Transkript
FORTBILDUNG
Wenn der Alkoholkonsum Probleme schafft
Die deutschen Guidelines zu Screening, Diagnose und Therapie
Die erste deutschsprachige Guideline für Probleme mit dem Alkoholkonsum basiert auf der Arbeit von Delegierten verschiedener Fachgesellschaften aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Eine Zusammenfassung stellt wichtige Punkte daraus vor.
European Addiction Research
Im Gegensatz etwa zu Depressionen betrachtet das allgemeine Bewusstsein Alkoholkonsumstörungen viel weniger als ein Problem, das Aufmerksamkeit verdient und behandelt werden muss. Entsprechend den akzeptierten Methoden für die Leitlinienentwicklung hat die Arbeitsgruppe die relevanten Quellen zusammengetragen und standardisiert gewichtet. Daraus ergab sich eine beachtliche Zahl von Empfehlungen, die hier teilweise zusammengefasst sind, soweit sie für die allgemeinmedizinische Praxis wichtig sind.
Screening: bei allen Patienten und wiederholt Alkoholkonsumstörungen sind häufig, bleiben aber oft unerkannt. Zum Screening können spezielle Fragebögen und/ oder geeignete Marker eingesetzt werden (Kasten 1). Ein Screening sollte bei allen Patienten zwischen 14 und 70 Jahren schon beim Erstkontakt erfolgen und alle ein bis zwei Jahre wiederholt werden. Als gut validiert wird der Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT) empfohlen. Für
MERKSÄTZE
O Das Screening auf Formen des Alkoholkonsums, die der Gesundheit abträglich sein können, ist eine wichtige Aufgabe von Hausärzten.
O Selbst mit «bescheidenen» Kurzinterventionen lässt sich der Alkoholkonsum beeinflussen.
O Bei Alkoholkonsumproblemen ist immer an die Leber zu denken – und umgekehrt bei Diagnose einer Lebererkrankung nach dem Alkoholkonsum zu fragen.
O Für besondere Risikogruppen (z.B. Kinder und Jugendliche, Schwangere und Senioren) gilt, dass sich Screening und Therapie lohnen, aber der speziellen Situation angepasste Interventionen erfordern.
die tägliche Praxis wurde eine vereinfachte Form, der AUDIT-C (Kasten 2), entwickelt, der es insbesondere erlaubt, einen risikoreichen oder problematischen Alkoholkonsum zu erkennen.
Somatische Folgen suchen und erkennen
Die Guideline weist auch ausdrücklich darauf hin, wie wichtig es ist, nach alkoholbedingten körperlichen Störungen zu suchen. Bei vermuteter Alkoholkonsumstörung muss also nach einer Lebererkrankung gesucht werden. Umgekehrt muss bei allen Patienten mit neu diagnostizierter Lebererkrankung ein Screening auf Alkoholprobleme erfolgen (Kasten 3). Häufig geht ein problematischer Alkoholkonsum mit Tabakmissbrauch einher. In dieser Situation soll das Ziel des Rauchstopps mit derselben Intensität und denselben Interventionen verfolgt werden wie bei Rauchern ohne Alkoholprobleme.
Alkoholprobleme im Kindes- und Jugendalter
Einige Empfehlungen betreffen Kinder und Jugendliche. Nach einer Alkoholintoxikation soll Jugendlichen mit Motivational Interviewing (MI) Hilfe zur kurzfristigen Reduktion des Alkoholkonsums und des risikoreichen Alkoholtrinkens angeboten werden. Das MI ist jedoch im Hinblick auf die langfristige Verminderung des Alkoholkonsums nicht effektiv. Bei Alkoholkonsumstörungen von Jugendlichen kann eine Kurzintervention erfolgen. Ihnen soll auch eine kognitive Verhaltenstherapie angeboten werden. Andere Methoden mit guter Evidenz sind multisystemische Therapie, funktionelle Familientherapie und ressourcenorientierte Familientherapie. Auf gute Evidenz stützt sich die Empfehlung, bei Alkoholkonsumstörungen von Kindern und Jugendlichen immer die Familienmitglieder mit einzubeziehen. In dieser Altersgruppe sollte bei Alkoholentzugserscheinungen eine stationäre Behandlung erfolgen, wobei die somatischen Symptome berücksichtigt und eine psychosoziale Unterstützung geleistet werden sollten. Die Wahl der Behandlung bei Kindern und Jugendlichen muss die Notwendigkeit einer sicheren Umgebung, die Motivation des Jugendlichen und der Familie zur aktiven Teilnahme an der Therapie sowie allfällig vorhandene zusätzliche medizinische oder psychiatrische Symptome und Risiken berücksichtigen.
Schwangere und Alkoholprobleme
Zur besonderen Problematik von Schwangerschaft und Alkoholkonsumstörungen ist die Evidenz aus Studien sehr dünn.
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LINKS
FORTBILDUNG
Schwangeren mit Alkoholproblemen sollten eine Kurzintervention, psychotherapeutische Behandlung oder psychosoziale Interventionen angeboten werden. Gemäss wenigen Studien kann eine Behandlung in einer nur Frauen vorbehaltenen Institution Vorteile bieten.
O S3-Leitlinie «Screening, Diagnose und Behandlung alkoholbezogener Störungen»: http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/076-001.html
O AUDIT- Fragebogen: https://www.fosumos.ch
Kasten 1:
Empfehlungen zu Screening und Diagnostik von problematischem Alkoholkonsum
O Zum Screening auf risikoreichen Alkoholkonsum, schädlichen Alkoholkonsum und Alkoholabhängigkeit soll der Alcohol Use Disorders Identification Test (AUDIT) eingesetzt werden.
O Wenn der AUDIT zu komplex ist, kann die Kurzversion (AUDIT-C) angewendet werden.
O Als Indikatoren für den akuten (d.h. Stunden oder Tage zurückliegenden) Alkoholkonsum sollen die Nachweise von Ethanol in der Atemluft und im Blut sowie von Ethylglukuronid und Ethylsulfat im Urin eingesetzt werden.
O Als Indikatoren für chronischen (d.h. Wochen oder Monate dauernden) Alkoholkonsum können geeignete Marker (Ethylglukuronid im Haar und Phosphatidylethanol im Blut) eingesetzt werden.
O Wenn ein chronischer Alkoholkonsum attestiert werden soll, sollte zur Erhöhung der Sensitivität und Spezifität eine Kombination indirekter Marker (z.B. Gammaglutamyltransferase und mittleres Erythrozytenvolumen und Desialotransferrin) beigezogen werden.
O Als Screening für einen chronischen Alkoholkonsum dienen AUDIT und eine Kombination indirekter Marker.
Auch Alten zur Mässigung raten
Empirisch etablierte Behandlungen für jüngere Erwachsene wie psychotherapeutische, psychosoziale und pharmakotherapeutische Interventionen sollten auch alten Menschen mit Alkoholkonsumstörungen angeboten werden. In dieser Altersgruppe sollten immer somatische und psychiatrische Begleiterkrankungen bei der Planung und Durchführung von Interventionen und Behandlungen berücksichtigt werden. Bei alten Menschen mit Alkoholkonsumstörungen kann auch eine niederschwellige stationäre Therapie erfolgen. Die Guideline empfiehlt ausdrücklich, dass alte Menschen mit Alkoholproblemen in der Grundversorgung zu Änderungen beim Alkoholkonsum aufgefordert werden sollen und ihnen entsprechende therapeutische Unterstützung angeboten werden soll.
Was sollen Kurzinterventionen beinhalten?
Kurzinterventionen können in nicht spezialisierten Umgebungen eingesetzt werden, um Individuen mit problematischem Alkoholkonsum zu motivieren, ihren Konsum einzuschränken oder Abstinenz zu erreichen (Kasten 4). Kurzinterventionen sind als Vorgehen definiert, das maximal fünf Sitzungen umfasst, von denen keine mehr als 60 Minuten dauert. Ziel ist eine Verringerung von Alkoholkonsum und alkoholassoziierten Problemen. Dazu ist ein umfassender Ansatz nötig, der personalisiertes Feedback, individuelle Zielvorgaben und konkrete Ratschläge vereinigt. Ergänzend kann Informationsmaterial in schriftlicher oder computerassistierter Form abgegeben werden. Kurzinterventionen sind vor allem in der Grundversorgung untersucht worden. Die beste Evidenz stammt von primär ambulanter Betreuung von Patienten mit schädlichem Alkoholkonsum.
Betreuung von Alkoholabhängigen
nach der Entzugsbehandlung
Nach dem Entzug kann die weitere Behandlung ambulant, in Ganztagessettings oder in stationärer Rehabilitation erfolgen, allenfalls kombiniert mit einer pharmakologischen Rückfallprophylaxe. Dies sollte ohne zeitliche Lücke geschehen. Die postakute Behandlung ist oft Bestandteil der medi-
Kasten 2:
AUDIT-C
Wie oft trinken Sie Alkohol?
Wie viele Gläser Alkohol konsumieren Sie an den Tagen, an denen Sie trinken? Wie oft trinken Sie 6 oder mehr Gläser zu einem bestimmten Anlass?
01
nie 1 oder 2
höchstens 1-mal pro Monat
3 oder 4
nie weniger als 1-mal pro Monat
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2- bis 4-mal 2- bis 3-mal mind. 4-mal pro Monat pro Woche pro Woche
Punktzahl pro Zeile
5 oder 6
7 oder 8
10 oder mehr
1-mal pro Monat
1-mal pro Woche
jeden oder fast jeden Tag
Auswertung: Ab einem Punktwert von 5 (für Männer) und 4 (für Frauen) liegt ein riskanter Alkoholkonsum vor. Ab einem Punktwert von 4 (für Männer) und 3 (für Frauen) besteht ein erhöhtes Risiko für alkoholbezogene Störungen.
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Kasten 3:
Empfehlungen zu den somatischen Komplikationen bei alkoholbedingten Störungen und zu den Begleiterkrankungen
O Bei Patienten mit alkoholassoziierten körperlichen Erkrankungen sollte eine diagnostische Abklärung auf alkoholbedingte Lebererkrankungen erfolgen.
O Patienten, bei denen eine Lebererkrankung diagnostiziert wurde, sollten auf alkoholbedingte Erkrankungen abgeklärt werden.
O Bei alkoholbedingten Lebererkrankungen sollte Alkoholabstinenz das Ziel sein.
O Ausmass und allenfalls Progression der Fibrose sollen primär durch nicht invasive Methoden (Elastografie) erfasst werden, in gewissen Fällen durch Leberbiopsie.
O Bei alkoholinduzierter Pankreatitis sollten nicht nur die Entzündung der Bauchspeicheldrüse und ihre Komplikationen, sondern auch die zugrunde liegende Alkoholkonsumstörung behandelt werden.
O Bei chronischer Pankreatitis muss Alkoholkonsum strikt vermieden werden.
Kasten 4:
Empfehlungen zu Kurzinterventionen
O Kurzinterventionen sind zur Reduktion eines problematischen Alkoholkonsums effektiv und sollen eingesetzt werden.
O Die Wirksamkeit von Kurzinterventionen zur Reduktion des Alkoholkonsums war bei Individuen mit risikoreichem Alkoholkonsum am besten. Kurzinterventionen sollen dieser Gruppe angeboten werden.
O Kurzinterventionen können Alkoholexzesse («binge drinking») reduzieren. Sie sollten dieser Patientengruppe daher angeboten werden.
O Die Evidenz für die Wirksamkeit von Kurzinterventionen zur Reduktion des Alkoholkonsums bei alkoholabhängigen Individuen ist widersprüchlich und durch die Literatur nicht vollständig gestützt. Kurzinterventionen können auch bei Alkoholabhängigen angeboten werden.
O Der Wirksamkeitsnachweis für Kurzinterventionen unterscheidet sich nicht für Frauen und Männer. Kurzinterventionen sollen daher unabhängig vom Geschlecht angeboten werden.
O Kurzinterventionen sollten älteren Personen (> 65 Jahre) mit alkoholbedingten Problemen angeboten werden.
O Nur wenige Studien haben sich mit Individuen mit Alkoholkonsumstörungen und Begleiterkrankungen befasst. Diese fanden Kurzinterventionen erfolgreich. Daher sollten Kurzinterventionen bei Patienten mit Begleiterkrankungen angeboten werden.
O In der Primärversorgung sollen Kurzinterventionen zur Reduktion des problematischen Alkoholkonsums angeboten werden.
O Für Kurzinterventionen sind keine unerwünschten Effekte bekannt.
zinischen Rehabilitation zur Alkoholabstinenz. Ziel ist es, die Leistungsfähigkeit des alkoholabhängigen Menschen zu erhalten, zu verbessern oder wiederherzustellen sowie die Teilhabe in der Arbeitswelt und Gesellschaft zu unterstützen. Psychosoziale Interventionen sind wichtig und in fast allen Stadien des Abhängigkeitsprozesses effektiv. Die überzeugendste Evidenz besteht für die Gesprächstechniken aus der Motivational Enhancement Therapy (MET). Bei Alkoholabhängigkeit sollte das Gesamtziel die Alkoholabstinenz sein, hält die Leitlinie fest. Wenn die Abstinenz zum jetzigen Zeitpunkt nicht erreichbar ist oder ein riskantes Konsumverhalten vorliegt, sollte eine Schadensbegrenzung durch Reduktion des Alkoholkonsums hinsichtlich Quantität, Zeit und Frequenz das Ziel sein. Nach dem akuten Entzug sollte im individuellen Behandlungsplan der weiteren stationären Entzugsbehandlung eine Pharmakotherapie mit Acamprosat (Campral®) oder Naltrexon (Naltrexin®) angeboten werden. Wichtig ist es, den Patienten über Nebenwirkungen und Risiken aufzuklären. Wenn andere Behandlungsoptionen nicht erfolgreich waren, kann auch Disulfiram (Antabus®) in den Behandlungsplan einbezogen werden. Ist das primäre Ziel eine Reduktion des Alkoholkonsums, kann Nalmefen (Selincro®) eingesetzt werden. O
Halid Bas
Quelle: Mann K et al.: German guidelines on screening, diagnosis and treatment of alcohol use disorders. Eur Addict Res 2017; 23: 45–60.
Interessenlage: K. Mann erhielt Beraterhonorare der Firmen AbbVie, D&A Pharma, Lundbeck und Novartis. Die übrigen Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte.
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