Transkript
EDITORIAL
Sicherheitshalber vorsichtig
Wenn es um eine therapeutische Kurskorrektur zwecks Einführung neuer Methoden oder Medikamente gehe, sei die Medizin «träge wie ein Tanker», klagte vor Jahren ein Forscherkollege. Es dauere oft viele Jahre, bis potenziell segensreiche therapeutische Neuerungen den Patienten in der Praxis tatsächlich routinemässig zugute kämen. Das dürfte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, auch heute noch so sein. Sicherheitshalber geben gerade Hausärzte ihren Patienten im Zweifelsfall lieber altbewährte Präparate, deren Wirkung und Nebenwirkung sie aus eigener Erfahrung kennen, als brandneu zugelassene Substanzen. Das mag man als Innovationsbremse beklagen, aber eine neue Statistik aus den USA legt eine gewisse Vorsicht beim Verordnen neuer Medikamente nahe. So wurden bei jedem dritten von der FDA zwischen 2001 und 2010 neu zugelassenen Medikament bis Anfang 2017 zuvor unbekannte Sicherheitsrisiken festgestellt. Bei den betroffenen Medikamenten dauerte es im Mittel gut vier Jahre, bis das erste sicherheitsrelevante Ereignis nach der Zulassung auftrat. Die gute Nachricht: Nur 3 der 222 neuen Medikamente mussten wegen Sicherheitsrisiken vom Markt genommen werden. Bei den anderen 68 waren neue Warnhinweise in der Fachinformation und/oder Arztbriefe ausreichend. Besonders häufig waren Biologika und psychiatrische Medikamente betroffen. Ausserdem scheint auch der Zeitdruck im Zulassungsverfahren eine Rolle zu spielen. So war das Sicherheitsrisiko bei Substanzen
höher, die in einem beschleunigten Verfahren zugelassen worden waren; das Gleiche galt für Substanzen, bei denen die FDA das Zulassungsverfahren erst kurz vor der Deadline abschliessen konnte (die FDA muss bestimmte Fristen für das Zulassungsverfahren einhalten). Die erst später erkannten Risiken habe man in den Zulassungsstudien nicht gesehen beziehungsweise gar nicht sehen können, denn «die Mehrheit der entscheidenden Studien für die FDA-Zulassung umfassten weniger als 1000 Patienten mit einem Follow-up von sechs Monaten oder weniger», schreiben die Autoren. Überdies unterscheiden sich die handverlesenen Patientenkollektive in Zulassungstudien mitunter erheblich von den Patienten im hausärztlichen Alltag. Soll man nun grössere und längere Zulassungsstudien fordern? Klingt gut, geht aber an der Realität vorbei. Für viele Erkrankungen wären grössere Studien mangels ausreichend grosser Patientenkollektive gar nicht möglich. Übrigens zeigte die FDA-Statistik auch, dass das Postmarketing-Sicherheitsrisiko bei «orphan drugs», deren Zulassung naturgemäss auf der Basis weniger Studienpatienten beruht, nicht besonders hoch war. Und ein längeres Follow-up? Wäre wahrscheinlich gut, würde aber zwangsläufig auch dazu führen, dass sinnvolle Neuerungen den Patienten länger vorenthalten bleiben. Man mag es drehen und wenden, wie man will: An einer konsequenten und umfassenden Überwachung der Arzneimittelsicherheit und Melderegistern für Nebenwirkungen führt kein Weg vorbei, auch nachdem eine Zulassungsbehörde ihren Segen gegeben hat.
Renate Bonifer
Downing NS et al.: Postmarket safety events among novel therapeutics approved by the US Food and Drug Administration between 2001 and 2010. JAMA 2017; 317(18): 1854–1863.
ARS MEDICI 10 I 2017
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