ich habe jetzt endlich einen Hersteller für diese 5-mgDosis gefunden, sodass man sie jetzt in der gesamten Schweiz beziehen kann (Kasten 2).
Kasten 2:
Bezugsquellen
Angehörigenbroschüre: https://www.rosenfluh.ch/qr/angehoerigenbroschuere
Quetiapin 5 mg: https://www.rosenfluh.ch/qr/quetiapin
Frau Schlegel, Sie haben eben gelächelt, als gesagt wurde, Medikamente seien gar nicht so wichtig. Was meinen Sie aus palliativpflegerischer Sicht dazu? Schlegel: Wenn wir Psychopharmaka anwenden, fragen wir uns häufig, inwieweit das den Patienten in der letzten Lebensphase nützt. Das ist manchmal ganz schwer zu erkennen. Je nach Einschränkung oder Stadium der Erkrankung können wir manchmal gar nicht mehr erkennen, worin der Nutzen eigentlich besteht. Besonders schwierig ist das beim stillen Delir. Für mich ist die Problematik der Relokalisation auch ein ganz wichtiger Aspekt. Wir beobachten sehr oft Probleme bei den
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Patienten, die zu uns ins Hospiz verlegt werden. Angehörige spielen dabei eine unglaublich wichtige Rolle. Meines Erachtens müssen die Angehörigen noch viel besser ins Boot geholt werden, besonders was die Aufklärung über den Zustand des Patienten betrifft. Ein gut aufgeklärter Angehöriger kann auch besser mit der plötzlich völlig veränderten Situation umgehen, den vertrauten Menschen von einer Minute auf die andere komplett anders zu erleben, als er ihn bisher gekannt hat – und dies zusätzlich zu der ohnehin grossen Belastung in der Rolle als begleitender Angehöriger eines Sterbenden. Wenn man bei den Angehörigen eine gewisse Sicherheit schafft, spielt das eine ganz grosse Rolle. Auch wir innerhalb des Palliativteams müssen uns immer darüber klar sein, was vor sich geht. Hier möchte ich mich Herrn Prof. Kressig anschliessen und ebenfalls betonen, dass die frühzeitige Erkennung eines Delirs sehr wichtig ist. Darum arbeiten wir ja auch ganz eng direkt am Bett des Patienten zusammen. Wir haben im Hospiz den Vorteil, dass unsere Ärzte immer ad hoc ansprechbereit sind. Hauptsächlich versuchen wir es mit Haldol®. Wir müssen aber häufig auch zu Dormicum® greifen, gerade wenn es eben nicht klappt mit der rechtzeitigen Aufklärung der Angehörigen und der Patient in einem hyperaktiven Delir ist – dann wird es schwierig. In so einer akuten Situation muss oft erst einmal für Ruhe gesorgt werden, und wir geben dem Patienten dann 1 oder 2 mg Dormicum®.
Bei Dementen in der nicht palliativen Situation verhält sich das aber anders, Herr Prof. Kressig? Kressig: Ich denke, dass Benzodiazepine beim Dementen eher kontraindiziert sind, weil sie natürlich eine Progression der Krankheit bewirken und wir ja alles versuchen, diese lädierten Hirnstrukturen so wenig wie möglich zu belasten. Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied zur palliativen Situation. Aber ich kenne das Dormicum® auch aus der Palliativmedizin, allerdings haben wir es sehr oft subkutan verwendet und konnten es dann auch über eine subkutane Infusion sehr gut steuern. Das sind wirklich zwei verschiedene Situationen, die Betreuung von Demenzkranken in der Geriatrie oder von Patienten in der Palliativsituation am Lebensende. Schlegel: Das ist in der Tat ein ganz wichtiger Punkt: Was ist das Ziel der Behandlung, und wie viel Zeit steht uns zur Verfügung, wie viel Lebenszeit wird erwartet? Wir wissen genau, dass die Dormicum®-Gabe oft ein «point of no return» ist, denn damit unterhalten wir das Delir. Es muss jedem klar sein, dass diese Massnahme in eine komplette Sedation mit Dormicum® münden kann. Ehrlicherweise müssen wir mit den Angehörigen vor der ersten Gabe darüber sprechen, und das ist schwierig. Ins Hospiz kommen Patienten mit einer ganz anderen Genese als in ein geriatrisches Spital. Stellen Sie sich zum Beispiel einen Patienten mit Tumorzellen in den Hirnhäuten vor, die eine schwere Unruhe verursachen. Das ist ein extremer Stress für alle Beteiligten, und man weiss, dass dieser Mensch vielleicht noch drei, vier Tage leben wird. Dann stellt sich die Frage, wie man diese Zeit gestaltet. Wie sollen und wollen die Angehörigen Abschied nehmen? Ohne Sedation oder in einer ruhigen Situation, in welcher auch der Patient einen geringeren Leidensdruck hat? Das sind ganz schwierige ethische Fragen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, dass in unterschiedlichen Settings auch unterschiedliche Ziele bestehen und alle
Massnahmen einen doppelten Effekt haben, einen positiven und einen negativen.
Wir haben jetzt viel über das Spital- und das Hospizsetting gesprochen. Wie sieht es bei den Patienten aus, die zu Hause leben. Womit ist ein Hausarzt konfrontiert? Bally: Eigentlich ist das Pflegeheim der Ort, an dem wir Hausärzte Delirien am häufigsten erleben. Im häuslichen Umfeld kommt das vergleichsweise selten vor, und dann sind auch die therapeutischen Möglichkeiten beschränkt, wenn keine entsprechende Überwachungsmöglichkeit gegeben ist. Das Pflegeheimsetting ist in diesem Zusammenhang wichtig. Gut 2000 Menschen leben allein in Basel-Stadt in einem Pflegeheim. Das sind definitionsgemäss vorwiegend Palliativpatienten mit einer durchschnittlichen Lebensprognose von zwei Jahren. Viele der Pflegeheimbewohner leiden unter einer Demenz; sie bilden bezüglich Delirrisiko ein hochvulnerables Kollektiv. Das Pflegeheim unterscheidet sich vom Hospizoder Spitalsetting dadurch, dass man in Ersterem über deutlich weniger Personal verfügt und dass dadurch die Möglichkeiten der Prävention, der Diagnostik oder der Therapie nicht die gleichen sind wie im Hospiz oder im Spital. Wenn es wie im vergangenen Winter in einem Pflegeheim mit 120 Bewohnern zu einer sich epidemisch ausbreitenden NorovirusInfektion kommt, besteht für viele Pensionäre ein hohes Risiko, bedingt durch den Flüssigkeitsmangel, ein Delir zu entwickeln. Man müsste gleichzeitig alle Betroffenen adäquat hydrieren, teilweise mittels Infusionen – da stösst man im Pflegeheimsetting rein personell an gewisse Grenzen. Natürlich geht es bei jedem Delir primär darum, die Ursache dafür zu erkennen. Im Pflegeheimsetting ist das oftmals nicht ganz einfach – denken Sie nur daran, wie schwierig es sein kann, einen Harnwegsinfekt, eine der häufigsten Delirursachen, bei einem Pensionär zu diagnostizieren, der unter einer Urininkontinenz leidet. Also verordnen wir immer wieder einmal probatorisch ein Antibiotikum in der Annahme, das Delir könnte durch einen Harnwegsinfekt entstanden sein. Ich überblicke jetzt 30 Jahre Pflegeheimalltag. Vor 30 Jahren haben wir sicher noch viel häufiger allein Neuroleptika zur Delirbehandlung eingesetzt; jetzt stehen aber die nicht medikamentösen Massnahmen im Vordergrund. Auch das Pflegepersonal ist entsprechend geschult. Die beste nicht medikamentösen Massnahme wäre freilich, dass ein Angehöriger 24 Stunden am Bett sitzt, die Hand hält und mit einer vertrauten Stimme zu dem Patienten spricht. Das ist im Alltag der meisten Familien kaum machbar. In einem Spital ist eine intensivere Betreuung vielleicht noch knapp möglich, weil man dort über mehr Personal verfügt. Aber im Pflegeheim ist das nicht möglich; die Bewohner verbringen dort oft, vor allem, wenn sie bettlägrig sind, den grössten Teil des Tages allein in ihrem Zimmer. Ich bin überhaupt nicht davon überzeugt, dass allein der Einsatz von Risperidon, Haloperidol und Quetiapin das Leiden der unter einem Delir leidenden Menschen wesentlich zu lindern vermag, aber in der Not setzen wir diese Medikamente ein, vor allem, wenn die Patienten agitiert sind und wenn sie sich selbst oder ihre Zimmernachbarn gefährden. Das ist bei uns die Indikation für den Einsatz dieser Medikamente – wenn es genügend Angehörige oder auch freiwillige Helfer gäbe, die ihre Zeit mit dem Patienten verbringen könnten, brauchten wir sicher weniger Neuroleptika.
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Welche präventiven Massnahmen gibt es, um ein Delir zu verhindern? Hasemann: Dazu gehört im Grunde alles, was das Wohlbefinden verbessert. Möglicherweise sind Ausscheidungsprobleme vorhanden, das können Blasen- oder Stuhldrang sein. Viel häufiger begünstigen Schmerzen die Delirentstehung. Wir sehen das nicht nur im operativen Bereich. Sehr häufig wird unterschätzt, dass jemand möglicherweise schon sehr lange an Arthrose leidet und dadurch Schmerzen hat. Im postoperativen Bereich sehen wir sehr häufig, dass an Demenz Erkrankte mit Schmerzmitteln unterversorgt sind, weil sie sich nicht entsprechend äussern können. Es kommt
«Wenn es genügend Angehörige oder auch freiwillige Helfer gäbe, die ihre Zeit mit dem Patienten verbringen könnten, brauchten wir sicher weniger Neuroleptika.»
dann sehr auf die Erfahrung und Intuition der Pflegefachperson an. Ein dementer Patient verlangt deutlich weniger Schmerzmittel als ein nicht kognitiv eingeschränkter. Unruhe könnte darum eher schmerzbedingt sein, auch das sehen wir sehr häufig. Wichtig ist auch eine Stressreduktion durch Schutz vor Reizüberflutung. Der Patient im Delir leidet unter einer Aufmerksamkeitsstörung. Sämtliche Informationen strömen ungefiltert auf ihn ein. Er kann nicht mehr unterscheiden, welche Information Priorität hat und welche nicht. Das überfordert und belastet. Wenn man dann eine Reizreduktion durchführt, entspannt man die Situation merklich.
Wie hat man sich so eine Reizreduktion vorzustellen? Hasemann: Indem wir den Betroffenen in ein kleineres, ruhigeres Zimmer bringen. Oder indem wir darauf achten, ob diffuse Lärmquellen wie Radio- oder Fernsehgeräte eingeschaltet sind, die man ausstellen kann. Oder auch, indem wir Besuchern sagen, dass sie nicht alle auf einmal kommen sollen, sondern dass ein bis zwei Personen besser sind als die ganze Familie zusammen. Kressig: Auch auf der Notfallstation im Spital verfolgen wir solche stressreduzierenden Strategien. Beispielsweise gibt es einen sogenannten «elderly friendly emergency room». Dort werden ältere, delirgefährdete Patienten bereits auf der Notfallstation separiert, das heisst in einer ruhigeren Umgebung betreut. Das halte ich für einen tollen Fortschritt.
Sind ähnliche Strategien auch im Pflegeheim möglich? Bally: Die Pflegefachkräfte sind heute sehr gut geschult, vor allem für die nicht medikamentösen Massnahmen. Sie erbringen hierfür einen beträchtlichen personellen und zeitlichen Einsatz. Im Pflegeheim werden wir oft vom Auftreten eines Delirs überrascht; sobald dieses aber als solches erkannt ist, sind die ergriffenen Massnahmen adäquat. Das Problem ist eher, ein Delir beizeiten zu erkennen. Die im Pflegeheim Betreuenden sind heute zwar gut geschult, aber trotzdem ist es nicht immer einfach zu entscheiden, ob das jetzt ein Delir ist oder noch nicht. Häufig höre ich von Pflegenden, dass ein Patient jetzt «noch dementer» oder «ganz dement» gewor-
den sei oder «ungewöhnlich unruhig». Viele Pflegende avisieren aber sehr rasch einen Arzt, wenn sie sich das Verhalten eines Bewohners schlagartig verändert hat, und vermuten dann schon das Vorliegen eines Delirs.
Gibt es einen Tipp für den Hausarzt, ein sich anbahnendes Delir frühzeitig zu erkennen? Denger: Es ist immer schwierig herauszufinden, wie es dem Patienten wirklich geht. Sehr gut funktioniert es mit der Spitex. Hausärzte können stark davon profitieren, weil die SpitexMitarbeiter doch sehr viel mehr Erfahrung damit haben als wir. Bei uns ist die Betreuung dieser Patienten ein kleinerer Teil der Arbeit, bei Spitex ein immer grösser werdender Teil. Bally: Wenn sich ein Delir im häuslichen Umfeld entwickelt, wird es von Angehörigen verständlicherweise oft erst mit Verzug erkannt. Da wir Hausärzte im Gegensatz zum Spitaloder Hospizsetting oftmals erst mit mehreren Stunden Verzug beim Patienten eintreffen, ist es in der Zwischenzeit häufig zu einer eigentlichen Eskalation mit einer Verzweiflung nicht nur des Patienten, sondern auch der Angehörigen gekommen. Das Betreuungspotenzial einer betagten Ehefrau oder eines betagten Ehemanns ist gering, die Mobilisierbarkeit der Spitex über 24 Stunden auch. So kommt es zu typischen Situationen, in denen man sich sagen muss: «Es geht nicht mehr!» Dann muss man den Patienten einweisen, obwohl er besser zu Hause betreut würde. Ohne Vorwarnung ist die Katastrophe da. So erlebe ich es im Alltag, und es gelingt dann leider nicht mehr, etwas abzufangen, bei bester Kenntnis und bestem Willen nicht. Kressig: Wir in der Memory Clinic in Basel sind auf die Frühdiagnose von Demenzerkrankungen spezialisiert. Bei der Diagnoseeröffnung sprechen wir immer auch das Delir im Sinne möglicher Komplikationen an. Es ist ganz wichtig, dass vor allem die Umgebung, die Partner, die Familie von dieser Gefahr wissen, damit sie nicht nur beobachten und schauen, sondern selber sogar daran denken und sehr schnell reagieren können. Es ist ja eine Frage des zeitlichen Verlaufs: Je später man kommt, desto stärker eskaliert die Situation und umso mehr ist man dann gezwungen, medikamentös zu sedieren. Hier sehe ich auch noch eine Möglichkeit für den Hausarzt, einen Patienten mit Demenz und seine Familie zu begleiten und auch die Familie auf das erhöhte Delirrisiko hinzuweisen – damit man schneller daran denkt und diagnostisch oder therapeutisch reagieren kann.
Welche «red flags» für ein Delir gibt es? Bally: Wenn sich plötzlich etwas verändert – das ist das Charakteristikum eines Delirs. Ich sage den Angehörigen: «Rufen Sie mich, wenn sich plötzlich etwas verändert.» Das machen sie dann meistens auch. Das Wahrnehmen einer Aufmerksamkeitsstörung oder eine Kognitionseinschränkung mit Orientierungsstörung wäre hingegen kaum zu vermitteln. Kressig: Wir haben vor Jahren eine Broschüre für die Angehörigen erstellt, die sehr gut erklärt, was ein Delir ist, wie es abläuft, wie die Prognose ist und so weiter. Diese Broschüre gebe ich noch häufig ab (Kasten 2). Hasemann: Die Pflegenden sollten nachfragen, ob beim letzten Spitalaufenthalt bereits ein Delir aufgetreten ist. Das hilft sehr, den Hochrisikopatienten für ein Delir auf dem Radar zu haben.
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Gudat: Wir machen das in der Palliativmedizin ähnlich wie die Geriater. Wir sprechen ebenfalls über das Delirrisiko. In meiner Sprechstunde für die ambulanten Palliativpatienten sage ich den Angehörigen: «Sie müssen anrufen, entweder den Hausarzt oder mich, wenn es gegen Abend schwierig wird oder wenn Unruhe oder Verwirrtheit auftritt oder wenn er nicht mehr richtig schlafen kann in der Nacht.» Das sind in der Palliativsituation die roten Flaggen bei ambulanten, zu Hause lebenden Patienten. Das Vorab-Besprechen des Delirrisikos verhindert auch Schuldgefühle bei den Angehörigen. Es ist so ungemein wichtig, dass die Angehörigen gewappnet sind. Die genannte Broschüre ist in der Tat ganz toll, die haben wir bei uns auch.
Welche Aspekte möchten Sie in der letzten Runde unseres Gesprächs besonders betonen beziehungsweise unseren Leserinnen und Lesern mit auf den Weg geben? Gudat: Ich möchte noch einmal auf die Studie zurückzukommen, die Anlass unseres Roundtable-Gesprächs war. Ich finde, dass es ist eine wichtige Studie ist, dass aber – wie bereits gesagt – kritische Fragen zum Setting und zum Recruitment gestellt werden müssen, sodass diese Resultate kein Anlass sind, das zurzeit übliche Vorgehen zu ändern. Es müsste aber unbedingt mehr auf diesem Gebiet geforscht werden, wobei qualitative Aspekte stärker berücksichtigt werden sollten. Schlegel: Ich denke, Antizipation ist in der Palliative Care das Wichtigste. Vorbereitung, Aufklärung und auch als Team gut geschult zu sein, um die ersten Merkmale eines Delirs zu erkennen, das sind die wichtigsten Punkte. Wir müssen sensibel dafür sein, denn dann wird der Unruhefaktor von
«Antizipation ist in der Palliative Care das Wichtigste.»
vornherein gebändigt – und das ist ein grosser Faktor. Hasemann: Ich glaube, dass wir bei den Angehörigen und den Patienten das Thema Delir mehr ansprechen sollten. Ich habe positive Erfahrungen dabei gemacht, die Patienten zu informieren, dass es unter bestimmten Umständen häufiger zu einem Delir kommen kann. Entwickelt sich trotz allen Präventionsmassnahmen ein Delir und trifft es auf den vorbereiteten Patienten, bleibt nach meinen Erfahrungen der Panikaspekt weg. Schlittert er aber unvorbereitet in so eine Situation, wirkt das Ganze sehr viel bedrohlicher. Dann erleben wir eher, dass der Patient agitiert wird. Darum glaube ich, dass das frühzeitige Thematisieren des Delirrisikos eine wichtige Präventionsmassnahme von Agitation ist und auch die Angst davor vermindert. Kressig: Ich möchte noch einmal betonen, dass Delir nicht gleich Delir ist. Es ist ganz wichtig zu wissen, wo der delirierende Patient im Sinne seiner Lebensprognose steht. Ist es am Ende oder in der Mitte des Lebens? Wie sind die prognostischen Faktoren zu werten? Ausserdem ist die Ausbildung etwas ganz Wesentliches, sowohl der direkt Betroffenen als auch der Pflegenden, um die Früherkennung zu fördern. Medikamente sind nicht die primäre Lösung, sondern die Hauptlösungsansätze sind die nicht medikamentösen und präventiven. Und wenn es um Medikamente geht, müssen wir uns eingestehen, dass wir das Krankheitsbild pathophysiologisch nach wie vor nicht verstanden haben. Weil wir
aber darüber so wenig wissen und unsere Massnahmen bis heute nur auf persönlicher Erfahrung basieren, die jeglicher Wissenschaftlichkeit entbehrt, unterstütze ich diese Forderung nach mehr Forschung auf diesem Gebiet. Denger: Mehr Forschung ist sicher sinnvoll, aber ich frage mich, ob sich jemand darum reissen wird, diese durchzuführen beziehungsweise zu finanzieren. Die Medikamente sind nicht neu, sodass die Hersteller wenig Interesse an Studien haben
«So wie wir heute Fachleute schulen für Wund- oder Palliativpflege, sollte es auch Delirexpertinnen und -experten geben, die danach schauen, dass diese Menschen nicht unnötig hospitalisiert werden.»
dürften. Generell befürchte ich, dass Forschung, bei der es um das Sterben geht, nicht wahnsinnig «sexy» ist. Das könnte mit ein Grund dafür sein, dass zu wenige Wissenschaftler sich damit befassen. Bally: Ich habe noch eine gesundheitspolitische Botschaft. Diese Patienten, sei es im häuslichen Umfeld, sei es im Pflegeheim, werden häufig unnötig hospitalisiert: Sie profitieren nicht nur nicht, sondern es geht ihnen häufig im stationären Setting noch schlechter als vorher, weil sie eben das Setting wechseln. Die politisch Verantwortlichen sollten sich dafür engagieren, denn diese überflüssigen Hospitalisierungen sind teuer und bringen für den Patienten und dessen Angehörige wenig Nutzen. Von daher ist es sicher ein gesundheitspolitisch wichtiges Postulat, dass man Institutionen und personelle Ressourcen schafft, um in diesen Situationen intervenieren können – aufsuchende Pflegende oder Psychiatriepflegende, die in die Wohnungen gehen und den Patienten und Angehörigen helfen, diese Situationen zu bewältigen und zu verstehen. Auch in Pflegeheimen braucht es entsprechend geschultes Personal. So wie wir heute Fachleute schulen für Wund- oder Palliativpflege, sollte es auch Delirexpertinnen und -experten geben, die danach schauen, dass diese Menschen nicht unnötig hospitalisiert werden. Ich bin davon überzeugt, das wäre mit einem Nutzen für die Gesundheit der Betroffenen und ihre Angehörigen verbunden – und würde letztlich auch Gesundheitskosten einsparen helfen.
Wir danken Ihnen allen für das interessante Gespräch. O
Das Roundtable-Gespräch fand am 3. April 2017 am FelixPlatter-Spital in Basel statt und wurde von Dr. Renate Bonifer moderiert.
Wir danken Herrn Dr. med. Markus Denger, wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI und Vorstandsmitglied Hospiz Aargau, Frau Dr. med. Heike Gudat, Chefärztin Hospiz im Park, Arlesheim, und Dr. med. Klaus Bally, Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel, für ihre Unterstützung bei der Konzeption und Planung unserer Serie «Palliativmedizin in der Praxis».
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